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E-Book

Arabboy

Eine Jugend in Deutschland oder Das kurze Leben des Rashid A.

AutorGüner Yasemin Balci
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783104000039
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Was Christiane F. in der 80er Jahren war, ist die Geschichte von Rashid A. heute. Rashid, Sohn einer libanesisch-palästinensischen Familie, ist weder Deutscher noch Libanese oder Palästinenser, er ist ein »Arabboy«, so nennt er sich in den einschlägigen Chaträumen, die er und seine Kumpel mit selbstgemachten Gewalt-Clips versorgen. Sie gehorchen dem Gesetz der Straße, auf der sich jeder sein Recht nehmen muss. Wer das nicht kann, wird zum »Opfer« - er ist dem Lebenskampf nicht gewachsen. Mit Hilfe von Aabid, der es vom Flüchtlingsjungen zum »Mega-Checker« im Rotlichtmilieu gebracht hat, macht Rashid kriminelle Karriere, bis er durch seine Drogensucht die Kontrolle über sein Leben verliert. Ihn rettet seine Verhaftung. Im Gefängnis wartet er auf seine Abschiebung - und Deutschland, das so verhasste Land, wird für ihn zum Inbegriff aller Sehnsüchte.

Güner Yasemin Balci wurde 1975 in Berlin-Neukölln geboren. Bis 2010 war sie Fernsehredakteurin beim ZDF, heute arbeitet sie als freie Autorin und Fernsehjournalistin. 2012 erhielt sie für ihre Reportage ?Tod einer Richterin? den Civis-Fernsehpreis. 2016 erschien ihr Dokumentarfilm ?Der Jungfrauenwahn? (Arte/ZDF). Balci ist Kolumnistin für die »Stuttgarter Nachrichten«, ihre Texte erschienen u.a. in der »Zeit« und im »Spiegel«; im Deutschlandradio und Deutschlandfunk sind ihre politischen Features gesendet worden. Ihre Bücher bauen auf den Erfahrungen ihrer langjährigen Arbeit mit Jugendlichen aus türkischen und arabischen Familien in Neuköllns sozialen Brennpunkten auf: ?Arabboy? (2008), ?ArabQueen? (2010) und ?Aliyhas Flucht (2012).

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Leseprobe

Arabboys. Ein Vorwort


Manchmal treffe ich sie noch zufällig auf der Straße im Berliner Rollbergviertel – Sami, Hussein, Yussuf und Farid, die inzwischen alle älter geworden sind. Ich treffe sie immer dann, wenn sie gerade einmal wieder aus dem Gefängnis entlassen wurden oder wegen guter Führung Freigänger geworden sind, die für den Rest ihrer Haftstrafe nur abends eingesperrt werden. Nur Rashid fehlt, die Hauptperson der Geschichte, die ich hier erzähle, und der Anführer der Clique von »Arabboys«. Ich kenne sie alle, die Jungen und Mädchen, die in dieser Geschichte unter verändertem Namen eine Rolle spielen. Ich bin mit ihnen aufgewachsen, mit manchen von ihnen war ich vor vielen Jahren einmal befreundet.

Als ich mit meinen Eltern und meinen drei älteren Geschwistern 1978 aus einer kleinen Gartenlaube ins Berliner Rollbergviertel zog, konnte noch keiner ahnen, dass sich diese Gegend in den darauffolgenden Jahren zu einem Problemkiez mit hoher Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Gewalt entwickeln sollte. Ich hatte damals viele deutsche, aber auch türkische, jugoslawische, griechische Freunde – mein Vater ermunterte mich und meine Geschwister zu vielfältigen Kontakten. Sie waren ihm wichtig, er sah in ihnen den notwendigen sozialen Kitt, um hier in Deutschland wirklich anzukommen. So dachten nicht alle in der türkischen Nachbarschaft, viele mieden besonders die Deutschen, sie hatten Angst, ihre Herkunftskultur zu verlieren, sie wollten lieber unter sich bleiben, ihre Muttersprache pflegen.

Als Kind habe ich mich oft über meinen Vater geärgert, der immer so nett zu den Deutschen war, so freundlich über sie sprach und mich in den katholischen Kindergarten schickte, der für mich ein angstbesetzter Ort war. Hier – wie auch später in der Schule – galt ich als »Türkin«, dabei sprach ich damals kaum Türkisch, meine Muttersprache war Deutsch. In der Grundschule war das mein Glück, sonst wäre ich noch in der »Türkenklasse« gelandet und die galt unter uns Schülern als Looser-Verein. Für diese Klasse wurde eigens ein türkischstämmiger Lehrer abgestellt, der selbst kaum des Deutschen mächtig, dafür aber sehr autoritär war und seinen eingeschüchterten Schülern laut brüllend Befehle erteilte. Ich weiß nicht, was sich die zuständige Schulbehörde dabei gedacht hat – vermutlich entsprach das der damals immer noch vorherrschenden Erwartung, »die Türken« würden eines Tages wieder zurück in die Türkei gehen. Sie sind aber geblieben. Wenn ich heute Schüler aus der »Türkenklasse« treffe, dann sind diese meist Gemüsehändler geworden oder betreiben eine Dönerbude, haben früh geheiratet und sprechen zu Hause Türkisch mit ihren Kindern. Sie haben es nicht anders gelernt und so geben sie an ihre Kinder weiter, was schon ihr eigenes Ankommen in Deutschland verhindert hat.

Die ersten Jahre in der Grundschule dachte ich auch, wir seien Türken. Meine Eltern redeten miteinander oft in einer Sprache, die ich nicht verstand. Erst als ich anfing, Fragen zu stellen, erfuhr ich, dass es nicht Türkisch war, was sie sprachen, sondern dass meine Eltern weder türkisch noch kurdisch, sondern zaza, eine bis in die 1980er Jahre in der Türkei verbotene Sprache, pflegten, zu der eine ganz eigene Kultur gehört. Um uns zu schützen, sprachen sie mit uns Kindern nicht darüber.

Meine Eltern waren in den 1960er Jahren als Teil der ersten Gastarbeitergeneration aus einem kleinen ostanatolischen Dorf nach Deutschland gekommen. Mein Vater war Ende zwanzig, als er, den Verlockungen der modernen Welt folgend, die neue Heimat betrat. Meine Mutter, die ein Jahr später mit meiner älteren Schwester nachkam, war gerade zwanzig geworden. Ihre Gastarbeiter-Karriere, die in Bayern begonnen hatte, wo sie wie so viele andere in verschiedenen Fabriken arbeiteten, brachte sie eines Tages auch nach Berlin-Neukölln, wo mein Vater als Fahrer eines Krankenwagens und meine Mutter als Raumpflegerin arbeitete. Als sie ihre Arbeit nach 25 Jahren aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, schenkte man ihr einen Blumentopf.

Auch meine Eltern dachten lange Jahre daran, eines Tages wieder zurückzukehren in die Türkei. Sie wollten hier, in Deutschland, Geld verdienen, um sich dort, in der Türkei, eine eigene Existenz aufzubauen. Als ich 1975 in Berlin als Letztes von vier Kindern auf die Welt kam, war von Rückkehr nicht mehr die Rede, auch wenn die Sehnsucht nach der Heimat, in der sie aufgewachsen waren, ein Leben lang blieb. Als mein Vater vor sieben Jahren plötzlich starb, entschieden wir, ihn nicht in die Heimat zu überführen, sondern hier beizusetzen. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens in Deutschland verbracht, seine Kinder lebten hier und seine Enkelkinder würden sich kaum auf den Weg zu einem Friedhof in den Bergen Ostanatoliens machen.

Die Entscheidung, hierzubleiben, hing auch mit der mangelnden Qualität des staatlichen türkischen Schulsystems zusammen, das meine Eltern ihren Kindern nicht zumuten wollten. Mein Vater hatte nur vier Jahre lang die Grundschule besuchen können, meine Mutter hatte nie die Möglichkeit erhalten, lesen und schreiben zu lernen. Der Schulerfolg ihrer Kinder war beiden wichtig. Mein Vater erschien zu jedem Elternabend in seinem besten Anzug und meine Mutter ließ uns nie ohne Frühstück und ein großes Paket Butterbrote in die Schule. Ihre ganze Hoffnung galt uns Kindern, wir sollten studieren, um es einmal besser zu haben als sie. Schon als Schulmädchen fiel mir auf, dass es in meinem Freundeskreis Kinder gab, deren Eltern sich weitaus weniger um sie kümmerten. Kinder, die oft bis spät in den Abend vor dem Briese-Eck, der Stammkneipe ihrer Eltern, warteten – so wie Bea in dieser Geschichte – und morgens zu spät und unausgeschlafen in die Schule kamen, meist ohne Frühstück und ohne Pausenbrot.

Anfang der 1980er Jahre veränderte sich die soziale Mischung in unserem Viertel. Viele arabische Familien zogen zu. Ein großer Teil von ihnen kam aus dem Libanon, sie waren vor dem Krieg geflohen, der das Land zerstörte. Viele von ihnen lebten in einem heruntergekommenen Altbau in der Kopfstraße, das im Sprachgebrauch der anderen bald das »Araberhaus« hieß. Sie waren arm, das konnte man ihnen schon an der Kleidung ansehen, und sie waren zahlreich. Jede Familie hatte mindestens vier Kinder, oft mehr, und die waren den ganzen Tag auf der Straße. Zumindest die Jungen.

Ihre Schwestern bekam ich kaum zu Gesicht, erst später erfuhr ich, dass die arabischen Mädchen mit Beginn der Pubertät nicht mehr allein auf die Straße, erst recht keine Freundschaften pflegen durften – daran hat sich bis heute nichts geändert. In vielen türkischen Familien war das nicht anders. Unter meinen Freundinnen gab es nur wenige türkische Mädchen, die mussten zu Hause bleiben, und viele von ihnen flüchteten in die Ehe und in die Mutterschaft. Nur wenigen gelang es, sich über den Bildungsweg von ihren Familien und den patriarchalischen Geboten zu emanzipieren – die aber kamen fast nie aus Arbeiter- oder Flüchtlingsfamilien. Ihre Brüder hingegen flohen vor den engen Verhältnissen zu Hause, in denen die Frauen das Regiment hatten, auf die Straße.

Die arabischen Familien waren lange Jahre nur geduldet, als Flüchtlinge erhielten sie keine Arbeitserlaubnis. Ihre Söhne, die in einer Umgebung aufwuchsen, die im Verhältnis dazu geradezu wohlhabend war, schufen Abhilfe. Sie wollten haben, was andere Jugendliche auch hatten. Die Mittel dafür wussten sie sich zu beschaffen. Anfangs war es der Griff in die Kasse eines Zeitschriftenkiosks, der Handtaschenraub oder der Überfall auf kleinere Kinder, denen sie das Taschengeld »abzogen«. Aber im Laufe der Jahre entwickelte sich aus den gelegentlichen Diebstählen immer stärker eine organisierte Kriminalität. Den Status des Einzelnen konnte man an seinem Auto ablesen, wer das teuerste Fahrzeug fuhr, stand in der Rangordnung am höchsten. Ihre Eltern schauten weg – sie waren mit anderen Problemen beschäftigt, mit der dauernden Erneuerung der Aufenthaltsgenehmigung, mit den Bittgängen zum Sozialamt, um endlich eine menschenwürdige Wohnung zu erhalten, mit den kleinen Schwarzarbeiten, um die Familienkasse aufzubessern. Ihre Söhne entglitten ihnen mehr und mehr – solange sie sich nicht mit einer »Deutschen« einließen, keine Drogen nahmen, abends zu Hause waren, dem für die Moschee zuständigen Hoĉa ehrerbietig begegneten und sich auf den Familienfesten anständig zu benehmen wussten, wurden keine Fragen gestellt, was sie den Tag über machten.

Meine älteren Brüder passten auf mich auf, aber nie hat mich einer von ihnen – so wie ich es von anderen Mädchen kannte – beleidigt oder geschlagen, sie haben mit mir geredet, wenn ich mal wieder zu spät nach Hause kam oder mit den falschen Leuten herumhing. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar, es hätte auch anders kommen können. Denn ich wusste oft mehr von den kriminellen Machenschaften im Viertel, als ich wissen sollte. Ich bekam viel aus erster Hand mit – wer weswegen verhaftet wurde, wo sich gerade eine Fehde zwischen den arabischen Clans anbahnte. Ich erfuhr im Dönerimbiss, warum jemand halb totgeschlagen worden war und weshalb der Palästinenser von nebenan seinen Schwager mit einem Küchenmesser abgemetzelt hatte. Im Kiez brodelte die Gerüchteküche, aber nach außen hielt man dicht, aus Furcht vor Rache oder auch aus Sympathie mit den Tätern, die ohnehin oft aus dem eigenen Verwandtenkreis kamen.

Mein großes Vorbild war meine Schwester. So wie sie, die als Erste unter den Balcis und Mirzanlis das Abitur in der Tasche hatte, wollte ich auch werden. Nach dem Abitur fing ich an, Erziehungswissenschaft zu studieren und mit Kindern und...

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