Der »Realitätstest« der Stressmodelle
Die oben dargestellten Modelle wären wertlos, wenn sie ihren Realitätstest nicht bestanden hätten. Die dargestellten Modelle erfassen, wie erwähnt, Stressmerkmale der Arbeitssituation. Brauchbar sind diese Modelle nur dann, wenn sich zeigen lässt, dass der mit ihnen erfasste Arbeitsstress mit objektivierbaren Gesundheitsstörungen in einer Wechselbeziehung stehen. Wie also stellen sich die Beziehungen zwischen der Situation am Arbeitsplatz und der Gesundheit der Erwerbstätigen dar? Was sagen Untersuchungen, die sich mit der Frage befasst haben, darüber aus, in welchem Umfang an heutigen Arbeitsplätzen – gemäß den oben dargestellten Modellen – Belastungen vorliegen und wie diese mit dem Burn-out-Syndrom, mit der Depression und mit Herzerkrankungen im Zusammenhang stehen?
Ergebnisse von Untersuchungen anhand des »Demands-Control«-Stressmodells nach Karasek und Theorell
Arbeitsstress (»Job Strain«) und die daraus resultierenden Gesundheitsrisiken ergeben sich nach dem von Karasek entworfenen Modell aus einer Dysbalance von hohen Anforderungen (übergroße Arbeitsmenge, widersprüchliche Vorgaben und hoher Zeitdruck) und zugleich geringen Entscheidungsspielräumen bei der Ausführung der zu leistenden Arbeit. Unter Zugrundelegung dieser Definition von Arbeitsstress fand eine internationale Forschergruppe im Rahmen einer Untersuchung, die in 13 europäischen Ländern nahezu 200 000 Teilnehmer einschloss, dass 15 Prozent aller Beschäftigten unter andauerndem »Arbeitsstress« stehen240. Bei Erwerbstätigen, die einen geringeren Sozialstatus241 oder ein niedrigeres Bildungsniveau242 haben, finden sich deutlich geringere Entscheidungsspielräume – und damit mehr Stress – als bei den sozial Bessergestellten und besser Ausgebildeten. Unter stärkerem »Arbeitsstress« als andere stehen auch jene Arbeitnehmer/innen, die nur befristet beschäftigt sind243. Dass Karaseks Stressmodell ein hoch relevantes Konstrukt darstellt, zeigte sich anhand von Studien, nach denen Menschen mit erhöhtem »Arbeitsstress« einem deutlich erhöhten Risiko unterliegen, an einer Depression zu erkranken244, ein 1,2- bis 1,9-faches Risiko tragen, an einer koronaren Herzkrankheit zu erkranken und ein über zweifach erhöhtes Risiko tragen, daran auch zu sterben245. Insofern hat Karaseks Modell seinen »Realitätstest« bestanden.
Ergebnisse von Untersuchungen anhand des »Effort-Reward«-Modells nach Siegrist
Mindestens ebenso gut wie Robert Karaseks »Demands-Control«-Modell hat sich das von Johannes Siegrist entwickelte Arbeitsstress-Modell bewährt. Arbeitsstress resultiert hier aus einer Dysbalance zwischen »Verausgabung« (»Effort«) durch hohe Verantwortung, Arbeitsintensität, Zeitdruck und widersprüchliche Anforderungen und »Anerkennung« durch finanzielle und nicht materielle Anerkennung, Arbeitsplatzsicherheit, berufliche Entwicklungschancen (»Reward«). Liegt eine ausgeprägte »Effort-Reward«-Imbalance vor, spricht Siegrist von einer »Gratifikationskrise«. Arbeitsstress aufgrund einer »Gratifikationskrise« liegt, wie große Untersuchungen zeigen, in Deutschland bei 9,3 % aller Beschäftigten vor246.
Ähnlich wie im Falle des Karasek’schen Modells haben, ganz allgemein betrachtet, auch hier Personen mit niederem Sozialstatus247, mit geringerem Bildungsniveau und Personen, die in nur befristeter Beschäftigung stehen248, die schlechteren Karten. Arbeiter sind in elf Prozent der Fälle, Angestellte und Beamte zu zehn Prozent, Führungspersonal zu acht Prozent und Selbstständige zu vier Prozent von einer »Gratifikationskrise« betroffen249. Die Branchen mit der höchsten Arbeitsintensität (ein wesentlicher Faktor für »Verausgabung«) sind die Landwirtschaft, das Gastgewerbe, das Baugewerbe, der Metall- und Maschinenbau sowie der Fahrzeugbau. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass auch qualifizierte Berufe einem beträchtlichen, durch eine »Gratifikationskrise« verursachten Arbeitsstress unterliegen können: Schulische Lehrkräfte und Sozialarbeiter sind zu 26 Prozent, Beschäftigte in Landwirtschaft oder Bergbau zu 20 Prozent, im Gesundheitswesen Tätige zu 17 Prozent betroffen250.
Die Wirkungen einer »Effort-Reward«-Imbalance auf die Gesundheit sind, wie Untersuchungen zeigten, dramatisch. Personen mit Arbeitsstress aufgrund einer »Gratifikationskrise« zeigen nicht nur messbare Veränderungen ihres Stresshormon- und Immunsystems251 sowie des Blutdrucks252. Auch das Risiko, depressive Symptome zu entwickeln, ist circa fünffach, das Risiko gar an einer schweren Depression zu erkranken, um das mindestens zweifache erhöht253. Auch das Herzrisiko ist bei andauerndem Arbeitsstress auf dem Boden einer »Gratifikationskrise« erhöht. Wessen »Effort-Reward«-Balance aus dem Gleichgewicht geraten ist, hat ein bis zu zweifach erhöhtes Risiko, sich eine koronare Herzkrankheit zuzuziehen254. Noch höher ist das Risiko, bei bereits vorliegender koronarer Herzkrankheit an einem Herzinfarkt zu sterben: Dieses Risiko wird durch eine anhaltende »Gratifikationskrise« um das 2,4-Fache erhöht255.
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen kann es nicht verwundern, dass 57 Prozent der Erwerbstätigen mit einem Ungleichgewicht von Verausgabung und Anerkennung gemäß dem Siegrist-Modell den Wunsch nach einer vorzeitigen Berentung hegen256. Dies bedeutet, dass die fast zehn Prozent der Erwerbstätigen unseres Landes, die unter Dauerstress – gemäß den von Johannes Siegrist entwickelten Kriterien – arbeiten, wegen des hier vorhandenen Trends in Richtung Frühberentung auch erhebliche Kosten produzieren. Am Rande angemerkt sei, dass der Anteil derer, die aufgrund einer »Gratifikationskrise« depressiv erkranken, in Sozialstaaten deutlich geringer ist als in politisch eher neoliberal aufgestellten Ländern257 (siehe dazu auch Kapitel 7). Abschließend kann jedenfalls festgehalten werden, dass auch das »Effort-Reward«-Modell seinen »Realitätstest« bestanden hat.
Ergebnisse von Untersuchungen anhand des »Job Demands-Resources«-Modells nach Schaufeli und Demerouti
Wie bereits erwähnt, entwickelten Evangelia Demerouti und Wilmar Schaufeli das Burn-out-Modell Christina Maslachs weiter, hin zu einem Zwei-Faktoren-Konstrukt mit den beiden Komponenten emotionale Erschöpfung und innere Distanzierung bzw. Disengagement258. Demerouti und Schaufeli konnten zeigen, dass sich Erschöpfung dann einstellt, wenn am Arbeitsplatz zu hohe Anforderungen gestellt sind. Zur inneren Distanzierung kommt es dagegen vor allem dann, wenn Erwerbstätige bei den Ressourcen ausgehungert werden. Ein Burn-out-Symdrom ist demnach das Ergebnis von einem Zuviel an Anforderung (mit Erschöpfung als Folge) und einem Zuwenig an Ressourcen (mit Distanzierung als Folge). Wie hoch ist der Anteil derer, die von einem Burn-out-Syndrom betroffen sind, und welchen weiteren gesundheitlichen Risiken unterliegen Burn-out-Betroffene?259
Eine in den USA durchgeführte Analyse, bei der mehr als 25 000 Beschäftigte erfasst wurden, ergab, dass über 20 Prozent ein voll ausgeprägtes Burn-out-Syndrom aufwiesen, wobei jedoch die Raten, je nach Untergruppe, starke Schwankungen aufwiesen260. Bei knapp 7 000 untersuchten Beschäftigten in verschiedenen asiatischen und osteuropäischen Ländern lag der Anteil von Betroffenen bei 28 Prozent261. Auch eine in Finnland an über 3 000 Beschäftigten durchgeführte Untersuchung fand eine Burn-out-Rate von 28 Prozent, allerdings waren hier auch lediglich mittelstark Betroffene erfasst worden262. Für Beschäftigte in Deutschland wurden, je nach Branche und Berufen, Burn-out-Raten zwischen fünf Prozent und 15 Prozent ermittelt263. Bei niedergelassenen deutschen Ärzten scheint nahezu jeder Zehnte von einem Burn-out-Syndrom betroffen zu sein264. Mit 25 Prozent deutlich höher sind die Raten bei deutschen Pflegekräften265. Bei 2 400 untersuchten französischen Krankenschwestern auf Intensivstationen hatten über 30 Prozent ein schweres Burn-out-Syndrom266. Die meisten Arbeitsunfähigkeitstage wegen Burn-out weisen, einer AOK-Studie zufolge, Sozialpädagogen und Heimleiter auf, gefolgt von Telefonisten in Call-Centern, Sozialarbeitern und Pflegekräften267. Auch schulische Lehrkräfte fanden sich unter den zehn Spitzenplätzen in dieser Rangskala.
Was Zahlen über die Verbreitung des Burn-out-Syndroms bei Erwerbstätigen wirklich bedeuten, kann sich erst aus einer Analyse der weiteren gesundheitlichen Folgen ergeben. Erwerbstätige, welche die Merkmale eines Burn-out-Syndroms aufweisen, tragen ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko, an einer Depression zu erkranken268. Mögliche Folgen eines Burnout-Syndroms betreffen jedoch nicht nur die Depression. Nachdem eine ältere, bereits Anfang der 90er Jahre durchgeführte Studie eine zweifache Erhöhung des Herzinfarktrisikos berichtet hatte269, hat eine jüngere Studie diesen Befund bestätigt....