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Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung

The Working Class in Weimar Germany. A Psychological and Sociological Study

AutorErich Fromm
VerlagEdition Erich Fromm
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl212 Seiten
ISBN9783959121354
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Erich Fromms sozialpsychologische Untersuchung über 'Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches' ist etwas ganz Besonderes: Entstanden 1930 als Untersuchung des Instituts für Sozialforschung, stellt sie die erste empirische Untersuchung über den Unterschied zwischen politischem Bekenntnis und charakterlicher Einstellung dar. Die psychoanalytische Untersuchung richtete sich an sich links bekennende Probanden. Fromm wollte herausfinden, ob deren revolutionäre Meinungsbekundungen auch mit einer entsprechenden unbewussten Einstellung der Persönlichkeit übereinstimmt. Das Ergebnis war ernüchternd: Nur bei 15 Prozent der Untersuchten stimmte die bewusste Meinung mit den unbewussten Einstellungen überein. Bei einem erheblichen Prozentsatz fand Fromm sogar eine autoritäre Grundstrebung. Bereits Mitte der Dreißiger Jahre verstand Fromm den Erfolg der Nationalsozialisten aus der zu geringen Widerstandskraft der deutschen Arbeiterschaft heraus, wie er sie in dieser Untersuchung ermittelt hatte. Noch in einer ganz anderen Hinsicht ist die Arbeiter- und Angestelltenerhebung von unschätzbarem Wert. Die genaue Erfassung der Antworten von Hunderten von Probanden gibt einen Einblick in die deutsche Gesellschaft um 1930, der einmalig ist: Welche Anschauungen die Menschen zu Fragen der Politik, der Kunst, des Geschmacks, der Moral, der Mode, der Genderfrage, der Erziehung usw. hatten, wie sie sich ihre Wohnungen einrichteten und welche Lektüre sie bevorzugten. Aus dem Inhalt - Ziele und Methoden der Untersuchung - Die soziale und politische Situation der Befragten - Auswertungen zum Beispiel zu Fragen wie: - Wer war nach Ihrer Meinung an der Inflation schuld? - Welche Menschen halten Sie für die größten Persönlichkeiten in der Geschichte? - Gefällt Ihnen die heutige Frauenmode? - Halten Sie es für richtig, dass die Frauen einen Beruf ausüben? - Glauben Sie, dass man bei der Erziehung der Kinder ganz ohne Prügel auskommt? - Wie stehen Sie zur Bestrafung der Abtreibung? - Wie würden Sie Ihr Geld anlegen, wenn Sie Vermögen hätten? - Persönlichkeitstypen und politische Haltungen - Autoritäre, radikale und rebellische Haltungen

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten 'Frankfurter Schule' um Max Horkheimer. 1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch 'Die Furcht vor der Freiheit' weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch 'Die Kunst des Liebens' schrieb, sondern auch das Buch 'Wege aus einer kranken Gesellschaft'. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch 'Haben oder Sein'. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.

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Leseprobe

3. Politische, soziale und kulturelle Haltungen


{Nachdem wir die wichtigsten gesellschaftsstrukturellen Merkmale unserer Stichprobe herausgearbeitet hatten, gingen wir nun zur Analyse der Meinungen und Einstellungen über. Zu diesem Zweck werteten wir zahlreiche Einzelfragen aus, die sich unter systematischen Gesichtspunkten fünf verschiedenen Problemfeldern zuordnen lassen, nämlich dem Bereich der politischen Meinung (3,a – S. 44-69), der allgemeinen Weltanschauung (3,b – S. 69-87), der kulturellen und ästhetischen Einstellung (3,c – S. 87-124), der Einstellung gegenüber Frau und Kindern (3,d – S. 124-140) sowie der Einstellung zum Mitmenschen und zu sich selber (3,e – S. 140-164). Das Ziel unserer Arbeit bestand dabei vor allem darin, den Einfluss der politischen Orientierung und des ökonomischen Status auf die jeweiligen Einstellungen und Meinungen zu klären, aber in einigen Fällen wurden auch zusätzliche Faktoren, wie Alter und Geschlecht, analysiert.}

a) Fragen zu politischen Themen

{Um die politischen bzw. gesellschaftspolitischen Einstellungen der Probanden zu dokumentieren, haben wir folgende sieben Fragen ausgewählt:

Frage 432:Wer hat nach Ihrer Meinung heute die wirkliche Macht im Staate?
Fragen 427|28:Welche Regierungsform halten Sie für die beste? Was veranlasst Sie zu dieser Meinung?
Frage 430:Was halten Sie von der deutschen Justiz?
Frage 429:Wie kann nach Ihrer Meinung ein neuer Weltkrieg verhindert werden?
Frage 431:Wer war nach Ihrer Meinung an der Inflation schuld?
Fragen 134|35:Ist in Ihrem Betrieb eine Rationalisierung durchgeführt worden? Wie denken Sie darüber?
Frage 444:Wie urteilen Sie über Ihre Partei?

Systematisiert man die genannten Fragen, so beziehen sich die ersten drei auf die Einschätzung der allgemeinen politischen Ordnungsstrukturen, während die beiden nachfolgenden die wohl einschneidendsten politischen Ereignisse seit Beginn des Jahrhunderts, nämlich Weltkrieg und Inflation, thematisieren. Die Frage nach der Rationalisierung betrifft eine häufig kaum als politisch verstandene, aber dennoch gesellschaftspolitisch höchst wichtige Entwicklungstendenz, und mit der letzten Frage wollten wir schließlich das Verhältnis der Probanden zu den offiziellen politischen Positionen in der Weimarer Republik erfassen.}

Frage 432:
Wer hat nach Ihrer Meinung heute die wirkliche Macht im Staate?

Gemäß Art. 1 der Weimarer Verfassung ging die Macht im Staat grundsätzlich vom Volk aus: Die gesetzgebende Gewalt lag dementsprechend bei dem allgemein und frei gewählten Reichstag, und auch der Reichspräsident wurde in direkter Wahl bestimmt. Dieser wiederum ernannte das Kabinett, das seinerseits vom Vertrauen des Reichstags abhing und bei einem Misstrauensantrag zurücktreten musste. Zum Zeitpunkt unserer Untersuchung bestanden jedoch in Deutschland erhebliche Zweifel, ob die eigentliche Entscheidungsgewalt tatsächlich beim Volk lag. Es braucht kaum betont zu werden, wie wichtig diese Frage für die Stabilität der deutschen Demokratie war. Eine Regierung, die für ohnmächtig gehalten wird, kann sich weder viel noch lange Respekt verschaffen, und diejenigen, die sich nach einer starken Autorität sehnen, werden sie ablehnen und verunglimpfen.

Nach der marxistischen Theorie und nach der Propaganda der Linksparteien, auf die sich viele Befragte in ihren Antworten bezogen, liegt auch in einer demokratischen Verfassung das eigentliche Machtzentrum im Bereich der Ökonomie. Es war deshalb nicht verwunderlich, dass gegenüber den Mechanismen der parlamentarischen Demokratie von allen Seiten immer wieder starkes Misstrauen geäußert wurde. Obwohl die Arbeiterpartei die stärkste Fraktion im Reichstag bildete, herrschte innerhalb der Arbeiterklasse selbst große Enttäuschung über ihr tatsächliches Machtpotenzial. Antworten, die ganz allgemein das ökonomische System dafür verantwortlich machten, wurden in die Kategorie Kapital, Kapitalisten, Industrie und Banken eingestuft. Hierunter fällt auch die nicht gesondert erfasste Antwort Industrie und Banken, da die Befragten hiermit wahrscheinlich den Kapitalisten insgesamt die Schuld gaben. Die Antwort Bourgeoisie wurde indes mit der Kategorie Kapital nicht identisch gesetzt: Zum einen haften diesem Begriff im Deutschen bedeutend aggressivere Konnotationen an als im Französischen oder Englischen, und zum anderen bezieht er sich schärfer auf die besitzende Klasse selbst, und zwar unter Einschluss der mittelgroßen und kleinen Unternehmer.

Der Kategorie Großindustrielle, allein oder zusammen mit Großgrundbesitzern ist gegenüber der Antwort Kapital eine spezifische Bedeutung zuzumessen. Es wird hierin ein Versuch sichtbar, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft Machtabstufungen festzulegen. Die Betonung des Groß- bezieht sich dabei auf die monopolistischen [III-046] Tendenzen in Deutschland und macht deutlich, dass sich die Kritik nur auf diese quantitativ kleinen, aber mächtigen Gruppen des Kapitals bezieht. Allerdings war es für den durchschnittlichen Lohn- und Gehaltsempfänger ungleich einfacher, die für ihn unerreichbare „Großindustrie“ zu kritisieren als das ganze System einschließlich des Kleingewerbes, dem anzugehören das Lebensziel von vielen war. Die nationalsozialistische Propaganda nutzte diese Gefühle geschickt aus und gewann viele Anhänger durch das Versprechen, die Macht der Trusts zu brechen und den Großgrundbesitz zu verteilen.

Die Antwort Banken, Börse ist ebenfalls gesondert zu betrachten, da sie sich auch auf eine Teilfraktion des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs bezieht. Obwohl nicht viele derartige Antworten vorliegen, sind sie dennoch wichtig, da hier gerade jenen Institutionen Macht zugesprochen wird, die den meisten fremd und rätselhaft waren. Zum Teil dürften die Probanden aber auch schon unter dem Einfluss der NS-Propaganda gestanden haben, denn diese unterschied zwischen dem „schaffenden“ und dem „raffenden“ Kapital, den Banken und Spekulanten (siehe Tab. 3.1).

Tabelle 3.1: Frage 432: Wer hat nach Ihrer Meinung heute die wirkliche Macht im Staate?
Antworten in Abhängigkeit von der politischen Orientierung (Angaben in %)

Bei einer Frage, in der es um die Grundlagen der politischen Herrschaft geht, ist das Antwortverhalten der verschiedenen politischen Gruppierungen höchst interessant. Das größte Kontingent an Antwortverweigerungen stellten (...) die bürgerlichen Wähler; mit 30 % war hier die Quote der Antwortausfälle bedeutend höher als bei den Sozialdemokraten, die ihrerseits wiederum häufiger die Antwort schuldig blieben als Linkssozialisten (5 %) und Kommunisten (4 %). Das Interesse an der Frage nach der Macht im Staat wächst also in Abhängigkeit von der politischen Radikalität. Die Nationalsozialisten, von denen nur 6 % nicht antworteten, lagen in dieser Hinsicht nahe bei den Kommunisten. Obwohl sie das Problem aus einer ganz anderen Perspektive beurteilten, war die Frage nach der tatsächlichen Machtverteilung auch für sie von vitaler Bedeutung.

Die meisten Antworten, nämlich 56 % fielen unter die Rubrik Kapital, Kapitalisten, und diese Meinung war bei den Linken bedeutend häufiger zu finden als bei Bürgerlichen und Nationalsozialisten. Dieses Ergebnis entspricht weitgehend der marxistischen Lehre, dass unabhängig von der politischen Verfassung die tatsächliche Macht in den Händen derjenigen liegt, die die Produktions- und Distributionsmittel besitzen oder kontrollieren. Auch die Antwort Großindustrielle bzw. Großgrundbesitzer wurde fast ausschließlich von Anhängern der Linksparteien gegeben, von Seiten der Kommunisten noch häufiger als von den Sozialdemokraten. Die Befragten, die sich für diesen Ausdruck entschieden, versuchten damit vor allem die mächtigsten Kapitalisten zu charakterisieren; häufig dürfte jedoch auch eine Personalisierung struktureller Momente vorliegen. Ausschließlich bei den Linken fand sich die Antwort Bourgeoisie mit ihren aggressiven Konnotationen gegen die besitzenden Klassen, wobei Kommunisten diesen Begriff bedeutend häufiger wählten als Sozialdemokraten.

Banken, Börse ist eine Kategorie, die das Bedürfnis nach einem ganz besonderen Feindbild verdeutlicht, das weniger anonym und eher personifizierbar ist als die Kapitalisten allgemein. Bei den Anhängern der Linksparteien wurde diese Antwort von keinem einzigen Funktionär und nur von einigen Wählern gegeben. Dem [III-048] Antwortverhalten nach zu schließen, erfüllen Banken und Börse weitgehend eine Sündenbockfunktion. Die irrationale Auswahl derartiger Sündenböcke zeigte sich am besten bei der Kategorie Juden, alleine oder mit Freimaurern und Jesuiten, die von 50 % aller Nationalsozialisten gegeben wurde.

Das weitverbreitete Misstrauen gegenüber demokratisch-parlamentarischen Machtpotenzialen zeigte sich darin, dass nur 2 % der Antworten der Kategorie Regierung, Parlament zugerechnet werden konnten, und ebenso hielten auch nur ganz wenige irgendeine der politischen Parteien für die wahren Machthaber.

Die Antwort Faschisten, Militaristen usw. blieb fast völlig den Kommunisten vorbehalten, von denen sich 5 % zu dieser Auffassung bekannten. Bei politischen Unruhen sowie bei den Nachspielen zu Versammlungen...

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