Die Pathologie der Normalität des heutigen Menschen
(Modern Man’s Pathology of Normalcy)
(1991e [1953])[1]
1. Seelische Gesundheit in der modernen Welt
a) Was ist seelische Gesundheit?
Es gibt zwei mögliche Zugänge zur Frage, was seelische Gesundheit in der gegenwärtigen Gesellschaft ist, einen statistischen und einen analytischen, qualitativen.
Der statistische Zugang zur Frage ist einfach, so dass ich ihn kurz abhandeln kann: Er befragt die Statistik nach den Aufwendungen für die seelische Gesundheit in der modernen Gesellschaft. Diese Zahlen sind in keiner Weise ermutigend. Etwa eine Milliarde Dollar werden [Anfang der fünfziger Jahre] jährlich in den Vereinigten Staaten für seelische Erkrankungen aufgewendet. Die Hälfte der Krankenhausbetten ist mit Menschen belegt, die seelisch erkrankt sind. Diese Zahlen sind noch weniger ermutigend, wenn wir den Blick auf die bestürzenden und vielsagenden Daten aus Europa richten. Gerade jene europäischen Länder, die wie die Schweiz, Schweden, Dänemark und Finnland als besonders ausgewogene, sichere Länder des Bürgertums gelten, gehören zu den Ländern, die im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern eine sehr viel höhere Rate an Schizophrenie, Selbstmorden, Alkoholismus und Totschlagdelikten haben.
Die statistischen Daten stimmen nachdenklich. Was hat es zu bedeuten, dass gerade diese europäischen Länder gesellschaftlich und kulturell das erreicht haben, was wir als erstrebenswertes Ideal ansehen, aber noch nicht erreicht haben, zu jener ziemlich wohlhabenden bürgerlichen Existenz zu gelangen, die sich zum großen Teil auf wirtschaftliche Sicherheit gründet? Was bedeutet es, dass der seelische Zustand in diesen Ländern nicht dafür spricht, dass deren Art zu leben seelischer Gesundheit förderlich ist? Entgegen unserer allgemeinen Annahme führt sie nicht zu mehr Glück.
Auch wenn es in den Vereinigten Staaten und in Europa sehr viele seelische Erkrankungen gibt, kann man auf der anderen Seite auch von guten Entwicklungen berichten. Die Versorgung der seelisch Kranken wird immer besser. Neue Methoden wurden entwickelt. In den Vereinigten Staaten und in Europa gibt es eine Bewegung für seelische Gesundheit. Tatsächlich wissen wir nicht, ob unsere Daten wirklich eine größere Rate an seelischen Erkrankungen widerspiegeln oder nur eine größere [XI-214] Aufmerksamkeit für seelische Gesundheit ausdrücken. Durch verbesserte Methoden, genauere Beobachtung, den Ausbau der Einrichtungen erkennen wir weit besser, wer seelisch krank ist, so dass unsere Statistiken besorgniserregender ausfallen, als wenn wir die Frage nach seelischer Gesundheit und Krankheit nicht so aufmerksam und interessiert verfolgen würden. Wählen wir nur einen statistischen Zugang und schauen wir nur auf die positiven und negativen Daten, macht uns die Kenntnis der Daten nicht klüger. Meistens sagt uns der Blick auf die Statistik noch nicht, was die Zahlen bedeuten. Deshalb möchte ich mich in diesen vier Vorlesungen auch nicht mit der statistischen, sondern mit der qualitativen Seite der Frage nach der seelischen Gesundheit beschäftigen.
Was bedeuten seelische Gesundheit und seelische Krankheit? Was verstehen wir darunter? In welcher Beziehung stehen seelische Gesundheit und Krankheit, wie ich sie verstehe, zur besonderen Struktur unserer Gesellschaft im Jahre 1953? Geht es um die seelische Gesundheit in der gegenwärtigen Gesellschaft, dann genügt es nicht, hier die seelische Gesundheit und dort unsere Gesellschaft als feste Größen zu vergleichen. Vielmehr müssen wir die Verflechtungen verstehen und herausfinden, welche Faktoren des Gesellschaftsprozesses und der Gesellschaftsstruktur der Gesundheit förderlich sind und welche Strukturmerkmale zu seelischer Erkrankung führen.
Bei der Frage, was seelische Gesundheit heißt, gilt es zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen zu unterscheiden. Beide werden heute vertreten, jedoch nicht deutlich genug auseinandergehalten, obwohl der Unterschied ganz offensichtlich ist. Die eine ist eine relativistische, gesellschaftliche Auffassung, die dem Geisteszustand der gesellschaftlichen Mehrheit entspricht. Ähnlich wie bei der Definition von Intelligenz, die mit einem Intelligenztest gemessen wird, wird die Auffassung vertreten, dass sich seelische Gesundheit von der Anpassung an die Lebensweise einer gegebenen Gesellschaft her bestimmen lasse, und zwar völlig unabhängig davon, ob diese Gesellschaft als solche gesund oder verrückt ist. Das einzige Kriterium ist, dass ein Mensch an sie angepasst ist.
Vielen wird die Kurzgeschichte von H. G. Wells (1925) The Country of the Blind bekannt sein, in der ein junger Mann sich in Malaya verirrt und auf einen Stamm stößt, in dem alle Menschen seit Generationen an angeborener Blindheit leiden, während er sehend ist. Das ist sein Pech, denn sie sind ihm gegenüber alle argwöhnisch. Unter ihnen gibt es gelehrte Ärzte, die seine Krankheit als eine seltsame und bisher unbekannte Störung in seinem Gesicht diagnostizieren, die alle möglichen sonderbaren und pathologischen Phänomene hervorbringt. [„Die komischen Dinger, die man Augen nennt und die dazu da sind, im Gesicht eine hübsche leichte Vertiefung zu erzeugen, sind in seinem Fall erkrankt, und zwar so, dass sein Gehirn davon mitbetroffen ist. Sie sind stark aufgequollen, er hat Wimpern, seine Lider bewegen sich, wodurch sich sein Gehirn in einem Zustand ständiger Erregung und Ablenkung befindet.“] Er verliebt sich in ein Mädchen und will es heiraten. Dessen Vater widersetzt sich der Heirat, willigt dann aber unter der Bedingung ein, dass der junge Mann einer Operation zustimmt, mit der er blind gemacht wird. Noch bevor er die Blendung erlaubt, rennt er davon.
Die Kurzgeschichte von Wells zeigt ganz einfach, was wir alle mehr oder weniger [XI-215] fühlen, wenn es um normal und nicht normal, gesund und krank vom Standpunkt der Anpassung aus geht. Der Anpassungstheorie liegen folgende Annahmen zugrunde: 1. Jede Gesellschaft als solche ist normal; 2. seelisch krank ist, wer von dem von der Gesellschaft favorisierten Persönlichkeitstyp abweicht; 3. das Gesundheitswesen im Bereich von Psychiatrie und Psychotherapie verfolgt das Ziel, den Einzelnen auf das Niveau des Durchschnittsmenschen zu bringen, unabhängig davon, ob dieser blind ist oder nicht blind. Es zählt nur, dass der Einzelne angepasst ist und das gesellschaftliche Gefüge nicht stört.
Für die Anpassungstheorie sind einige Elemente typisch, so zum Beispiel der Glaube, dass unsere Familie, unsere Nation, unsere Rasse als normal erlebt wird, während die Lebensweise der anderen als nicht normal empfunden wird. Eine scherzhafte Episode mag diesen Punkt besonders verdeutlichen. Ein Mann kommt zum Doktor und möchte ihm von seinen Symptomen erzählen. Er beginnt so: „Also, Herr Doktor, jeden Morgen, nachdem ich geduscht und mich erbrochen habe (...)“, da unterbricht ihn der Arzt: „Heißt das, dass Sie sich jeden Morgen erbrechen?“, worauf der Patient sagt: „Aber Herr Doktor, tun dies nicht alle?“ – Die Geschichte ist wohl gerade deshalb spaßig, weil sie eine Einstellung trifft, die wir alle mehr oder weniger teilen. Wir wissen vielleicht, dass auch ausgefallene Eigentümlichkeiten von uns bei anderen zu finden sind. Was wir allerdings nicht wissen: Es gibt viele Eigentümlichkeiten, die es nur in unseren Familien, in den Vereinigten Staaten oder in der westlichen Welt gibt, von denen wir aber annehmen, sie kämen bei allen Menschen vor; in Wirklichkeit sind sie aber gerade keine allgemein menschlichen Züge.
Für den anpassungstheoretischen Standpunkt ist aber nicht nur dieses provinzielle Gefühl typisch, dass die Art, wie wir sind und aufwachsen, normal ist. Dahinter steht eine – man könnte sagen – relativistische Philosophie, die vor allem behauptet, man könne keine objektiv gültigen Werturteile fällen. Gut und böse seien sozusagen Glaubensangelegenheiten. Sie seien ihrem Wesen nach nichts anderes als der Ausdruck dessen, was in einer Kultur faktisch getan und gegenüber anderen Kulturen bevorzugt werde. Was die Menschen einer bestimmten Kultur gerne tun, nennen sie „gut“, was sie nicht mögen, nennen sie „böse“. Es gebe aber nichts, woran sich dies objektiv messen lassen könnte; vielmehr sei es eine reine Ansichtssache.
Im Gegensatz zum anpassungstheoretischen Standpunkt gibt es einen anderen, den ich bereits in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 14-18) ausgeführt habe. Er geht von der Annahme aus, dass es in Wirklichkeit doch Werturteile gibt, die objektiv gültig sind, und dass solche Werturteile keine Frage des Geschmacks oder des Glaubens sind. So kann der Arzt oder der Physiologe unter der axiomatischen Annahme, dass zu leben besser ist als zu sterben bzw. dass das Leben besser ist als der Tod, zu dem objektiv gültigen Werturteil kommen, dass dieses Nahrungsmittel besser ist als jenes oder dass diese Art von Luft oder diese Art auszuruhen oder diese Anzahl von Stunden Schlafs besser ist als eine jeweils andere. Die eine ist der Gesundheit zuträglich, die andere nicht. Es ist meine Überzeugung, dass dies nicht nur auf unseren Körper zutrifft, sondern auch auf unsere Seele.
Auch bezüglich der Seele können wir zu objektiv gültigen Aussagen darüber kommen, was für sie gut und was schlecht ist, und zwar auf der Basis unserer Kenntnis der [XI-216] Natur und der Eigengesetzlichkeit des Seelischen. In Wirklichkeit wissen wir über die Seele noch sehr wenig. Vermutlich wissen wir mehr über Vitamine und Kalorien als darüber, was unsere Psyche braucht, um normal zu leben. Wir alle haben erlebt, wie das Wissen über Vitamine und Kalorien unsere Lebensgewohnheiten...