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E-Book

Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes. Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis

Social Character in a Mexican Village. A Sociopsychoanalytic Study

AutorErich Fromm, Michael Maccoby
VerlagEdition Erich Fromm
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl230 Seiten
ISBN9783959121347
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Erich Fromm war ein Pionier der psychoanalytischen Sozialforschung. Mit der Untersuchung 'Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes' wollten er und sein Mitarbeiter Michael Maccoby 'eine neue Methode testen, welche die Anwendung der psychoanalytischen Theorie auf die Untersuchung von gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen sollte, ohne dabei die einzelnen Glieder der Gruppe einer Psychoanalyse zu unterziehen'. Die 1957 begonnene und 1970 publizierte Studie verbindet quantitative und qualitative Untersuchungsmethoden und verfolgt zugleich das Ziel einer partizipatorischen Sozialforschung. Stellte Fromms frühe Arbeiter- und Angestelltenerhebung aus dem Jahr 1930 eine wissenschaftliche Pioniertat dar, so illustriert er mit der mexikanischen Untersuchung, dass sich seine Konzeption von Analytischer Sozialpsychologie mit Hilfe der Charaktertheorie operationalisieren und durch empirische Untersuchungsmethoden bestätigen lässt. Zugleich zeigt diese Studie, dass das benützte Konzept des Sozialcharakters weiterhin Aktualität besitzt. Mit der E-Book-Ausgabe ist diese psychoanalytisch orientierte empirische Studie erstmals als Einzelpublikation in Deutscher Sprache zugänglich Aus dem Inhalt - Das sozio-ökonomische und kulturelle Bild des Dorfes - Die Theorie der Charakter-Orientierungen - Der Charakter der Dorfbewohner - Die Faktorenanalyse - Der Charakter und das Geschlecht - Ursachen des Alkoholismus - Die Entwicklung des Charakters in der Kindheit - Der Charakter der Kinder im Vergleich zu dem der Eltern - Beispiele für Veränderung durch Kooperation - Beispiele für die Auswertung des Fragebogens

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten 'Frankfurter Schule' um Max Horkheimer. 1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch 'Die Furcht vor der Freiheit' weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch 'Die Kunst des Liebens' schrieb, sondern auch das Buch 'Wege aus einer kranken Gesellschaft'. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch 'Haben oder Sein'. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.

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Leseprobe

3. Das sozio-ökonomische und kulturelle Bild des Dorfes


Im Jahre 1960 führte unser Team eine Befragung aller männlichen Dorfbewohner über sechzehn Jahre und aller Dorfbewohnerinnen über fünfzehn Jahre durch. Die sozio-ökonomische und kulturelle Einschätzung, die wir von dem Dorf gewannen, gründet sich hauptsächlich auf diese Erhebung, die durch Beobachtungen der einzelnen Mitarbeiter über das dortige Leben ergänzt wurde.

a) Alter, Geburtsort und Familiengruppierungen

Die Erhebung von 1960 umfasste 792 Dorfbewohner, darunter 209 männliche über sechzehn Jahre und 208 weibliche über fünfzehn Jahre. Die übrigen, nämlich 375 Kinder und jüngere Jugendliche, machen 47 % der Einwohnerschaft aus. Wenngleich viele männliche Vierzehnjährige bereits vollwertige Feldarbeiter sind und Mädchen in noch jüngerem Alter bereits die gesamte Hausarbeit verrichten, verlegten wir die Altersgrenze an den Zeitpunkt der Heirat und Familiengründung der Dorfbewohner. [III-280]

Mit sechzehn sind die männlichen Jugendlichen berechtigt, Land zugeteilt zu bekommen. Wir werden im Folgenden die 417 Dorfbewohner über sechzehn bzw. fünfzehn Jahre, die wir mit unserer Erhebung erfassten, als Erwachsene bezeichnen.

Tabelle 3.1: Altersverteilung der erwachsenen Dorfbewohner (Angaben in %)

Aus Tabelle 3.1 geht hervor, dass die meisten von ihnen unter dreißig Jahre alt und nur 5 % sechzig Jahre und älter waren. Wie in anderen Bauerngesellschaften auch, werden die Jugendlichen schnell erwachsen, heiraten jung und sterben früh.

Tabelle 3.2: Geburtsorte der Dorfbewohner (Angaben in %; N = 417)

Nur 31 % der Dorfbewohner sind im Dorf selbst geboren. Wie Tabelle 3.2 zeigt, kam der größte Anteil (36 %) nach der Revolution aus dem benachbarten Bundesstaat Guerrero, hauptsächlich zwischen 1927 und 1930, als das Land in Parzellen aufgeteilt wurde. Andere Dorfbewohner sind aus anderen Teilen des Bundesstaates Morelos bzw. aus dem Bundesstaat Mexico eingewandert. Keiner der Dorfbewohner wurde in Mexico City oder in einer anderen größeren Stadt geboren; alle waren bäuerlicher Herkunft.

Die meisten Einwanderer waren unter fünfundzwanzig Jahre, als sie im Dorf eintrafen (siehe Tab. 3.3).

Tabelle 3.3: Alter bei Ankunft im Dorf (Angaben in %; N = 417)

Einige wurden von ihren Eltern mitgebracht. Andere kamen auf [III-281] der Suche nach Land oder nach Arbeit, angelockt vom Klima und dem reichlich vorhandenen Wasser, die einen Anbau das ganze Jahr über ermöglichen. Von den Eltern der gegenwärtigen Dorfbewohner waren noch weniger im Dorf geboren.

Tabelle 3.4: Geburtsort der Eltern (Angaben in %; N = 417)

Wie aus Tabelle 3.4 hervorgeht, waren nur 9 % der Eltern im Dorf geboren, 46 % im Bundesstaat Guerrero und die übrigen meist in anderen Teilen des Bundesstaates Morelos oder im benachbarten Bundesstaat Mexico. Diese Situation ist nicht ungewöhnlich bei Dorfbewohnern in dieser Region von Morelos, da sie während der Revolution durch Gewalttaten, durch Hunger und Krankheit entvölkert wurde.

Tabelle 3.5: Zahl der Geschwister (Angaben in %; N = 417)

Die meisten Dorfbewohner stammen aus großen Familien mit durchschnittlich fünf Kindern (siehe Tab. 3.5). Nur 2 % berichten, dass sie keine Geschwister haben, während 14 % aus Familien mit zehn und mehr Kindern stammen. Von den 133 Familien, die zur Zeit der Befragung Kinder hatten, betrug die durchschnittliche Kinderzahl vier pro Familie (siehe Tab. 3.6), wobei die bereits verstorbenen Kinder nicht mitberechnet wurden, während viele junge Eltern eingeschlossen wurden, deren Familie [III-282] noch nicht vollständig war.

Tabelle 3.6: Zahl der lebenden Kinder in Familien mit Kindern

Die dreißigjährigen oder älteren Eltern hatten durchschnittlich drei lebende Kinder, was bedeutet, dass die Dorfbewohner sich in Bezug auf die Größe der von ihnen begründeten Familien nicht von ihren Eltern unterscheiden.

Tabelle 3.7: Familienstand der Dorfbewohner (Angaben in %)

Tabelle 3.7 bezieht sich auf den Familienstand der Dorfbewohner. 24 % sind ledig oder haben noch nicht geheiratet. Dieser Prozentsatz enthält mehr Männer (61 Personen) als Frauen (39 Personen), da Frauen früher heiraten. Von den unverheirateten Männern sind 90 % unter dreißig, davon 40 % unter zwanzig Jahren. Von den unverheirateten Frauen sind 80 % unter dreißig, davon 43 % unter zwanzig Jahren. Nur fünf Männer und acht Frauen über dreißig Jahre waren nie verheiratet. 8 % sind alleinstehend, nachdem sie sich von ihrem Partner getrennt haben bzw. geschieden [III-283] sind. 38 % der Dorfbewohner sind standesamtlich, darunter 26 % auch kirchlich getraut. 12 % sind ohne kirchliche Zeremonie verheiratet. Weitere 9 % sind nur kirchlich getraut und haben keine standesamtliche Urkunde unterzeichnet. 14 % der Dorfbewohner betrachten sich aufgrund freier Verbindung als verheiratet; meist handelt es sich bei diesen um die Ärmsten, die weder die Kosten für die standesamtliche Urkunde noch für die noch teurere kirchliche Feier aufbringen können. 6 % sind verwitwet, darunter 25 Frauen und nur 3 Männer. Dieses Missverhältnis rührt zum Teil daher, dass die Männer durchschnittlich eine kürzere Lebensdauer haben, da viele durch Gewaltakte umkommen; aber zum Teil ist es auch darauf zurückzuführen, dass es Frauen gibt, die von ihren Partnern verlassen wurden und sie dann als verstorben angeben und sich selbst als verwitwet bezeichnen.[22] 20 % der Dorfbewohner (davon 60 % Frauen und 40 % Männer) waren mehr als einmal verheiratet.

Man kann die 417 erwachsenen Dorfbewohner in 162 Haushaltungen oder Wirtschaftsgemeinschaften eingruppieren, die sich aus dem Haushaltsvorstand, der Ehefrau und den Abhängigen (falls vorhanden) zusammensetzen. In einigen dieser Haushaltungen arbeiten auch erwachsene Kinder bzw. verdienen Geld, aber gehören trotzdem mit zum Haushalt. In anderen Fällen kann auch eine andere Person, ein Verwandter, eine Dienstkraft oder vielleicht ein zahlender Gast mit im Haus oder auf dem Grundstück wohnen, ohne dass man ihn als zum Haushalt gehörig betrachtet. Solche Dorfbewohner (es gibt davon 11) zählen als eigener Haushalt. Von den insgesamt 162 Haushalten haben 127 (80 %) als Haushaltsvorstand einen Mann, 33 (20 %) eine Frau. Die meisten (70 %) der weiblichen Haushaltsvorstände sind „Witwen“. Die anderen sind unverheiratet oder verlassene Mütter. Wie bereits erwähnt, wurden einige dieser sogenannten Witwen in Wirklichkeit von einem oder auch nacheinander von mehreren Ehemännern verlassen. Es gibt auch Frauen, die eine Reihe von Gefährten haben, die sie dann mit Kindern zurücklassen. Von den Haushalten, an deren Spitze dem Namen nach ein Mann steht, werden 6 von einer Frau beherrscht, die schon mit einer Reihe von Männern in freier Ehe lebte. Wir werden auf die Bedeutung der Haushalte, deren Oberhaupt eine Frau ist, später noch zurückkommen.

Von den 162 Haushalten haben 79 (49 %) ein eigenes Grundstück. Die meisten anderen (42 %) wohnen auf dem Grundstück ihrer Eltern, Verwandten oder Freunde. Nur 14 Haushalte (9 %) zahlen für ihre Unterkunft Miete. Infolge der Knappheit an Grund und Boden kommt es nicht selten vor, dass man ein Grundstück mit zwei Häusern findet, von dem das eine den Eltern und das andere einem verheirateten Sohn und dessen Familie gehört. [III-284]

b) Analphabetismus und Schulbildung

Unsere Erhebung erbrachte, dass 24 % der Dorfbewohner gut lesen und schreiben können; 44 % können einfache Bekanntmachungen lesen und ihren Namen und einfache Mitteilungen schreiben, während 32 % Analphabeten sind (siehe Tab. 3.8). Nur sehr wenige Dorfbewohner lesen zur Unterhaltung. Nicht mehr als 10 % lesen Zeitung, und noch weniger lesen Bücher. Bei der jüngeren Generation sind neuerdings Comics beliebt einschließlich solcher, die rührselige Liebesgeschichten mit Fotos enthalten (etwa Doctora Corazón und Risas y Lágrimas). Als unsere Studiengruppe im Dorf eine Bibliothek eröffnete, waren diese Comics neben Illustrierten bei den älteren wie bei den jüngeren Lesern am begehrtesten.

Tabelle 3.8: Schreibkenntnisse der Dorfbewohner (Angaben in %)

Das Niveau der Lese- und Schreibkenntnisse entspricht den Anforderungen des bäuerlichen Lebens. Das gedruckte Wort spielt nur für jene eine wirtschaftliche Rolle, die in der nahegelegenen Zuckerraffinerie arbeiten, oder für die Männer, die einen Führerschein brauchen, um einen Lastwagen oder einen Traktor zu fahren. Für die andern kann es von Nutzen sein, wenn sie Bekanntmachungen lesen oder einfache Zahlen zusammenzählen können, aber mehr wäre Luxus. Allerdings besserten sich die Lese- und Schreibkenntnisse in den letzten zehn Jahren durch häufigeren Schulbesuch. Von den Dorfbewohnern unter dreißig Jahren sind nur noch 21 % Analphabeten, gegenüber 43 % der über Dreißigjährigen. Wenn man die mexikanischen Bauern beobachtet, ist man erstaunt über ihr bemerkenswert gutes Gedächtnis. Das legt den Gedanken nahe, dass Menschen, die nicht schreiben können, vielleicht ein besseres Gedächtnis haben. Wenn das Gedächtnis dadurch, dass man das niederschreiben kann, was man behalten möchte, nicht gebraucht wird, verlässt man sich auf das geschriebene Wort, und das Gedächtnis lässt nach. Die Kunst des Schreibens und Lesens ist also vermutlich nicht nur ein Segen, vor allem wenn sie nicht dazu dient, sich wertvolle Kenntnisse anzueignen und sich an schönen Büchern zu erfreuen.

Unter denen, die lesen und schreiben können, gibt es mehr Männer als...

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