Gestohlene Kindheit
Kinderarmut hat viele Gesichter. Die meisten haben Ringe unter den Augen, auch schon mit drei Jahren. Kinderarmut hat ebenso viele Stimmen. Ein paar Dutzend von ihnen habe ich im Laufe eines Jahres in zahlreichen Städten und Dörfern Deutschlands zugehört, um herauszufinden, was es für Mädchen und Jungen bedeutet, arm in einem reichen Land zu sein. Manche Stimmen waren scheu, manche klangen tapfer, andere waren wie eine Tonspur, auf der sich zu viele Gefühle gleichzeitig Gehör verschaffen mussten. So wie die von Ricco, 14, mit dem Bubengesicht auf einem massigen Körper. Ricco schiebt seinen enormen Bauch wie eine Baggerschaufel vor sich her: Mir kann keener! Das Gegenteil ist wahr. Fünf Jahre ist es her, dass er seinen arbeitslosen, alkoholkranken Vater nach der Schule tot auf der Couch fand. Seither packt seine depressive Mutter das gemeinsame Leben immer wieder in einen Koffer und zieht ruhelos mit ihren Kindern um. Es scheint, als wolle Ricco durch sein Körpergewicht verhindern, dass er wie eine Spielfigur herumgeschoben wird. Wie oft kann man eine junge Pflanze umtopfen, bis sie eingeht? Ricco hatte sich auf unser Gespräch gefreut. Als es dann so weit war, verließ ihn der Mut. «Fick dich», sagte er einfach. Noch hat seine Wut ein Kindergesicht.
Dieses Buch sollte eine Momentaufnahme werden, ein Deutschlandbild auf Kinderaugenhöhe, das jenseits von Zahlen, Studien und Statistiken den Raum ausleuchtet, in dem Kinder leben, deren Eltern resigniert haben und in Hartz IV verharren, als sei dies eine Strafe, die sie absitzen müssen. Ich wollte zeigen, was mit Kindern passiert, die nicht Kind sein dürfen, weil die Probleme ihrer Eltern alles überlagern. Kinder, die keine Wurzeln entwickeln können, die zu wenig Licht abbekommen und deren Potenzial verkümmert, bevor es sich entfalten kann. Es wurde ein Buch über eine große Leerstelle, die Kindheit heißt, über einen Kreislauf, ein Generationenerbe an fehlender Sorglosigkeit, Wärme und Familiensinn, über die Unfähigkeit von Eltern, den eigenen Kindern Nähe, Selbstvertrauen und Geborgenheit zu geben, weil sie solche Erfahrungen selbst nie gemacht haben. Und doch gibt es etliche unter ihnen, die die Hoffnung nicht aufgeben, dass ihre Kinder aus der Armut herauskommen.
Die weite Strecke zum Kinderhilfswerk ARCHE, wo ich einige der in diesem Buch versammelten Geschichten recherchiert habe, wurde mir im Laufe der Monate vertraut. Oft war ich froh, die Stunde Fahrzeit nach Berlin-Hellersdorf zu haben, bevor die Zeit mit meinen eigenen damals noch drei Kindern und ihren mal größeren, mal kleineren Freuden und Sorgen begann. Nicht immer reichten sechzig Minuten aus, um Abstand zu gewinnen. Es gab einige Geschichten, die mich im Schlaf verfolgten, wie die von der sechsjährigen Katja, die mit käsebleichem Gesicht mit anderen Kindern vor einem Brettspiel saß. Als ihr ein Fünfjähriger den Würfel wegnahm, reagierte das Mädchen auffallend aggressiv, drohte dem kleineren Tischnachbar mit der Faust und ließ sie dann plötzlich wieder sinken, so als wüsste es, dass es gar keine Reserven zum Zuschlagen hat. Kurz danach, nachmittags um fünf Uhr, brach das zierliche Mädchen fast zusammen. «Ich hab solche Ohrenschmerzen», schluchzte Katja. Seit Tagen schon quälte sie eine Entzündung, der Eiter lief bereits aus den Ohren. Zum Arzt war niemand mit ihr gegangen. Jetzt, am frühen Freitagabend, waren die Praxen bereits geschlossen. Die Mutter wurde angerufen, um sie wenigstens abzuholen. Zum Trost stellte ihr eine Erzieherin ein kleines Stück Hefezopf hin, das die Kleine jedoch weinend wegschob. «Ich will einfach was Richtiges essen», weinte Katja erschöpft. Es war so eine Traurigkeit in ihrer Stimme. Es stellte sich heraus, dass sie an dem Tag noch nichts gegessen hatte, auch nicht in der Kantine der Einrichtung, in der die Töpfe bereits leer waren, als sie dort allein am frühen Nachmittag ankam. An der nächsten Tankstelle ergatterte ich für sie das letzte belegte Brötchen. Katja hatte das Brötchen noch nicht zur Hälfte verspeist, als ihre nach Alkohol riechende Mutter in den Betreuungsraum kam. «Komm», sagte die Mutter, sonst nichts. Katja klammerte sich an das Brötchen. «Darf ich das noch essen, Mama?» Eine merkwürdige Frage für ein Kind. Wie oft mag Katja schon mit quälendem Hunger in der Schule gesessen und vergeblich versucht haben, sich zu konzentrieren? Was schreiben die Lehrer auf ihr Zeugnis: «Katja ist unkonzentriert und kommt im Unterricht nicht gut mit» oder «Mit einem leeren Magen kann niemand lernen»?
Es gab auch andere Geschichten, die mir lange nicht aus dem Sinn gingen, wie die von der 14-jährigen Anke aus Köln, die nicht Kind sein durfte, weil ihre einsame Mutter in ihr eine Partnerin auf Augenhöhe suchte, mit der sie ihre Sorgen und ihre Pflichten für die anderen fünf Kinder teilen konnte. Anke wollte aber Kind sein. Die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter eskalierten, schließlich kam Anke weg von der Familie in eine gemischte Jugend-Wohngruppe. Doch dort fand der Traum vom Kindsein ein jähes Ende, als sie nachts von zwei gleichaltrigen Mitbewohnern vergewaltigt wurde. Erst hielt der eine sie fest, dann der andere. Der diensthabende Erzieher hatte nichts gehört.
Als Mutter von nun vier Kindern, die in ganz anderen, viel behüteteren Verhältnissen aufwachsen, treibt mich die Frage um, warum wir es nicht schaffen, mehr Kindern in diesem Land gute und gleichberechtigte Startbedingungen ins Leben zu ermöglichen. Den letzten Anstoß zu diesem Buch gab der afrikanische Schulfreund meines Sohnes, Kind eines eingebürgerten Vaters, der zur wachsenden Gruppe der «working poor» gehört. Der Junge hatte miserable Noten, war aber ein blitzgescheiter Schachspieler. Mit den richtigen Mitteln und guter Begleitung hätte er eine Chance gehabt, seine Talente zu entfalten und Teil unserer Gesellschaft zu werden. Sein allein erziehender, oft überforderter Vater verlor jedoch irgendwann die Nerven und den Glauben an eine faire Chance für seinen Sohn und schickte den Jungen mit seiner Schwester in sein krisengeschütteltes Heimatland nach Westafrika zurück.
Ich bin bei meinen Recherchen vielen Kindern und jungen Menschen begegnet, auf deren Wegen sich so viele Probleme auftürmen, dass sie nicht frei und unbeschwert ins Leben gehen können. Kinder, an die niemand wirklich glaubt und die sich deshalb selbst nichts zutrauen. Kinder, die einem wohlhabenden Staat jede Statistik versauen, die bei uns in der Schublade für Schulversager und Schulabbrecher stecken und denen wenig schmeichelhafte Attribute nachgesagt werden: gewalttätig, lernbehindert, instabil. Kandidaten, die man nach gängiger Auffassung der Sozialpädagogen nur mit so genannten niedrigschwelligen Angeboten erreicht, weil sie es nicht gelernt haben, ein Ziel zu verfolgen und alle damit verbundenen Anstrengungen zu meistern, da ihnen meistens die Vorbilder dafür fehlen.
Herausgekommen ist ein Buch über das Fehlen von Träumen, die einen Menschen bei seiner Suche nach dem richtigen Platz im Leben beflügeln. «Hier träumt keiner», meint Tom, 17, aus der Plattenbausiedlung Halle-Silberhöhe. Dreh dich nicht herum, denn der Kindheitsklau geht um, kommentierte eine Freundin von mir, nachdem sie einige Geschichten gelesen hatte.
Es ist aber ebenso ein Buch über viele Projekte, die Mut machen und zeigen, wie diese Kinder aufgefangen werden können, so wie die Schüler der Herbartschule im Essener Norden, die einmal pro Jahr voller Stolz mit einer eigenen Darbietung auf der Bühne der Philharmonie stehen. Die Aufführung hat wenig mit Wunderkindern zu tun, aber viel mit der wunderbaren Fähigkeit von Kindern, für einen Moment glücklich zu sein. Wer über die Arbeit mit Kindern schreibt, die es schwer haben im Leben, muss sehr behutsam sein, mit welchem Maß er misst. Ob das Glas halb voll oder halb leer ist, spielt für jene, die sich unter schwierigen Umständen kümmern, eine große Rolle. Viele von ihnen engagieren sich in bewundernswerter Weise für «ihre» Kinder und opfern einen erheblichen Teil ihrer Freizeit – und ihrer Nerven – für den Versuch, in dem Leben ihrer Schützlinge etwas zum Besseren zu bewirken. Nicht immer gelingt das, und dennoch gibt es Erfolge, die sie zum Weitermachen ermutigen. Aber ich traf auf kaum eine Institution, kaum einen Verein, der nicht massive Personalsorgen hatte und vor leeren Kassen stand. Und alle – von Berlin über Kiel und Halle bis nach Köln – berichteten, dass sich die spezifischen Probleme armer Kinder in den vergangenen Jahren verschärft haben und immer mehr Hilfesuchende vor ihrer Tür stehen.
Ich verbinde mit diesem Buch auch Erinnerungen an kleine Augenblicke, die sich mir tief eingeprägt haben. Wie den Moment, als der in einer Wohngruppe in Berlin lebende Hassan in sein Zimmer hocheilte, um ein Buch zu holen über lauter Kinder, die an ihrem Leben verzweifelt sind und versucht haben, es gewaltsam zu beenden. Hassan selbst gehörte lange zu den vielen Kindern in unserem Land, die als nicht mehr oder kaum noch beschulbar gelten. «Ziemlich traurig», sagte er, als er mir das Buch hinlegte. Dann setzte er sich mir gegenüber und stellte allerhand kluge und ernste Fragen. Ich sah in die Augen des Zwölfjährigen und fand darin nicht das Kind, das er noch ist. Hassan wird – wenn alles gutgeht – trotz seiner schwierigen Lebensgeschichte nicht verzweifeln, weil er das Glück hat, einen Platz in einer guten Einrichtung gefunden zu haben, wo er lernt, seinem Leben einen Sinn zu geben, Wünsche zu kontrollieren und seine Traumata gewaltfrei zu verarbeiten. Viele Städte und Kommunen haben diese kostenintensiven Pflegeplätze trotz großer Nachfrage in den vergangenen Jahren sukzessive abgebaut. Oft werden...