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Artgerechte Haltung

Es ist Zeit für eine jungengerechte Erziehung

AutorBirgit Gegier Steiner
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641173968
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Warum wir uns dringend um unsere Jungs kümmern müssen
Jungs sind die Bildungsverlierer der Nation! Die Pädagogik ist einseitig geworden, weil sie auf die Bedürfnisse von Mädchen fixiert ist. Immer weniger Menschen scheinen das Geheimnis glücklicher Jungs zu kennen: Sobald ein Junge seine Grenzen austesten will, sind wir mit ihm überfordert. Wir müssen umdenken, damit Jungs wieder Jungs sein dürfen: anstrengend, energiegeladen und bewegungsfreudig.

Birgit Gegier Steiner fordert in ihrem Buch eine jungengerechte Erziehung für Kindergarten, Schule und Zuhause, die die Bedürfnisse von Jungen berücksichtigt und sie ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechend fördert und fordert. Birgit Steiner verrät außerdem, was Fußball mit Erziehung zu tun hat: Es wird Zeit für das »fußballdidaktische Prinzip«.

  • Von Frauen umzingelt: eine Analyse und ihre Konsequenzen
  • Warum wir eine jungengerechte Erziehung brauchen, die die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Jungs berücksichtigt
  • Ein unverzichtbares Buch für Eltern, Erziehende und Lehrer


Birgit Gegier Steiner, geboren 1960, wuchs in Süddeutschland auf. Sie selbst hat zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Drei weitere Söhne brachte ihr Mann mit in die Ehe. Nach ihrem Studium unterrichtete sie an verschiedenen Grund- und Hauptschulen. Seit 1995 war sie als pädagogische Fachberaterin am Schulamt Nürtingen sowie als Fachleiterin für das Europalehramt und übergreifende Projekte am Seminar für Lehrerbildung und Didaktik in Nürtingen tätig. Ihre ersten Veröffentlichungen im Schul- und Fachbuchsektor erschienen 2002. Seit 2004 ist sie als Referentin zu didaktischen Fragen für den Klett-Verlag tätig. Weitere Fortbildungsaufträge folgten, zuletzt an der PH Thurgau in Kreuzlingen. Seit 2006 leitet sie eine Grundschule mit sport- und bewegungsorientiertem Profil im Kreis Konstanz. Birgit Gegier Steiner wohnt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in der Schweiz.

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Leseprobe

Auch ich gehörte zu den Müttern, die in den 80er-Jahren dem Chancengleichheitswahn verfallen waren. Das begann bereits mit der bärchenbraunen Strampelhose, in die ich meine Kinder bewusst steckte, anstatt eine blaue oder rosane zu wählen. Janine, meine Tochter, hatte kein Problem damit, einjährig, den blauen Anorak ihres Bruders oder den gelb-blauen Skianzug zu tragen. Ob mit oder ohne Pudelmütze: Es gab immer wieder ein Rätselraten darüber, ob sie nun Junge oder Mädchen war.

Dennoch trieb ich die optische Gleichmacherei nicht so weit, dass ich meinem Sohn Rüschenblüschen und Röckchen anzog. Meine Tochter jedoch trug gerne eine kurze Lederhose: die war praktisch und robust.

Konsequenter war ich beim Spielsachenangebot: Florian bekam frühzeitig sein erstes Püppchen. Ich habe alle meine Puppen generalüberholt und in sein Spielzimmer gesetzt. Dabei herrschte politische Korrektheit: Die eine Puppe war blond und hatte eine helle Haut, die andere war ein braunes Püppchen. Leider saßen die beiden weitestgehend unbeachtet auf ihren Kissen. Mein Sohn bevorzugte als steten Begleiter seinen kleinen männlichen Teddybär, den er wohl heute noch, so strapaziert und zerfleddert er auch ist, irgendwo in seinem Schlafzimmer aufbewahrt.

Im nächsten Schritt ließen wir beim Schreiner ein wunderschönes stabiles Puppenhaus bauen. Aber in die Zimmerchen, die ich mit bunten Lampen und rot-weiß-karierten Vorhängen dekorierte, zogen schon bald seine Playmobilritter ein. Im unteren Stock hatten jede Menge Bauernhoftiere samt Traktor Platz. Gespielt wurde mit dem Haus von meinem Sohn – aber eben anders als von mir vorausgeplant. Ganz anders bei Janine, die das Puppenhaus fünf Jahre später erspähte: Sie wünschte sich filigrane Möbel, klebte rosa Bilder und Schneewittchenspiegel auf die Tapeten und richtete ein Ankleidezimmer ein. Dass mein Sohn meine Barbiepuppensammlung keines Blickes würdigte, sei hier nur am Rande erwähnt. Janine dagegen konnte sich stundenlang damit vergnügen und verlangte ständig noch mehr Plastikteile hinzu: Kutsche und Pferde, Schuhe und Kleider und, zu guter Letzt: Ken – muskulös wie ein Chippendale.

Hätte ich als Mutter bewusst ihre Wünsche ignorieren sollen? Florian durfte ja auch, als er mit großen Augen die Rennwagen über die Autobahnpiste im Spielzeugladen zischen sah, sich selbige wünschen und damit Wettrennen und Unfall spielen.

Genauso gegensätzlich verlief die weitere Entwicklung der beiden: Mein Sohn verlangte neugierig nach Abenteuer und Nervenkitzel, meine Tochter suchte das Abenteuer eher auf dem Trampolin oder auf einem Pony oder Pferderücken. Florians Berufswunsch war »Sturmjäger«, das sind Meteorologen, die um die Welt reisen, um Orkane und Hurrikans aus nächster Nähe zu beobachten. Janine wollte sich in frühen Jahren nicht wirklich festlegen. Florian riss sich bei Spaziergängen grundsätzlich los und rannte voraus, meine Tochter genoss die schützende Hand.

Mit etwa zwölf Jahren drehte sich das Blatt vorübergehend: Florian begeisterte sich zunehmend für Musik, lernte Keyboard und Klavier spielen, während seine Schwester die Fußballschuhe schnürte und sich wagemutig Wind und Wetter aussetzte, bis ein schmerzlicher Knöchelbruch, hervorgerufen durch ein übles Foul, ihrer jungen Fußballkarriere ein Ende setzte.

Umso spannender war es zu beobachten, wie beide beim Erwachsenwerden wieder alle klassischen Klischees bedienten: Janine ging shoppen, bis die Schränke platzten, und spielte mit ihren weiblichen Reizen. Ihr Bruder dagegen investierte jeden übrigen Cent in technischen Kleinkram für Computer, in die Musikanlage oder sein Handy. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, wie viel Meter Kabel, Buchsen und anderen Technik-Schnickschnack die Seele eines jungen Mannes braucht, um glücklich zu sein. Die Inhalte der verschiedenen angelieferten Pakete überraschten mich immer wieder. Heute arbeitet mein Sohn im internationalen Vertrieb einer Firma für seismografische Geräte und Janine hat sich für Sozialpädagogik entschieden.

Jede Entwicklungsphase der beiden begleitete ich mit Interesse. Ich war mal überrascht, mal zufrieden, mal stolz und gelegentlich auch entsetzt. Niemals jedoch haderte ich mit den verschiedenen Lebenswendungen und Entscheidungen, die sie trafen, denn ich vertrat die Meinung: Jedes Talent hat ein Recht auf Entfaltung. Dabei ist es legitim, über den Gender-Tellerrand zu schauen. Unsere Lebenswelt ist nämlich vielfältig. Um als junger Mensch zu einem klaren Selbstbild und zu Authentizität zu finden, muss man sich erproben dürfen: Was interessiert mich? Was kann ich? Was kann ich nicht? Macht es mir Freude, mit Menschen umzugehen, oder tüftele ich lieber an einem technischen Problem? Fühle ich mich draußen in der Natur am wohlsten oder lieber im asphaltierten Großstadt-Dschungel? Bin ich neugierig oder ängstlich, vorsichtig oder mutig? Brauche ich jemanden in meiner Nähe? Bin ich ein Einzelkämpfer? Habe ich Visionen und möchte sie mit anderen Menschen teilen? Lasse ich mich gern von anderen beeindrucken und folge ihnen nach?

DIE HEUTIGE GLEICHSTELLUNG HAT MIT AUTHENTIZITÄT NICHTS ZU TUN

Authentizität ist der Weg zu sich selbst. Authentisch ist, wer sich selbst lebt. Wir in Mitteleuropa haben das große Glück, in einer Gesellschaft zu leben, die das grundsätzlich ermöglicht. Das Recht auf freie Entfaltung haben wir in unserem Grundgesetz verankert. Werte wie Respekt und Toleranz sind uns – zumindest auf dem Papier – wichtig.

Unverständnis und Wut sind angemessen, wenn man sich zum Beispiel das Schicksal von Malala, dem Mädchen aus Pakistan, vor Augen führt: Ein 15-jähriges Mädchen, dem von Taliban in den Kopf geschossen wurde, weil sie in die Schule gehen und später Ärztin werden wollte. Ein Mädchen, das mutig für sein Recht auf Bildung und Chancengleichheit in ihrem Land einsteht. Ihre Heimat musste sie inzwischen verlassen. Dank des Rückhalts in ihrer Familie, dank eines Vaters, der sie voller Stolz unterstützt und fördert, gelingt es ihr auch weiterhin, sich Gehör zu verschaffen – jedoch aus sicherer Distanz. Sie verfolgt ihre Ziele in Europa und den USA unbeirrt weiter, in der Hoffnung, einen Grundstein in ihrem Heimatland zu legen. Sie hat in Straßburg den Sacharow-Preis des Europaparlaments für Meinungsfreiheit entgegengenommen. Im Oktober 2014 wurde ihr gemeinsam mit Kailash Satyarthi der Friedensnobelpreis zuerkannt, weil sie die furchtbaren Missstände in ihrem Heimatland anprangert, die nicht nur in unserem Kulturkreis untragbar sind. Sie ist die jüngste Preisträgerin in der Geschichte des Nobelpreises. Bei uns darf dagegen jedes Mädchen alles lernen, denn Bildung ist bei uns kein Privileg, Bildung ist ein fundamentales Grundrecht. Wir in Europa und anderen Ländern der westlichen Welt unterrichten koedukativ, das heißt, unser Bildungsplan ist für Jungen und Mädchen gleichermaßen ausgelegt. Es gibt keine Unterschiede bei der Auswahl des Unterrichtsstoffs. Wir nutzen viele verschiedene Methoden, um allen Kindern gerecht zu werden. Aber schöpfen wir wirklich das gesamte Methodenrepertoire aus? Bevorzugen wir eventuell die eine Methode gegenüber der anderen, weil sie uns leichter fällt?

Mich beschäftigt die Beobachtung, dass wir in unserer Gleichstellungseuphorie beginnen, Entwicklungen zu erzwingen, die nicht dem Naturell des Kindes, die nicht dem Naturell von Jungen entsprechen.

WIR LAUFEN GEFAHR, CHANCENGLEICHHEIT MIT GLEICHMACHEREI ZU VERWECHSELN

Oder wie erklärt es sich, dass in einer schwedischen Kindertagesstätte plötzlich nur noch hen anstatt han (»er«) oder hon (»sie«) gesagt wird? Mit welchem Ziel erziehen wir Kinder? Wollen wir Kindern eine Ideologie überstülpen? Oder sie nach unserem Wunschbild gewaltsam formen? Wo hört Erziehung auf und wo fängt Manipulation an? Ab wann beginnen wir, die physische und psychische gesunde Entwicklung des Kindes zu gefährden?

Bereits vor sehr langer Zeit schrieb der arabische Poet Khalil Gibran folgende wunderschöne Zeilen. Gibrans Gedanken sind weise und klingen wie Musik. Sein Gedicht gehört zu meinen Lieblingstexten überhaupt, weil es mich immer wieder zur Besinnung auf das Wesentliche einlädt und den Respekt vor unseren Kindern schärft:

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.

Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,

und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,

denn sie haben eigene Gedanken.

Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen.

Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.

Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,

und Er spannt euch mit seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.

Lasst euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;

Denn so wie Er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

So alt dieses wunderschöne...

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