1 Auf dem Weg zur Medizin der Zukunft
1.1 Die Ärzte – ein widersprüchliches Bild
Fast jeder zweihundertste deutsche Bundesbürger ist Ärztin bzw. Arzt. Die Wahrscheinlichkeit, einem Arzt auf der Straße zu begegnen, ist also relativ hoch. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass Sie einen dieser Ärzte irgendwann brauchen werden. Die meisten von uns haben ein bestimmtes Bild von einem „guten Arzt“ im Kopf. Als Kinder lernen wir den Arzt als Tröster und Heiler kennen. Anfangs waren wir noch ängstlich wegen der ungewohnten Berührungen und der vielen Instrumente. Wir wurden abgehört, abgeklopft und mit Nadeln gepiekst. Doch dann haben wir Vertrauen gefasst, wurden mit bunten Pflastern und Bonbons für unsere Tapferkeit belohnt – und mit einem Rezept sowie der Sicherheit nach Hause geschickt, dass alles wieder gut wird. Später haben erfolgreiche Behandlungen in Familie oder Freundeskreis dieses Vertrauen vielleicht gestärkt und Ihnen gezeigt, was in der Medizin alles möglich ist. Sie haben Ärzte kennengelernt, die sich ganz dem Ziel verschrieben hatten, kranken Menschen zu helfen. Ärzte, deren Engagement Sie vielleicht so beeindruckt hat, dass Sie selbst gern Medizin studieren wollten?
Oder haben Sie eher schlechte Erfahrungen gemacht und ein völlig anderes Bild von einem Arzt im Kopf? Wurden Sie von Praxis zu Praxis geschickt, und kamen Sie sich vor wie eine Nummer unter vielen? Sie haben unzählige Untersuchungen ohne Ergebnis über sich ergehen lassen und wurden wieder nach Hause geschickt, genauso krank und ratlos wie zuvor? Nach solchen Erfahrungen verlieren viele Menschen das Vertrauen in Ärzte, die sich selbst in erster Linie als Techniker und den Körper als Maschine ansehen. Patienten suchen sich Alternativen: Ärzte, die dafür bekannt sind, ihren Patienten zuzuhören und sie ernst zu nehmen – oder solche, die mehr auf alternative Heilmethoden und die Kräfte der Natur bauen. Und wie oft hört man in den Medien von Kunstfehlern und Abrechnungsbetrug – sogar von Ärztestreiks für stolze 30% mehr Lohn. Was soll man da von den Ärzten halten?
Gleichzeitig lassen sich die imponierenden Ergebnisse und immer neuen medizinischen Durchbrüche nicht verleugnen: bessere Früherkennung und genauere Diagnose durch neue bildgebende Verfahren, passgenau zugeschnittene Krebstherapien für jeden Tumor sowie geradezu unbegrenzte Möglichkeiten des Organersatzes mithilfe der Stammzelltechnologie. Die Sachlage scheint eindeutig: Wir brauchen die Medizin – sie soll uns ein gesundes und langes Leben sichern.
Haben Sie es bemerkt? Spätestens nach diesen Überlegungen tragen Sie ein reichlich widersprüchliches Bild vom „guten Arzt“ und von „guter Medizin“ in sich. Einerseits glauben Sie an Ihren Arzt wie damals, als Sie noch ein Kind waren. Andererseits stehen Sie seinen Methoden und Fähigkeiten kritisch gegenüber. Sie sind begeistert vom medizinischen Fortschritt und haben gleichzeitig Angst vor diesen neuen Entwicklungen. Nicht wenige von Ihnen haben sogar schon eine Patientenverfügung geschrieben, um zu verhindern, dass dieser leistungsfähige Gesundheitsapparat Ihnen unnötiges Leid zufügt oder Ihr Leben unnötig verlängert.
1.2 Die Krise in der Medizin
Dieses Buch preist weder die Fertigkeiten und Tugenden des Arztes, noch singt es eine Hymne auf den medizinischen Fortschritt. Auch die guten alten Zeiten, in denen alles viel menschlicher zuging, möchte ich nicht heraufbeschwören. Denn die Medizin und mit ihr der Arzt von heute sind das Ergebnis einer jahrhundertelangen und konsequenten Entwicklung. Man kann „gute Medizin“ nicht rein politisch sicherstellen, ohne auf ihre inhaltlichen und strukturellen Probleme eingehen zu müssen. Die Gesundheitspolitik – in Deutschland wie in Europa – scheint orientierungslos und trägt zur Krise in der Medizin bei. Doch diese Krise kann meiner Ansicht nach nur innerhalb der Medizin selbst überwunden werden.
Von Krisen in der Medizin war in der Vergangenheit schon oft die Rede. Meist stand die technische, organbezogene Schulmedizin, die sogenannte „somatische“ Medizin, in der Kritik. In der Alternative „Kräuter statt Chemie“ sehe ich allerdings keine Lösung – dafür hat die Schulmedizin zu viele Erfolge, die mir im Laufe meiner ärztlichen Tätigkeit eher zu- als abnehmende Bewunderung abverlangen. Nehmen Sie nur mein eigenes Forschungsgebiet, die Infektionen der Bronchien und der Lunge: Hier gibt es an der Methodik der Somatik prinzipiell nichts auszusetzen – wir sollten ihre Erfolge, wie z.B. die antiinfektive Therapie durch Antibiotika sowie die Entwicklung von Impfungen, dankbar annehmen.
Was aber nicht heißt, dass es hier nichts zu kritisieren gäbe. Doch jede Kritik muss die Stärke der somatischen Medizin berücksichtigen: das methodische Prinzip, nach dem auf naturwissenschaftlicher Basis Hypothesen erarbeitet werden, die einer objektiven Überprüfung auf biometrischer (mathematisch-statistischer) Basis standhalten. Erst wenn man diese Stärke anerkennt, offenbaren sich auch die Schwächen und Sackgassen einer Medizin, die diese Methode verabsolutiert.
Und was ist denn falsch an der Alternativmedizin? Sie ist sicherlich kritisch zu betrachten, wenn sie unerfüllbare Erwartungen weckt, die evtl. zu tragischen Versäumnissen in der Behandlung führen. Die Grenze zur Quacksalberei ist hier leider schnell überschritten. Und genau deshalb, weil sie Wissenschaftlichkeit vortäuscht, theoretisch aber auf mythischem Gedankengut basiert, bleiben die Vorbehalte gegenüber der Alternativmedizin bestehen. Um sie adäquat beurteilen zu können, müsste man ihr eine wohl definierte Stellung innerhalb der medizinischen Entwürfe einräumen.
Heute möchte kaum einer mehr dieses mythische Denken vertreten – das ich für eine legitime Art der Weltsicht halte, die trotz fortschreitender technischer Entwicklung nicht einfach abstirbt. Es zeugt von typisch rationalistischer Überheblichkeit, wenn man Patienten, die einen Heilpraktiker aufsuchen, hinter vorgehaltener Hand als dumm klassifiziert. Anstatt ein mythisches Denken zu verleugnen, müsste man es für die Medizin nutzbar machen. Das wäre eine Aufgabe der Alternativmedizin, die sich hierfür allerdings erst einmal selbst richtig verstehen müsste – doch dazu später mehr.
Die Medizin kann nicht mehr sicher sagen, was sie ist. Der Arzt weiß nicht mehr, was „gut“ an ihm bzw. seiner Tätigkeit ist. Beide, Medizin und ärztliches Selbstverständnis, stecken in einer Krise. Die meisten Ärzte beginnen ihr Medizinstudium mit dem Wunsch, Menschen zu helfen. Sie erkennen jedoch bald, dass allein die naturwissenschaftliche Methodik die Grundlage der ärztlichen Praxis bildet. Lehrveranstaltungen zu den „menschlichen“ Aspekten, dem Arztgespräch, der ärztlichen Begleitung von Kranken und Sterbenden sowie zum Verhalten in ethischen Konfliktsituationen haben einen zu geringen Stellenwert. Das Hauptaugenmerk liegt auch in der späteren Facharztbildung darauf, die Standards und technischen Eingriffe des jeweiligen Fachgebiets zu beherrschen. Es stellt sich die Frage: Wenn jeder Patient nach technisch vorgegebenen Standards behandelt wird – könnten diese nicht auch von Nichtmedizinern ausgeführt werden? Der Arzt schafft sich sozusagen selbst ab, im Vordergrund steht die rationell und kaufmännisch orientierte Organisation medizinischer Leistungen. Man darf sich nicht täuschen: diese Entwicklungen sind bereits in vollem Gange.
1.3 Was will der Patient?
Die Patienten verwandeln sich zunehmend in Kunden. Nicht jeder wird das als unangenehm empfinden, so mancher erhofft sich davon kürzere Wartezeiten, eine zügigere Bewältigung des Untersuchungsprogramms oder die Anwendung der besten Behandlungstechniken. Die ökonomische Rationalität...