2 Kann man ohne Sprache sein Einverständnis erklären? Forschung an Nichteinwilligungsfähigen
Markus Frings
2.1 Schlaganfallstudien
Es war ein wunderschöner Spätsommertag. Dr. Jung konnte leider noch nicht Feierabend machen, da er heute Bereitschaftsdienst in der neurologischen Klinik hatte. Damit lag noch einiges vor ihm. Er war auf dem Weg auf die Schlaganfallstation zur Übergabe, um über die Patienten dieser Station für seine Dienstzeit informiert zu sein. Doch als er dort ankam, wurde er sofort in die Notaufnahme weitergeschickt. Es war gerade ein Patient mit einem frischen Schlaganfall angekommen, und als Diensthabender musste er sich jetzt direkt darum kümmern. Eine Übergabe war sowieso nicht möglich, weil der Stationsarzt mit einem anderen Patienten beschäftigt war, der wenige Minuten zuvor gekommen war. Das waren die besten Dienste: keine geregelte Übergabe, nur spärliche Informationen, die man sich später zusammenklauben musste und keine Möglichkeit, sich kurz mit Kollegen zu unterhalten.
In der Notaufnahme wusste Dr. Jung sofort, dass es jetzt sehr schnell gehen musste: Der Notarzt teilte ihm mit, dass der siebzig Jahre alte Herr Weber vor etwa einer halben Stunde bei der Gartenarbeit plötzlich zusammengesackt sei. Seine rechte Körperhälfte war gelähmt und er konnte nicht mehr richtig sprechen. Der Freund, in dessen Garten der alte Herr mitgeholfen hatte, hatte sofort die Feuerwehr verständigt, die ihn in Rekordzeit in die Klinik gebracht hatte. Ein typischer Fall für die sogenannte Lysetherapie: Wenn bei einem Schlaganfall ein Gefäß verschlossen ist, kann man mit einer Infusion des stark blutverdünnenden Medikamentes rtPA versuchen, dieses Gefäß wieder zu eröffnen. Der Erfolg dieser Maßnahme ist umso höher, je schneller das Medikament gegeben wird. Dauert es länger als 4,5 Stunden, überwiegt das Risiko einer Einblutung in den Infarkt den möglichen Nutzen. Weil man aber aufgrund der klinischen Symptome nicht unterscheiden kann, ob es sich um einen Gefäßverschluss mit einer Durchblutungsstörung handelt oder von Beginn an eine Einblutung in das Gehirn die Ursache ist, muss eine Computertomografie durchgeführt werden.
Dr. Jung konnte den klinischen Befund des Notarztes bestätigen. Herr Weber sprach unzusammenhängend, vertauschte Worte und Silben und verstand keine Aufforderungen: eine Aphasie infolge einer Störung des Sprachzentrums, das sich in der linken Gehirnhälfte befindet. Aufgrund der spontanen Bewegungen und anhand dessen, wie Herr Weber auf leichtes Kneifen reagierte, erkannte Dr. Jung, dass der rechte Arm und das rechte Bein weniger beweglich waren als die linke Körperhälfte. Dr. Jung nahm dem Patienten Blut ab, um auszuschließen, dass er eine Gerinnungsstörung hatte, und schob zusammen mit dem Krankenpfleger das Bett des Patienten zu dem Raum, in dem das Computertomografie-Gerät stand.
Während der Untersuchung hatte er kurz Zeit, mit dem Bekannten von Herrn Weber zu sprechen. Dieser war zum Glück dem Krankenwagen in die Klinik gefolgt und konnte nun hoffentlich Genaueres über die Begleitumstände berichten: Herr Weber und er hatten sich wohl beim Tragen schwerer Platten etwas zu sehr angestrengt. Plötzlich sei Herr Weber zusammengesackt, auf den Rasen gefallen und habe nur noch Kauderwelsch gesprochen. Über Vorerkrankungen wusste der Bekannte nicht viel, nur dass Herr Weber unter erhöhtem Blutdruck litt und von Sport und gesunder Ernährung nicht so viel hielt. Er habe schon versucht, Herrn Webers Ehefrau zu erreichen, aber bisher sei sie nicht ans Telefon gegangen.
Mit diesen spärlichen Informationen wandte sich der Neurologe wieder dem Patienten zu. Der Kollege der Radiologie erwartete ihn bereits, um ihm die Aufnahmen zu zeigen. Es war eine primäre Einblutung in die sogenannten Stammganglien und das umliegende Hirngewebe zu sehen. Mit größter Wahrscheinlichkeit war diese Blutung durch den hohen Blutdruck bedingt. Den musste Dr. Jung nun als Erstes senken, weil der Monitor einen deutlich erhöhten Wert zeigte. Bei einer Blutung kam eine Behandlung mittels Lysetherapie allerdings nicht in Frage. Die Neurochirurgen, mit denen Dr. Jung die Aufnahmen besprach, sahen zudem keinen Grund für eine Operation. Somit bestand für Herrn Weber keine Therapieoption bis auf die Kontrolle des Blutdrucks und die Behandlung möglicher Komplikationen.
Als Dr. Jung seinen Oberarzt am Telefon über den neuen Patienten informierte, schlug dieser vor, zu prüfen, ob Herr Weber nicht an einer Studie teilnehmen konnte, die gerade in der Klinik durchgeführt wurde. Im Rahmen dieser Studie erhielten Patienten innerhalb weniger Stunden nach Auftreten der Blutung ein Medikament, das – anders als die Lysetherapie – für eine verstärkte Blutgerinnung sorgte und damit eine Ausdehnung der Blutung verhindern sollte. Dr. Jung überprüfte alle Ein- und Ausschlusskriterien und fand nichts, was gegen eine Studienteilnahme sprach. Das einzige, was ein Hindernis darstellte, war die fehlende Einwilligungsfähigkeit aufgrund der Aphasie. Das Sprachverständnis und auch die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, waren bei Herrn Weber so massiv beeinträchtigt, dass auch die Vermittlung einfachster Zusammenhänge nicht möglich war. Dr. Jung besprach das alles erneut mit seinem Oberarzt. Dieser meinte jedoch, es gebe da durchaus die Möglichkeit, dass ein Patient mit einer Aphasie an dieser Studie teilnehme. Das Ganze sei zwar juristisch und auch praktisch sehr kompliziert und aufwendig, aber durchaus so vorgesehen.
Patienten mit einem Schlaganfall in der rechten Gehirnhälfte kann man in der Regel fragen, ob sie bereit sind, an einer Studie teilzunehmen. Bei einer Beeinträchtigung des Sprachzentrums in der linken Gehirnhälfte ist das nicht möglich, wenn die Sprachstörung sehr ausgeprägt ist. Der Einschluss dieser nicht einwilligungsfähigen Patienten ist aber nicht nur im Studienprotokoll geregelt, sondern auch von der Ethikkommission bewilligt. Voraussetzung ist, dass ein gesetzlicher Vertreter, ein sogenannter Betreuer, für den Patienten die Entscheidung über die Studienteilnahme trifft. Nun kommt ein Schlaganfall aber meist plötzlich, und ebenso unerwartet tritt die Situation der Nichteinwilligungsfähigkeit ein, weshalb die Betroffenen in der Regel keinen gesetzlichen Betreuer haben. Die Einsetzung eines solchen erfordert eine richterliche Anhörung des Patienten und ein schriftliches ärztliches Gutachten, sodass einige Wochen bis zum Inkrafttreten vergehen. Eine Eilbetreuung kann innerhalb von 24 Stunden über ein Vormundschaftsgericht veranlasst werden. Dafür besucht eine Richterin oder ein Richter den Patienten, entscheidet mit Unterstützung eines fachkundigen Arztes über die Notwendigkeit der Betreuung und benennt einen Betreuer. Das kann ein Verwandter sein oder ein Berufsbetreuer.
Weil im vorliegenden Fall aber das Medikament, um das es in dieser Studie ging, innerhalb weniger Stunden verabreicht werden musste, war dies kein gangbarer Weg. Deshalb war bereits in der Vorbereitungsphase dieser Studie ein Richter des zuständigen Vormundschaftsgerichtes ausführlich informiert worden. Der Oberarzt wollte sich zunächst selbst ein Bild von der Situation des Patienten machen und dann mit dem Richter Kontakt aufnehmen. Der müsste sofort per richterlichen Entscheid anstelle eines Betreuers darin einwilligen, dass der Patient an der Studie teilnimmt. Danach würde ein reguläres Eilbetreuungsverfahren in die Wege geleitet. Der darin benannte gesetzliche Betreuer müsste ebenfalls über die Studie informiert werden und über die weitere Teilnahme entscheiden. Das Medikament wäre dann aber natürlich schon längst über die Infusion verabreicht.
Es gibt auch besonders eilige Fälle, in denen ein Richter nicht so schnell erreichbar ist, zum Beispiel in der Nacht. Bei einigen Studien wird in dieser Situation ein unabhängiger Arzt um eine Unterschrift gebeten. Dieser ist häufig in einer der Nachbardisziplinen tätig, beispielsweise in der Neurochirurgie, da er über die nötige Fachkenntnis verfügen sollte. Dieser Arzt muss bestätigen, dass er selbst nicht an der Studie beteiligt ist und dass er glaubt, im Sinne des Patienten zu handeln, wenn er der Teilnahme an der Studie zustimmt. Sobald das geschehen ist, muss allerdings auch in diesem Fall mit dem Richter Kontakt aufgenommen werden, um so schnell als möglich eine Betreuung einzurichten.
Dr. Jung sah das Vorgehen kritisch. Sein Oberarzt erklärte ihm jedoch, dass der Patient durchaus eine Chance habe, von der Therapie zu profitieren. Allerdings könne es sein, dass Herr Weber in die Placebo-Gruppe kam, deren Patienten in der Infusion gar keine wirksame Substanz erhalten. Aber auch eine Placebo-Infusion sei gut vertretbar, erklärte der Oberarzt, weil die Wirksamkeit des Medikamentes noch nicht bekannt sei und es keine bereits etablierten Therapien als Alternative gäbe, die dem Patient durch die Placebo-Gabe vorenthalten würden. Das Risiko, durch die Substanz eine Thrombose, also den Verschluss eines Blutgefäßes, zu erleiden, sei in den bisherigen Studien, in denen das Medikament untersucht wurde, nicht relevant erhöht gewesen. Dr. Jung musste...