Reflexion und Erinnerung
Zur Regeneration der
authentischen Kritischen Theorie
1999 entzündete das Stichwort »Kritische Theorie« wieder einmal die deutsche Medienlandschaft. Die Zeit, das Wochenblatt des aussterbenden deutschen Bildungsbürgertums, hatte einen Konfliktstoff gefunden, der dann als soap opera für Intellektuelle ein paar Wochen durch die Gazetten und Leserbriefspalten geisterte. Ein bis dahin relativ wenig beachteter philosophischer Außenseiter hatte an einem schönen Alpenort mit brauner Vergangenheit einige ziemlich schräge Thesen zu Soziobiologie, Gentechnik und Humanismus, die von ihm mit Heidegger-Zitaten bedeutungsschwer gemacht worden waren, vorgetragen. Ein Journalist, der früher jahrelang Habermas-Colloquien in Frankfurt besucht hatte, skandalisierte nach einigem Vorlauf in der linksliberalen Tagespresse in der Zeit diesen Vortrag als »Zarathustra-Projekt«. Der Angegriffene, dessen Namen Peter Sloterdijk bis dahin nur eingeweihte Fachrezensenten buchstabieren konnten, stilisierte sich nun als Opfer einer mächtigen Verschwörung Frankfurter Intellektueller. Wieder einmal hatten die deutschen Feuilletons ihre Debatte – das Ziel aller printmedialen Publizistik seit dem so genannten Historikerstreit 1986, der dem traditionellen Feuilleton, diesem publizistischen Nebenkriegsschauplatz, eine neue massenmediale Funktion und den Intellektuellen einen neuen Arbeitsplatz gegeben hatte.
Das neue deutsche Feuilleton hat den Typus des Debattenschreibers hervorgebracht, den Spezialisten für das Allgemeine, der Publizistik und Wissenschaft, Reflexion und Meinung miteinander verschmilzt. Als Inkorporation dieses Debattenintellektuellen gilt Jürgen Habermas, der in der Öffentlichkeit all das verkörpert, was sie sich unter »Kritischer Theorie« und »Frankfurter Schule« vorstellt. Die schon erwähnte Wochenzeitung Die Zeit ließ zum Beispiel in der Woche der ersten NATO-Luftschläge gegen Rest-Jugoslawien Jürgen Habermas auf ihrer Seite eins begründen, warum diese Politik des Westens und der Bundesregierung notwendig sei. Die seit dem Historikerstreit, in dem Jürgen Habermas ein vehementer Ankläger einer »Entsorgung der Vergangenheit« war, durch Wiederholung befestigte Amalgamierung von öffentlicher Intellektuellenrolle und Kritischer Theorie nährt den Mythos von der Macht der Kritischen Theorie, der selbst schon Züge eines sekundären Antisemitismus trägt.
Pünktlich zur letzten Buchmesse, dem Jahrestreff der intellektuellen Öffentlichkeit in Deutschland, präsentierten nahezu alle wichtigen Zeitungen der Bundesrepublik ihre Buchbeilagen mit der Besprechung eines monumentalen Werkes mit dem merkwürdigen Titel: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Aufgestellt und auf über sechshundert Seiten belegt werden soll die These, die Begründer der Kritischen Theorie, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, würden in der »Staatskultur der Bundesrepublik einen ähnlichen Platz einnehmen wie einst die Dichter und Denker der deutschen Klassik«1. Wer die fünfzigjährige Geschichte der Bundesrepublik bewusst erlebt hat, kann angesichts solcher Behauptungen nur den Kopf schütteln. Bis heute fordert Adornos meist- – und fast genauso oft falsch oder verkürzt – zitiertes Diktum, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben« sei »barbarisch«, die Distanzierungswut nahezu des gesamten Literaturbetriebs heraus.
Warum eigentlich? Kultur wurde nach 1945 in Westdeutschland als eine Art Ersatzreligion missbraucht, die in der Ära des Kalten Krieges ein bruchloses Anknüpfen an scheinbar unbeschädigte vornationalsozialistische deutsche Traditionen ermöglichen sollte. Adornos zitierte Reflexion aus dem Jahre 1949 traf diese »Kunstreligion«, die die Erinnerung der Vergangenheit verfälscht und die Wahrnehmung der Gegenwart verzerrt, mitten in ihr ideologisches Herz.
Die in ganz Westeuropa nach 1945 gepflegte Kulturideologie zeigte nicht nur antiintellektuelle, sondern auch antiamerikanische Aspekte. In der Person Adornos, der im »Hause des Henkers« nicht aufhörte, »vom Strick zu reden«2, verschränkten sich diese Aspekte des sekundären Antisemitismus mit den genuinen Ressentiments gegen den zurückgekehrten jüdischen Emigranten, den Adorno exemplarisch verkörperte. Gegen Adornos Beschäftigung an der Frankfurter Universität, der er zu neuem internationalen Renommee verhalf, gab es zeitlebens erhebliche Widerstände; nur der Intervention des antifaschistischen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Zinn ist es zu verdanken, dass Adorno überhaupt eine prominente universitäre Position in den fünfziger Jahren einnehmen konnte. Die Kritische Theorie, die von Horkheimer, Pollock und Adorno aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückgebracht worden war, wurde als Finger in der Wunde deutscher Kontinuitätsbedürfnisse empfunden. Von ihren Feinden wurden die Emigranten als Hilfsangestellte der Alliierten diffamiert, ihre Theorie als etwas Fremdes, von außen Kommendes hingestellt.
Dieses reaktionäre Motiv drückte sich auch im Widerstand gegen die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit aus. Die Formulierung von der »verordneten Vergangenheitsbewältigung« stammt aus jenen Tagen. Im 1999 erschienenen voluminösen Werk über die »Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule« taucht diese Parole als entscheidendes Stichwort wieder auf. Diese letzten Ressentiments des deutschen Bildungsbürgertums lassen sich offensichtlich heute von den Rezensenten nahezu unbemerkt artikulieren, wenn es darum geht, Geschichte umzuschreiben. Der 1994 verstorbene Stichwortgeber Friedrich H. Tenbruck, der noch im Schatten von Horkheimers Autorität Karriere gemacht hat, schildert die »verordnete Vergangenheitsbewältigung« als kurzsichtige Politik der Alliierten, die der deutschen Jugend das Mandat »zur uneinsichtigen Aufdeckung von früheren Verstrickungen« gegeben habe. Mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der fünfziger und sechziger Jahre, die inzwischen gut dokumentiert ist, hat diese Darstellung wenig zu tun – mehr allerdings mit der gesellschaftlichen Realität Deutschlands nach dem Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus«.
1998 hatte sich der deutsche Schriftsteller Martin Walser für den international angesehenen »Friedenspreis des Deutschen Buchhandels« mit einer Rede bedankt, die sich vehement gegen die angebliche »Instrumentalisierung der Vergangenheit« zur Wehr setzte. Von den am symbolischen Ort der Demokratie, der Frankfurter Paulskirche, versammelten Honoratioren wurde Walser mit standing ovations versehen; nur der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, hatte den Mut, in diese Jubelstimmung hinein zu bemerken, dass von Walser ganz bedenkliche Töne angeschlagen worden waren. Dem aufmerksamen Walserleser waren dessen Ressentiments nichts Neues: Pikanterweise hatte sich Walser schon 1979 in den von Jürgen Habermas herausgegebenen Bänden Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹ als Erzfeind der Kritischen Theorie im Namen des Volkes geoutet; bei Walser heißt es mit heftigem Affekt gegen Adorno: »Schlimmer als der geschmähte Jargon der Eigentlichkeit kommt mir der Jargon vor, in dem da geschmäht wurde«3. Walser versuchte schon damals, die Kategorie des Volkes zu rehabilitieren, indem er sich als unverstandener Prophet einer deutschen Wiedervereinigung ausgab. Nach 1989 fühlte er seine Stunde dann gekommen und wurde zum Lieblingsdichter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die gerne das Volk zur Delegitimierung der Intellektuellen ins Feld führt.
Im meinungsbildenden Feuilleton der FAZ wurde nach 1989 ein neues deutsches Geschichtsbild propagiert, das von den linksliberalen Übertreibungen der alten Bonner Republik verschont sein sollte. Etabliert werden sollte eine neue deutsche Nation, die jedoch ohne die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit nicht zu haben ist. Schon in der Ära des Bundeskanzlers Kohl wurde eine neue »Vergangenheitspolitik« befestigt, die am besten in der Berliner Neuen Wache zu sehen ist. In schöner Ausgewogenheit wird allen Opfern der deutschen Geschichte gedacht. Der Opferbegriff wird so weit gefasst, dass auch die gefallenen Wehrmachts-Soldaten in den von den Nazis besetzten Ländern unter diese Kategorie passen. Der einstige amerikanische Präsident Reagan ist schon 1985 in Bitburg selbst Opfer dieser Kohlschen »Versöhnungspolitik« geworden, als er zum Händeschütteln an den Gräbern von Waffen-SS-Männern sich nötigen ließ. Der in der FAZ nach 1989 ausgerufene neue deutsche Patriotismus, der inzwischen die gesamte Öffentlichkeit erfasst hat, ist grundiert mit den vorangegangenen Zweideutigkeiten, die sich immer aufs Neue abrufen lassen. Die deutsche Öffentlichkeit liebt es, sich wegen dieser angeblichen »Streitkultur« selbst zu belobigen. Die Stichworte heißen Goldhagen, Wehrmachtsausstellung, Mahnmaldebatte und Walserstreit. Als Auslöser dieser Debatten beschuldigt man nicht mehr böse Drahtzieher aus dem ehemals kommunistischen Osten, sondern jetzt wieder das so genannte »Ausland« – gemeint sind vor allem die USA und Israel –, mit...