Fanpost an die Autorin
In den Siebzigerjahren hatten die Beamten des Postamts an der Ecke Dalagatan und Odengatan in Stockholm immer mehr zu tun. Es lag an einer älteren Dame, die vielen älteren Damen glich, denen man im Stadtteil Vasastan auf der Straße, im Park, im Lebensmittelgeschäft oder in einer der Konditoreien begegnete. Über Jahre hinweg war täglich eine Handvoll Briefe durch den Briefschlitz dieser älteren Dame gefallen, doch als sie 1977, 1987 und 1997 runde Geburtstage feierte, mussten die Postboten an der Tür der Dalagatan 46 klingeln, um säckeweise Post mit Marken aus aller Welt abzuliefern. Waren die vielen Sendungen gelesen und beantwortet, wurden sie in Pappkartons auf dem Dachboden aufbewahrt. Sie enthielten nicht nur Glückwünsche und bunte Kinderzeichnungen, sondern auch Grüße von Staatsmännern und königlichen Hoheiten sowie Briefe von Menschen, die ein Autogramm wollten oder aber um Geld oder moralische Unterstützung in irgendeiner politischen Sache baten.
Die meisten Menschen allerdings, die sich an die am 14. November 1907 geborene Astrid Lindgren wandten, wollten vor allem ihre Begeisterung und Bewunderung ausdrücken. Häufig nutzten sie die Gelegenheit, der Autorin die eine oder andere Frage zu stellen. Und nicht immer waren diese Fragen so unschuldig wie die einer schwedischen Kindergartengruppe, die wissen wollte, ob Pferde wirklich Eis essen, oder die der neunjährigen Kristina aus Järfälla, die um eine Erklärung bat, wie Pippis Vater in der Fernsehserie eine Flaschenpost versenden konnte, obwohl er im Gefängnis saß. In den Postbergen fanden sich auch pfiffige Fragen von Erwachsenen: So bat der Klempner Karlsson aus Kalmar um die Erlaubnis, seine Firma »Karlsson vom Dach« nennen zu dürfen; ein Waldbesitzer aus Jämtland erkundigte sich, ob die naturbegeisterte Autorin Interesse an ein paar Hektar Nadelwald habe; und ein Mann, der eine Gefängnisstrafe wegen Mordes an seiner Ehefrau verbüßte, wollte wissen, ob Astrid Lindgren sich vorstellen könne, ein Buch über sein Leben zu schreiben.
Da Astrid Lindgren Mitte der Achtzigerjahre immer schlechter sah und Hilfe brauchte, um die vielen Briefe zu lesen, die täglich eintrafen, wurde sie nicht nur von ihrer Privatsekretärin Kerstin Kvint, sondern auch von ihrer Tochter Karin Nyman (links) unterstützt.
© Erwin Neu
Nicht wenige der fünfundsiebzigtausend Briefe, die die populäre Schriftstellerin bis zu ihrem Tod im Januar 2002 erhielt und die heute im Astrid-Lindgren-Archiv der Königlichen Bibliothek in Stockholm aufbewahrt werden, waren persönlicher Natur. Wenn es um Pippis und Michels Mutter ging, gab es offensichtlich keine Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem, die man hätte respektieren müssen. Im Alter galt Astrid Lindgren als »klok gumma«, als die kluge Alte des Nordens – eine Seelsorgerin, die man bei allen Problemen des Lebens um Rat fragen konnte. So gab es unter den Briefschreibern eine Frau, die »Astrid« darum bat, in einem erbitterten Nachbarschaftsstreit zu vermitteln, eine andere Ratsuchende erkundigte sich, wie sie mit ihrer schwierigen alten Mutter umgehen solle, und eine dritte Schreiberin belästigte die wohlhabende Kinderbuchautorin vierzehn Jahre lang mit Bettelbriefen. Insgesamt zweiundsiebzig dieser Briefe sind erhalten, und sie alle enthalten Ersuchen um finanzielle Unterstützung für eine Brille, eine Autoreparatur, Klempnerrechnungen, Spielschulden und andere Dinge. Aus Österreich fragte ein Mann an, ob Pippis Mutter ihm einen größeren Geldbetrag für seine Traumvilla Kunterbunt schenken könne. Aus Dänemark kamen vierzig Jahre lang zu Weihnachten Briefe von einem Vater, der in allen Einzelheiten von seiner Familie erzählte und immer daran dachte, etwas vom Selbstgebackenen der Kinder beizulegen. Und aus dem Stockholmer Vorort Hässelby wurde Astrid Lindgren mit Heiratsanträgen regelrecht bombardiert. Sie stammten von einem älteren Herrn, der seine Fühler erst einzog, als der Verlag der verwitweten Astrid Lindgren sich einmischte und dem hartnäckigen Freier mit einer polizeilichen Verwarnung drohte.
Die Fanpost nimmt im Archiv der Königlichen Bibliothek den größten Raum ein und ist ein Beleg für die kolossale Bedeutung von Astrid Lindgrens Werk – als Bücher, Filme oder Fernsehserien. Seit Erscheinen der epochalen Pippi-Bücher in den Vierzigerjahren nahmen die Briefe beständig zu. Der fleißigen Autorin , die ihre eigenen Bücher morgens und im Urlaub schrieb, jeden Nachmittag als Lektorin im Verlag Rabén & Sjögren arbeitete und abends die Manuskripte anderer Autoren las, waren sie schon um 1960 durchaus zur Last geworden. Doch erst in den Siebzigerjahren, nachdem Astrid Lindgren sich als Lektorin zur Ruhe gesetzt hatte, schwoll die Post geradezu lawinenartig an, sodass die Schriftstellerin in den Achtzigerjahren eine Sekretärin, Kerstin Kvint, einstellen musste, um die Korrespondenz bewältigen zu können.
Der Grund dafür waren drei Ereignisse: Das Erscheinen des Romans Die Brüder Löwenherz (1973), der sogenannte Pomperipossa-Fall (1976), bei dem Astrid Lindgren gegen die schwedische Steuerpolitik protestierte, und der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1978), als die Pazifistin Astrid Lindgren mitten in der Phase der Abrüstung ihre Dankesrede mit der Erklärung begann, dass der Kampf um einen dauerhaften Frieden in der Welt in den Kinderzimmern anfange, nämlich mit der Erziehung der künftigen Generation.
Karin Nyman, die Tochter von Astrid und Sture Lindgren, die im Mai 1934 in Stockholm geboren wurde, war ein halbes Jahrhundert Zeugin des wachsenden Kults um das Werk und die Person ihrer Mutter. Sie erzählt, dass Männer und Frauen jeglichen Alters Astrid Lindgren nicht nur schrieben, sondern auch anriefen oder an die Haustür in der Dalagatan klopften. Häufig nur mit dem Wunsch, die Hand der Schriftstellerin zu schütteln und ihre Dankbarkeit für die Freude und den Trost auszudrücken, den sie in der Fantasiewelt ihrer Bücher gefunden hatten. Außerdem schrieben viele junge Menschen aus dem Ausland und baten Astrid Lindgren um ihre Hilfe: »Es waren unglückliche Kinder und Jugendliche aus Deutschland«, so Karin Nyman, »die in das Schweden ziehen wollten, von dem sie in ihren Büchern gelesen hatten. Nach Bullerbü oder Saltkrokan. Für Astrid war das ein Problem, denn sie wollte die Dinge immer aufs Beste für die Menschen regeln, denen es nicht gut ging, und hier konnte sie nichts tun.«
Ein gescheitertes Familienleben, fehlende Fürsorge oder ein zu großer emotionaler Abstand zwischen Eltern und Kindern waren häufig die Gründe für den verzweifelten Brief eines jungen Menschen. Im Jahr 1974 wandte sich beispielsweise ein unglückliches Mädchen an Astrid Lindgren. Inspiriert von ihren Büchern hatte sie Schwedisch gelernt und erzählte nun von ihrem Vater, der die Familie tyrannisierte und sogar seine Liebhaberin zu Hause wohnen ließ. Astrid fiel es schwer, diesen Brief zu vergessen, und sie berichtete einem schwedischen Jugendlichen davon, dem es vermutlich half, dass eine Gleichaltrige in einem anderen Land ebenfalls Probleme hatte. Die sechsundsechzigjährige Astrid Lindgren schrieb:
»… es gibt offenbar niemanden im ganzen deutschen Reich, an den sie sich wenden kann. Eigentlich hat sie keine Lust zu leben, sie weiß nicht, was sie will, sie versucht mal dies, mal das und ist es nach kurzer Zeit leid. (…) Das Mädchen hat bestimmt gewaltige psychische Probleme, aber ich verstehe es nicht ganz, und ich kann ihr ja auch nicht helfen. (…) Ja, mein Gott, es gibt so viel Elend.«
»Sie, meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin verliehen, und da werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lösung internationaler Probleme erwarten. Ich möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen«, sagt Astrid Lindgren, als sie im Oktober 1978 in Frankfurt a. M. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird und eine Rede über die Abrüstung im Familienleben hält.
© Isolde Ohlbaum
In anderen Briefen – im Archiv liegen dreißig- bis fünfunddreißigtausend Schreiben von Kindern und Jugendlichen aus fünfzig Ländern – wurde nach der Fortsetzung eines bestimmten Buches gefragt, man wollte wissen, wie man überhaupt ein Buch verfasst, oder bat »Tante Astrid«, beim Vorsprechen am Theater oder bei einem Film-Casting behilflich zu sein. Der Wunsch, ein Star in der Verfilmung eines Werkes von Astrid Lindgren zu werden, wurde auch in einem besonderen Brief geäußert, der im Frühjahr 1971 durch den Briefschlitz in der Dalagatan fiel. Verfasst hatte ihn die zwölfjährige Sara Ljungcrantz aus Småland, und ganz oben auf der ersten Seite dieses Schreibens mit mehreren unterschiedlichen Handschriften und einer Unmenge Ausrufezeichen stand: »Willst Du mich GLÜCKLICH machen?«
Diese Frage leitete einen langen Briefwechsel zwischen der weltberühmten Schriftstellerin, die den aufziehenden Herbst ihrer Karriere erlebte, und einem entwurzelten und nachdenklichen schwedischen Mädchen ein, das sich in vielerlei Hinsicht vom Leben ausgeschlossen fühlte und mit ihrer Situation als Jugendliche nicht zurechtkam. Zu Beginn dieser Korrespondenz, die unter dem Titel Dina brev lägger jag under madrassen (Deine Briefe lege ich unter die Matratze) erschienen ist, liest man, dass Astrid Lindgren dem Mädchen gern helfen wollte. Allerdings hatte die dreiundsechzigjährige Autorin den Wunsch, sich die temperamentvolle Sara Ljungcrantz zunächst etwas genauer anzusehen. Denn ihr erster...