Einführung
ALS ANGEHÖRIGE DER US-LUFTWAFFE am 5. August 1945 die Atombombe »Little Boy« auf eine B-29 verluden, setzten bei Mary Buneman, einer im kalifornischen Berkeley lebenden jungen Britin, die Wehen ein. Auf der Pazifikinsel Tinian, wo die Maschine beladen wurde, fand gerade ein Softball-Spiel statt; der Pilot, Oberstleutnant Paul W. Tibbets, schrieb etwas auf ein Stück Papier, rief einen Schildermaler vom Spielfeld und bat ihn, »›das da‹ auf die Einsatzmaschine zu pinseln, und zwar hübsch groß«. Daraufhin malte dieser mit dicken Lettern »Enola Gay« auf die stumpfe Nase des Flugzeugs, leicht versetzt direkt unterhalb des Cockpits. Wie immer vor gefährlichen Einsätzen hatte Tibbets sich die Worte seiner Mutter in Erinnerung gerufen: Er müsse nicht befürchten, wegen des heftigen Streits mit dem Vater über seine Berufswahl beim Fliegen umzukommen. Der Name seiner Mutter war Enola Gay.1
Die Besatzung der Enola Gay kam in jener Nacht ebenso wenig zur Ruhe wie Mary Buneman im Berkeley General Hospital. Tibbets und seine Crew traten den gut zweitausend Kilometer langen Flug nach Japan bereits um 2:45 Uhr in der Frühe an. Während ihre Maschine mit Little Boy an Bord im Dunkeln einem Einsatz entgegenflog, dem sofort mehr als siebzigtausend Menschen zum Opfer fallen würden, gebar Mary in Berkeley, wo es noch Sonntagnachmittag war, ihren zweiten Sohn. »Nichts hätte da meinen Gedanken ferner liegen können als das Datum und die Ortszeit in Japan«, bekannte sie später in ihrem Tagebuch.2
Die noch nicht fünfundzwanzigjährige Mary Buneman [ausgesprochen Bune-a-man] lebte schon seit 1943, als ihr Mann Oscar »im gedämpften Ton eines tödlichen Geheimnisses« davon erzählt hatte, mit dem Wissen um das Bombenprojekt. Wenig später sollte das Paar mit dem ersten Sohn aus England in die Vereinigten Staaten umsiedeln, da man den Mathematiker und Physiker Oscar Buneman in Berkeley brauchte – für die Urananreicherung, für die Herstellung des bombentauglichen Materials für den Kern von »Little Boy«.
Die Bombe wurde in 9600 Metern Höhe ausgeklinkt und explodierte 580 Meter über Hiroshima, etwas nordwestlich vom Stadtzentrum. Eine neunzehnjährige Überlebende berichtete später von einer grausigen Szene in der Nähe eines Parks. Sie kam an »einem Haufen verbrannter Körper in einem Wassertank« vorbei, als sie plötzlich ein furchtbarer Anblick entsetzte: »Da stand die verkohlte Leiche einer Frau, im Gehen erstarrt, ein Bein angehoben, ihr Baby fest im Arm.«3
Am 9. August folgte der Abwurf von »Fat Man« über Nagasaki und forderte mindestens weitere vierzigtausend Menschenleben. Im Lauf der nächsten fünf Jahre stieg die Gesamtzahl der Opfer beider Atombomben auf mehr als zweihundertfünfzigtausend an.4
Im Krankenhaus von Berkeley trafen – neben den erschreckenden Nachrichten aus Japan – Blumen und Geschenke ein. Mary teilte sich ihr Zimmer mit einer Venezolanerin namens Mercedes, die wenige Stunden nach der Geburt von Marys Sohn ein Mädchen zur Welt gebracht hatte. Sie war mit einem amerikanischen Matrosen verheiratet, der auf einem vor der Küste Japans kreuzenden Schiff diente. Die Entscheidung für den Atomwaffeneinsatz hatte nicht zuletzt verhindern sollen, dass Soldaten und Seeleute wie er bei einer Invasion des Landes zur Erzwingung der Kapitulation ihr Leben riskieren mussten. Dennoch weinte Marys Zimmergenossin.
»Warum mussten die denn noch eine zweite abwerfen?«, protestierte sie unter Tränen. »Die erste hätte den Krieg doch schon beendet.«5
JA, WARUM?
Physiker hätten die Antwort auf die Frage nach dem Sinn dieser Machtdemonstration wahrscheinlich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts geben können: Der erste Staat, dem es gelänge, eine die Energie des Atomkerns entfesselnde Bombe zu zünden, würde die Welt beherrschen. Die dramatischen Ereignisse rings um den 6. August 1945 wirbelten alles durcheinander. Von nun an würden die Nachgeborenen mit Atomwaffen leben müssen, wie die Mutter mit Kind durch ihre grausige Opferpose bezeugte; und der Pilot, der sich durch den Namen seiner Mutter trösten ließ, hatte nichts anderes tun wollen, als den Krieg zu beenden. Die Vereinigten Staaten standen in der Tat als die alleinige Führungsmacht der nicht kommunistischen Welt da.
Einigen weitblickenden Beobachtern jedoch kündigte die Bombardierung Hiroshimas bereits das damals schon sich abzeichnende Ende der Demokratie und das Aufkommen des modernen Superstaates an.6 Die traditionelle Ordnung war aufgehoben, eine neue musste im Wesentlichen auf Sicherheit und Geheimhaltung beruhen. Amerika wurde zu einer genauso furchterregenden wie furchtbaren Geheimsache.7Mary Buneman war angewiesen worden: Während ihr Mann an der Bombe arbeitete, sollte sie sich nicht mit Nachbarn anfreunden, was sie übrigens missachtete. Als die beiden nach Kriegsende ins heimische England zurückkehrten, blieb Mary in einem der neu errichteten, schwer bewachten »Atomdörfer«, in dem sie unter den wachsamen Augen von Sicherheitsbeamten lebte, vom Rest der Gesellschaft isoliert. Doch schon damals waren die Zäune nicht so sicher, wie es schien, und viele Geheimnisse sickerten durch.
Die Wissenschaftler und ihre staatlichen Aufpasser standen am Scheideweg. Tausende von ihnen arbeiteten im Nuklearsektor, aber der Krieg war vorbei. Was sollte nun aus ihnen werden?
Binnen weniger als zwei Jahren wussten sie die Antwort. Der Begriff »Kalter Krieg« war geprägt, als Ausdruck der sich verschlechternden Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der vorher mit ihnen alliierten Sowjetunion, und dieser Kalte Krieg diente jetzt als treibende Kraft für den Bau weiterer Kernwaffen. Bald erfanden Wissenschaftler die thermonukleare Version der Bombe, tausendmal so stark wie die über Japan abgeworfenen Bomben und mit theoretisch unbegrenztem Vernichtungspotenzial. Das Manhattan-Projekt hatte im Grunde nie aufgehört.
Zudem entdeckten Regierungen die positive Seite der Kernkraft und begannen, sie als Quelle der Stromerzeugung zu propagieren. In den Vereinigten Staaten wirkte dieser Aspekt der »friedlichen Nutzung« nicht nur als willkommenes Gegenmittel gegen die Entschlossenheit der Regierung, die Kernwaffenproduktion rasch voranzutreiben, er floss auch in ein Programm mit dem Ziel ein, die Öffentlichkeit für das kostspielige neue Arsenal zu gewinnen. In anderen Ländern wie Frankreich und Großbritannien bestand der Hauptzweck der sogenannten Doppelfunktionsreaktoren darin, bombentaugliches Plutonium zu gewinnen. Der Öffentlichkeit band man indessen den Bären auf, die Meiler dienten allein der Stromerzeugung. In dieser Aufbruchsstimmung, in der die Kernkraft als eine Vorreitertechnik galt und die Öffentlichkeit vehement weitere Fortschritte forderte, nahm man Funktionären sogar das Versprechen ab, dass es Atomstrom letzten Endes »fast geschenkt« gäbe.8 Zwar rechneten eingeweihte Wissenschaftler und Regierungsbeamte durchaus damit, dass die neue Ära zu verdeckten Kernwaffenprogrammen führen konnte, überzeugten sich dann aber selbst von der Lösbarkeit des Problems. Angesichts der sehr komplexen Sachfragen sollte es fast mühelos gelingen, das Thema in der öffentlichen Diskussion zu verharmlosen, und genau das tat Präsident Dwight D. Eisenhower 1953 in seiner berühmten Rede »Atome für Frieden«. Doch würde die Atomenergie weder billig, noch bliebe sie auf friedliche Nutzungen beschränkt, da die mit ihr und den Kernwaffen einhergehenden Schlüsseltechniken im Grunde identisch waren, und beides ahnte man damals auch schon.
Fast alle Industrieländer investierten viel Geld in Nuklearprojekte, auch wenn ihre Haushaltslage in anderen Sphären wegen der Kriegsfolgen noch so angespannt war. Die vom Staat mit üppigen Gehältern und Nebenleistungen verwöhnten Nuklearwissenschaftler und -ingenieure fühlten sich derweil als etwas Besonderes und wähnten, »über« dem Rest der Gesellschaft zu stehen, pflegten sogar einen abgehobenen Sprachstil. Ein bekannter Physiker erläuterte 1949 bei einer Konferenz mit Rüstungsbeamten über die Wasserstoffbombe, wie sich im Kriegsfall »radioaktive Produkte« einsetzen ließen – fast als wäre er ein Werbemanager von der Madison Avenue.9
Angesichts des sagenhaften Stroms schier unbegrenzter Mittel entwickelten die Wissenschaftler naturgemäß wilde Fantasien. Zum Beispiel träumten sie davon, durch reaktorbetriebene Entsalzungsanlagen Wüsten ergrünen zu lassen oder durch kontrollierte Atomexplosionen mächtige Ströme umlenken, Kanäle anlegen und Tunneldurchbrüche auch durch härtesten Granitfels schaffen zu können. Am ernsthaftesten wurde der Plan erwogen, eine neue Rinne auf Meereshöhe auszuheben, um den Panamakanal zu erweitern oder ganz zu ersetzen und so die Durchfahrt größerer Schiffe zu ermöglichen.10
Im Wesentlichen basierten die nuklearen Träume auf der Gewinnung des chemischen Elements Plutonium, das man im Zweiten Weltkrieg streng geheim hergestellt hatte. Da es nicht nur hochgiftig ist (schon die Einatmung mikroskopischer Mengen wirkt tödlich), sondern auch radioaktiv und spaltbar, also Kettenreaktionen...