Sully
Sully war der erste französische Besuch.
Er kam zu dem kleinen, einsamen Häuschen, in dem sie zuerst untergebracht worden waren. Im Haupthof lebten noch russische Flüchtlinge, die der Krieg ins Abseits ihrer ruhmreichen, ihnen bedrohlich gewordenen Heimat verschlagen hatte. Wenige Monate später sollten sie den Hof mit ungewissem Ziel geräumt haben.
Das kleine Haus war den Kindern sofort wie die Einlösung aller Versprechen erschienen. Es lag inmitten großer Kirschbäume, die zu dieser Zeit über und über voll reifer Kirschen hingen. Die Mädchen hatten den ersten Tag nach ihrer Ankunft ausschließlich in diesen Bäumen verbracht und sich krank an Saft und Sonne gegessen. Es gab im Haus keinen elektrischen Strom und keinen Wasseranschluss. Es war mit weißen Kalksteinplatten ausgelegt. Jedes Zimmer hatte einen Kamin, in dem abends lebendiges Feuer mehr Licht gab als die blakenden Petroleumlampen. Das Klohäuschen stand am Ende des oberen, lang gezogenen Gartens. Den Weg dahin hatte wuchernder Efeu zu einem schmalen Pfad verengt. Eine Tür gab es nicht, man saß auf den warmen Brettern des Plumpsklos und blickte bei seinen Verrichtungen auf den Berghang jenseits des Flüsschens, umsummt von Insekten und kaum beachtet von einigen fetten Spinnen, die sich an der Decke emsig beschäftigten.
An der Süd-West-Seite des Hauses wurzelte eine gewaltige Linde, hoch und breit wie der Baum Gottes, bevölkert von einer Unzahl Insekten und Vögeln. In ihr rauschte die »bise«, der kalte Mistral aus dem Norden, wie eine ozeanische Brandung. Von den oberen Fenstern des Häuschens konnte man einigen Astspitzen die Hand reichen und Blüten für eine »tisane« pflücken. Dies jedoch war schon das erste Geschenk Sullys.
Es war eine Woche nach ihrer Ankunft. Der Abend hatte sich über das Tal geworfen. Die Mädchen kauerten still vor dem Kamin und hielten den Atem an. Es war etwas geschehen, die Freude war entflogen. Der Vater saß niedergeschmettert vor dem Pachtvertrag. Er war eine Woche lang sein Pachtland abgelaufen, hatte Bilanz gezogen. Von hundertundachtzig Hektar waren gerade mal fünfzehn Hektar steiniges und leidlich fruchtbares Ackerland, die restlichen Flächen bestanden aus zerklüfteten Bergrücken und steilen verwucherten Schluchten. Die Schafe waren mindestens fünfzehn Jahre alt, somit bereits vergreist und unfruchtbar. Das Pferd hatte noch sechs überlange Zähne im Maul, der Traktor hatte schon vor Jahren den Geist aufgegeben, die Dächer des Hofes zerfielen. Am schlimmsten war die Tatsache, dass es auch im Haupthof kein fließendes Wasser gab. Es gab in der Küche zwar eine alte rostende Schwengelpumpe, die jedoch nur trübes Wasser zutage förderte. Die erste Vermutung, es handele sich »nur« um Rost durchsetztes Wasser, hatte sich als falsch erwiesen. Die Pumpe stieß offenbar auf eine Flüssigkeitsschicht, die unmittelbar mit der Jauchegrube kommunizierte. Jeder Tropfen trinkbares oder auch nur im Haushalt benutzbares Wasser musste demzufolge aus einem tiefen Brunnen per Armeskraft heraufgezogen und in Eimern die Treppe hoch ins Haus getragen werden. Der Brunnen war unten im Hof gegraben worden, nahe bei den in den heißen südlichen Sommern besonders durstigen Tieren.
Und es schienen hier nur Pflanzen zu wachsen und Tiere zu gedeihen, die aufzuziehen der Vater nicht gelernt hatte. Der Pachtzins stand fest, besiegelt mit seiner Unterschrift. Die Mutter lag fremdelnd auf ihrem an diesem Ort besonders unangemessenen Kanapee, das irgendwie die Kriegs- und Nachkriegswirren überstanden hatte. Sie hatte die Decke über die Augen gezogen und war so krank, wie man nur in Sorge, Angst und Heimatlosigkeit sein kann.
Völlig unerwartet stand der alte Sully im Raum. Er lächelte. Die Kinder sollten, sobald sie seinen Namen kannten, ihn den »alten« Sully nennen. Das lag nicht an den tiefen, ledernen Furchen, die ihm ein ganzes Leben unter der Sonne und im Wind ins Gesicht gezogen hatte. Es lag auch nicht an der kindlichen Wahrnehmung, die alle schon länger erwachsenen Menschen sehr alt erscheinen lässt. Es war vor allem seine unerschütterliche und fröhliche Gelassenheit, die ihnen eingab, Sully das Prädikat »alt« wie eine Ehrenbezeichnung zu verleihen.
Wie selbstverständlich sagte man sich »bonsoir« und schon ging ihnen das gemeinsame Vokabular aus. Die Mutter schaute aus ihrer Decke hervor, griff nach ihrem Wörterbuch, blätterte und fand das Wort »malade«. Sie sagte es lächelnd, vorsichtig und ein wenig entschuldigend, da ihr dieses Wort durchaus aus dem Deutschen hätte geläufig sein müssen. Da ging der fremde Mann zum Fenster und sprach die Linde an. Er sprach tatsächlich die Linde an – die Kleine war sich ganz sicher –, er sprach mit dem Baum. Auf vielen späteren Spaziergängen sollte es sich bestätigen: Er sprach mit Pflanzen, aber auch mit Bächen und natürlich mit Tieren. Oder vielmehr sang er auf sie ein, in einer Art Sprechgesang, leise und melodisch. Nun rupfte er der Linde eine Handvoll Blüten ab, ging in die Küche – er kannte jedes Haus genau – und kochte der Mutter einen starken Blütensud, die »tisane«, die dem Herzen Mut gibt. Er brachte sie der Mutter ans Kanapee und lächelte sie fast galant an. Die Mutter reagierte sofort auf sein Lächeln und nahm ihm die Tasse mit einer sehr graziösen Geste ab. Sully pustete auf seine Finger um ihr anzuzeigen, dass sie sich vorsehen solle, es sei sehr heiß. Die Kinder schauten sich fragend an. Er sprach weiter, lächelnd.
Der Vater überwand seine stille Verblüffung und holte seine Wacholderschnapsflasche. Er nahm zwei Gläser und schenkte ein. »Santé« – »Prost«, »Proost« – »Sangteh«. Sully sagte dann »genévrier« und der Vater »Wacholder«, sie sagten es beide mehrmals. Sie gingen hinaus mit einer Taschenlampe, die sie im Licht des Vollmondes eigentlich nicht brauchten. Sie gingen dreißig Meter den Berghang hoch, der dem Haus den Rücken stärkte. Vor dem blauschwarz duftenden Wacholderstrauch wiederholten sie laut »genévrier« – »Wacholder«. Die Kinder standen in der Tür und lauschten.
Bevor Sully ging, sagte er »Docteur Goll parle deutsch«, dabei ließ er zwei Finger über die Tischkante laufen und zeigte einmal um das Ziffernblatt des Weckers herum. Die Eltern glaubten zu verstehen, dass er für den nächsten Tag den Besuch eines Doktors ankündigte. Sully grüßte und ging zur Tür hinaus. Die Kleine sprang auf und lief ihm nach. Sie folgte ihm ins milchige Dunkel. Sie hörte, wie er den Vollmond anmurmelte. Er drehte sich um. Er sah sie lächelnd und fragend an. Dann bückte er sich, nahm die Kleine auf und küsste sie zeremoniell auf beide Wangen. Er verschwand in die Nacht. Die Kleine lief zurück ins Haus, schaute wortlos auf ihre wortlose Familie. Die Mutter trank ihre »tisane«, der Vater schloss die Fensterläden und die Haustür. Er sicherte das Feuer zur Nacht. Die Kleine ging wie betäubt zu Bett, überwältigt von der Gewissheit, dass sie nun außer Mutter und Vater einen dritten Menschen von ganzem Herzen liebte.
Wer war Sully?
In Sullys Heimatregion waren die Erinnerungen sogar an die Religionskriege noch sehr lebendig. Über Jahrhunderte hinweg war dieser Landstrich auch Wiege und Schauplatz, aber am ehesten Zufluchtsort vieler religiös oder sozial motivierter Ketzerbewegungen gewesen: ob Albigenser, Waldenser oder Hugenotten, ob Jaquerie oder andere Bauernaufstände. Und es wurden hier noch Namen gegeben, die aus dieser Geschichte herüberreichten. Der ursprüngliche, historische Sully war der rechte Arm des »Guten Königs« Henri IV. gewesen, dem Verteidiger der Rechtsgleichheit und der Glaubensfreiheit und dem Freund der armen Leute, der jedem sein sonntägliches Huhn zusprach.
Und wer war unser Sully? Er war der älteste Sohn einer hugenottisch-protestantischen Bauernfamilie. Seine wache Intelligenz und Neugierde machten seinem Namenspatron alle Ehre, sie hatten ihn den konservativen Haltungen seiner frommen Familie entfremdet. Er liebte und heiratete Marie aus armer, ursprünglich katholischer Familie. Die Katholiken hatten in diesem Tal immer eher zu den Ärmeren gehört, zu den Landlosen. So hatten sie auch den kommunistischen Boden der Region gebildet.
All dies aber wurde anders gelebt als an anderen Orten, dies war und ist ein Land des Schweigens: Hier wurden Haltungen gelebt, nicht beschworen. Sully erbte den elterlichen Hof nicht. Er wurde und blieb so arm wie seine Marie. Sie lebten beide von ihrer Kenntnis der Reichtümer, die niemandem und jedem gehören, von Pilz- und Beerenlese, von Heilkräutern und gewilderten Tieren, die sie unter der Hand verkauften. Sie waren Erntehelfer. Marie half Wöchnerinnen und Kranken über ihre schlimme Zeit. Sully ersetzte den Tierarzt, wenn dieser nicht weiterwusste oder zu teuer erschien, er wusste Trüffelhunde abzurichten und fing schwärmende Bienenvölker ein; dies alles und vieles mehr, ja, er konnte wohl auch Geister beschwören, aber darüber sprach und spricht man nicht.
In den ersten Wochen kam Sully fast täglich zu den deutschen Immigranten. Er holte die Mädchen ab, damit sie ihn auf seinen Wanderungen begleiteten. Vom Tag seines ersten Besuches an vertrauten ihm die Eltern ebenso blindlings wie die Kinder. Er zeigte den Mädchen, was essbar ist, entdeckte ihnen Bäche und Quellen, nannte ihre Namen und – viel kostbarer – brachte ihnen bei, von welchem Wasser man ohne Gefahr trinken konnte. Es gab kleine Höhlen und steinerne Schutzhütten, vor Ewigkeiten von Schäfern oder vielleicht Jägern erbaut, Zeugen einer uralten Kultur von Männern, die den größten Teil ihrer Leben unter freien Himmeln verbracht hatten. Die...