Sich nach der Decke strecken – wie ich Profi wurde
Am Abend des 8. Juli 1982, kurz vor elf, steht mein Entschluss fest: Ich werde Fußballprofi. Soeben hat Alain Giresse getroffen, hoffnungslos liegt die deutsche Nationalmannschaft im Halbfinale der WM in Spanien zurück. 3 : 1 für Frankreich in der Verlängerung, was soll da noch gehen? Ich sitze auf dem Sofa im Wohnzimmer meiner Eltern in Essen-Heisingen; obwohl es schon so spät ist und ich erst 13 Jahre alt bin, darf ich, muss ich dieses Spiel bis zum bitteren Ende sehen. Mein Gott, denke ich, das gibt es doch gar nicht, dass wir jetzt hier rausfliegen! Die müssen doch besser sein! Aber Rummenigge trifft nicht, Schumacher hält nicht, die Partie scheint verloren. Und plötzlich bildet sich in meinem Kopf dieser Gedanke: Das muss ich selbst irgendwie, irgendwann besser machen. Das will ich. Und das werde ich.
Fußball spielte ich zu dieser Zeit bereits seit fast zehn Jahren. Angefangen habe ich mit vier, auf der Straße. Mit sechs bekam ich meine erste Torwartausrüstung, zum Namenstag am 24. Juni. Noch heute habe ich diesen Geruch von frischem Gras und Matsch in der Nase, der fortan zu den Spielen in unserem kleinen Garten gehörte wie der Duft von Spaghetti Bolognese zum Samstagmittag bei den Lehmanns. Meine ersten Mitspieler waren mein Vater, mein zwei Jahre älterer Bruder Jörg und mein Cousin Jochen, vier Jahre älter als ich. Heute muss ich sagen: Super spielen konnte keiner von denen, aber das habe ich damals natürlich nicht bemerkt. Ich wollte einfach immer nur spielen, egal wo, egal wie gut, egal mit wem. Ein paar Jahre später, mit zehn, bin ich dann in meinen ersten Verein eingetreten, DJK Heisingen, E-Jugend. Wir wohnten nur 50 Meter von deren Sportplatz entfernt, mein Bruder und mein Cousin spielten auch dort, da war kein großer Familienbeschluss nötig, damit auch ich dabei sein konnte. Eine andere Sportart ist eigentlich nie in Frage gekommen. Ich hätte auch Rudern können, auf dem Baldeney-See, oder Tennis spielen. Aber das war einfach zu teuer, Aufnahmegebühr, Schläger, die ganzen Klamotten für draußen, für drinnen …
Wir wohnten zwar in einem ziemlich vornehmen Stadtteil – Heisingen, die von der Ruhr umschlungene Halbinsel im Essener Süden, liegt gleich neben Werden und Bredeney. Dort wohnten damals die meisten Millionäre Deutschlands, lauter Leute, die in den Konzernzentralen von Krupp, Thyssen, RWE oder Ruhrkohle wichtige Posten innehatten. Wir sind allerdings eine ganz normale Mittelstandsfamilie. Mein Vater hat im Vertrieb von Henkel gearbeitet. Meine Mutter hat ihren Job aufgegeben, als mein Bruder Jörg geboren wurde. Wir wuchsen in einer heilen Welt auf. Aber wie viele kleine Brüder musste auch ich die alten Klamotten meines Bruders oder meines Cousins auftragen. Es war auch nicht so, dass ich jede Menge Trikots von meinem Lieblingsverein im Schrank hängen hatte; damals existierte das Wort »Fanartikel« noch gar nicht. Ich hatte mal ein Teil von Borussia Mönchengladbach, das man wohl am ehesten als »Baumwollding« bezeichnen kann, dazu ein Trikot von Wolfgang Kleff – grün mit schwarzen Streifen. Aber dass man damit den ganzen Tag rumgelaufen oder gar in die Schule gegangen wäre, wie das heute üblich ist – undenkbar. Ich hätte mich auch gar nicht richtig entscheiden können, für welchen Verein ich Reklame laufen sollte. Ich war zugleich Fan von Mönchengladbach und vom 1. FC Köln, was eigentlich gar nicht geht. Heute muss man ja dankbar sein, dass zwischen den beiden Städten diese gewaltigen Braunkohlelöcher als natürliche Barriere liegen, sonst würden sich die Fans ständig auf die Köpfe hauen. Aber von Essen aus besehen waren die beiden gleich bewundernswert und spielten Mitte der siebziger Jahre auch den schönsten, erfolgreichsten Fußball. In meiner Heimatstadt selbst konnte ich mich nie recht zwischen Rot-Weiss und Schwarz-Weiß entscheiden. Rot-Weiss war ein bisschen besser, aber auch nie in der Bundesliga, bei Schwarz-Weiß habe ich später sogar in der Jugend gespielt – mein Sprungbrett in den »großen« Fußball. Zu guter Letzt bin ich ein Schalker Junge geworden, davon später.
Als junger Mensch war ich in manchen Überzeugungen so flatterhaft wie eine Fahne in der Fankurve; zunächst konnte ich mich ja nicht mal entscheiden, was ich nun sein wollte – Stürmer oder Torwart. Wenn wir nachmittags rumbolzten und in unseren Kindsköpfen die großen Spiele und ihre Stars parallel mitliefen, war ich meist Klaus Allofs, Pierre Littbarski oder Karl-Heinz Rummenigge. Und auch im allerersten Vereinsspiel, an das ich mich noch erinnere, war ich Stürmer. Wir spielten mit unserer E-Jugend gegen den SV Kupferdreh, auf dem Hügel jenseits der Ruhr. Die da oben waren gut, und irgendwann stand es 6:0. Gegen uns. Das ging mir derart auf die Nerven, dass ich mir den Ball vor dem eigenen Tor schnappte, quer über den Platz marschierte, alle Gegner umdribbelte und das 6:1 schoss. Die Niederlage habe ich damit natürlich nicht mehr verhindern können, wohl aber mein Selbstwertgefühl gerettet. Eigentlich bin ich doch besser als ihr, habe ich mir hinterher eingeredet. Und so ist es bis heute geblieben: Demütigungen sind für mich wie Kraftwerke – hässliche Dinger eigentlich, aus denen man aber eine gewaltige Energie bezieht. Gleich nach dem Spiel bekam ich mein allererstes Angebot – von Schwarz-Weiß Essen. Als Stürmer.
Über ein Probetraining kam ich aber zunächst nicht hinaus. Die ruhmreichen Schwarz-Weißen trainierten auf einem schmalen Aschenplatz, der von einer hüfthohen Mauer begrenzt wurde, aus der zur Krönung auch noch ein ehrfurchtgebietender Stahlzaun herausragte. Gleich beim ersten Spielchen grätschte mich einer in diese verirrte Knastarchitektur; mit der Schulter hinterließ ich eine Bremsspur darauf. Ich war total kaputt und völlig perplex, wie mit mir unschuldigem Probespieler umgesprungen wurde, so dass meine Entscheidung sofort feststand. »Nein, ich komme nicht«, sagte ich zum Jugendleiter Georg von Wick, der im ganzen Essener Fußballverband gefürchtet war als Personifizierung von Druck, Leistung und Kälte. Da konnte ich nicht ahnen, dass ich unter seiner Ägide meinen ersten Titel gewinnen würde.
Denn nach nur einem weiteren Jahr in Heisingen landete ich schließlich doch bei Schwarz-Weiß Essen, im Tor der D-Jugend. Ich besuchte inzwischen das Stadtwald-Gymnasium, und mein zukünftiger Trainer Martin Annen war mein Schulkamerad, wenn auch ein paar Klassen über mir. Der bearbeitete mich, ob ich nicht doch wechseln wolle. Ich wollte – wenn ich bloß weit genug weg wäre von der verdammten Mauer. Und da gab es nur eine sichere Position: im Tor. Also stellte ich mich da rein und machte das, was ich seit der Grundschule gut konnte: Bälle fangen. Schon beim Völkerball blieb ich auch dann an der Mittellinie stehen, wenn die gegnerische Mannschaft am Spiel war und versuchte, mich abzuwerfen. Wenn ich einen Ball fing, waren die Gegner schlagartig leichte Beute. Mit diesem Talent lief es auch im Tor gleich so gut, dass ich Kapitän meiner D-Jugend wurde und wir am Ende des Jahres den Essener Stadtpokal gewannen. Sicher fangen, schnell werfen – diesem Prinzip bin ich noch heute, als gestandener Profi, treu.
Dass man mit Bällefangen allein kein guter Torwart wird, war mir allerdings schnell klar. Ich musste mir ja nur Toni Schumacher ansehen in diesem Halbfinale: Wie eingesperrt steckte er in seinem Trikot, das seltsamerweise die französischen Farben hatte: rot der Rumpf, blaue Ärmel und darauf die drei weißen Streifen. Ein knallbuntes Kraftpaket, nur mühsam zu bändigen. Als er in der 60. Minute den armen Patrick Battiston umrammte, hatte ich weniger Mitleid mit dem schwer verletzten Stürmer gehabt als vielmehr den Mut bewundert, mit dem Toni aus dem Tor gekommen war. Das traut sich keiner, der nicht absolutes Vertrauen in die Widerstandsfähigkeit seines Körpers hat, dachte ich. Und dann schlug ja doch noch seine Stunde, als das Spiel seine dramatische Wende nahm, Karl-Heinz Rummenigge den Anschlusstreffer erzielte und Klaus Fischer per Fallrückzieher in der letzten Minute den Ausgleich schaffte. Elfmeterschießen in einem der besten WM-Spiele der Fußballgeschichte! Und Toni Schumacher, mein Held und Vorbild, hielt den Elfmeter von Maxim Bossis – »wir« waren im Finale. Weil wir einen starken Torwart hatten, in jeder Hinsicht.
Ich war so überdreht wie wahrscheinlich alle deutschen Fußballfans an jenem Abend; jedenfalls konnte ich nicht sofort zu Bett gehen und fasste den zweiten wegweisenden Entschluss an diesem Tag: Ich musste stärker werden. Ich machte drei mal zehn Sprünge aus der Hocke an die Decke meines Kinderzimmers und dazu noch vier mal zwanzig Liegestütze. In den nächsten vier Jahren machte ich das jeden zweiten Tag – das Geräusch der Sprünge hat meine Eltern beinahe in den Wahnsinn getrieben. Aber wie an alles, so gewöhnten sie sich auch daran. Später bekam ich sogar Hanteln zum Geburtstag geschenkt, um meine Oberarme noch weiter zu trainieren. Nur mein Bruder konnte bis zuletzt meinen Versuchen, mich nach der Decke zu strecken, nichts abgewinnen und war einfach nur genervt.
Von meinem Entschluss, Profi zu werden, erzählte ich erstmal niemandem. Meine Eltern wussten zwar, dass ich ganz ordentlich Fußball spielen konnte, aber keiner in meiner Familie hatte eine ernst zu nehmende sportliche Vergangenheit und hätte sich auch nur im Entferntesten vorstellen können, dass ich mal mein Geld damit verdienen sollte, mich im hohen Bogen in den Matsch zu werfen. Damals war ein Profi-Fußballer kaum angesehener...