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Nur im Weltall ist es wirklich still

Vom Lärm und die Sehnsucht nach Stille

AutorSieglinde Geisel
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783462301816
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Das Lese- und Trostbuch für Lärmgeplagte. Wer kennt ihn nicht, den Ärger mit den lauten Nachbarn, der vielbefahrenen Straße und dem Geschrei der Nachtigallen. Schopenhauer, Proust und Kafka klagten über Lärm, Carlyle ließ sich ein schallisoliertes Studierzimmer errichten, bei Kant landete ein zu lauter Hahn im Suppentopf. Doch freilich: Nichts ist persönlicher als die Geräuschempfindung. Was für den einen schön ist, ist für den anderen Tortur. Angeblich kommt eine medizinische Studie zu dem Schluss, dass bei einem Umgebungslärm von 65 Dezibel das Herzinfarktrisiko um über 30 % höher ist als bei 60 Dezibel - allerdings nur bei Männern, bei Frauen nicht. Warum das so ist, weiß niemand. Lärm muss nicht laut sein - auch ein tickender Wecker oder ein tropfender Wasserhahn können einen in den Wahnsinn treiben, während das ohrenbetäubende Brüllen eines Gebirgsbachs als natürlich und damit schön empfunden wird. Nur wer mit Geräuschen umzugehen weiß, kann sie ertragen. Nur im Weltall ist es wirklich still ist ein grundlegendes und dabei höchst unterhaltsames Geräuschbuch, in dem das Verhältnis des Menschen zur Akustik seiner Umwelt über die letzten 2000 Jahre hinweg betrachtet wird. Zahlreiche Ohrenzeugen von Horaz über Lichtenberg, Schopenhauer, Kurt Tucholsky bis John Cage und Hans Magnus Enzensberger kommen zu Wort. Sieglinde Geisel beschreibt auch, was die Menschheit mit und gegen Lärm so alles tut: von der turbulenten Geschichte der Anti- Lärm-Vereine und der Anti-Lärm-Gesetze bis zu dem Paradox, dass die Welt immer lauter wird, weil immer mehr in ihren Autos aus den Städten in die Stille fliehen.

Sieglinde Geisel, geboren 1965, lebt als freie Autorin in Berlin. 1994-1998 war sie NZZ-Korrespondentin in New York, seit ihrer Rückkehr berichtet sie für die NZZ über das kulturelle Leben der Hauptstadt. 2010 erschien von ihr Nur im Weltall ist es wirklich still.

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Leseprobe

Schlachtenlärm

Die Stadt Jericho verschanzte sich gegen den Angriff der Israeliten hinter der Stadtmauer. »Niemand ging hinaus und niemand hinein«, heißt es im 6. Kapitel des Buchs Josua. Doch Gott wollte die Stadt in Josuas Hand geben, und so sagte er ihm, wie die Mauer zum Einsturz gebracht werden konnte. »So zieht denn um die Stadt, alle Kriegsleute, rings um die Stadt herum, einmal; so sollst du sechs Tage tun. Und sieben Priester sollen sieben Posaunen aus Widderhörnern vor der Lade her tragen. Am siebenten Tage aber sollt ihr siebenmal um die Stadt herum ziehen, und die Priester sollen in die Posaunen stoßen. Und wenn man das Widderhorn bläst und ihr den Schall der Posaunen hört, so soll das ganze Volk ein lautes Feldgeschrei erheben; dann wird die Stadtmauer in sich zusammenstürzen.« Und so geschah es. Niemand weiß, ob der Sturz der Stadt Jericho tatsächlich durch Posaunenklänge herbeigeführt wurde – doch so, wie die Geschichte im Alten Testament erzählt wird, enthält sie eine Botschaft über die Wirkung des Lärms. Das Zeremoniell nämlich, mit dem die Priester die Stadt vor ihrer Lärm-Attacke an sechs Tagen umkreisten, lässt darauf schließen, dass es nicht der Schall allein war, der das Gemäuer zum Einsturz brachte, denn dazu hätte es genügt, wenn sich die Priester vor die Mauer gestellt und in die Posaunen geblasen hätten. Die Taktik, die Stadt zuerst an sechs Tagen je einmal zu umrunden, ohne in die Posaunen zu blasen, ist ein Akt der psychologischen Kriegsführung. Als er endlich kam, muss der Lärmangriff, den die Bewohner der Stadt erwarteten und doch nicht vorhersehen konnten, einen Nervenzusammenbruch der ganzen Stadt ausgelöst haben, denn er zielte auf die Seelen. Die Botschaft des plötzlichen Lärms lag in seiner Unberechenbarkeit: Damit zeigten die Priester den Eingeschlossenen, dass sie keine Kontrolle über ihr Schicksal hatten und Widerstand zwecklos war.

Das Ohr ist die seelische Achillesferse des Menschen, und es lässt sich überdies bequem aus der Ferne durch die Luft erreichen – dies macht den Lärm zu einer wirkungsvollen Waffe, wenn eine Invasion nicht möglich ist. So zogen in den 1950er-Jahren die DDR-Behörden mit Rockmusik gegen Bauern zu Feld, die sich der Kollektivierung ihrer Bauernhöfe widersetzten – Tag und Nacht wurden die Dörfer von Lastwagen aus mit lauter Musik beschallt. Der Vorteil der Lärmwaffe ist allerdings auch ihr Nachteil: Weil der Schall überallhin gelangt, trifft er auch diejenigen, die nicht gemeint sind. Als die amerikanische Armee Ende 1989 den panamaischen Diktator Manuel Noriega durch laute Rockmusik dazu zwingen wollte, sein Asyl in der vatikanischen Botschaft aufzugeben, musste die Beschallung nach wenigen Tagen abgebrochen werden. Die Lage war auch für das Botschaftspersonal untragbar geworden.

Der Einsturz der Mauer von Jericho ist eine Metapher für die verheerende Wirkung des Lärms auf die Seele. Er bringt buchstäblich die inneren Mauern ins Wanken. Indem der Lärm das Selbst seines Schutzes gegen Reize von außen beraubt, macht er es verwundbar. Wer über den Lärm verfügt, verfügt über Macht, deshalb erlebt sich als ohnmächtig, wer dem Lärm anderer ausgesetzt ist. Dies macht den Lärm zu einem wirksamen Mittel, wenn es darum geht, Menschen unter Druck zu setzen. Er gehört zum Arsenal der ›weißen Folter‹, bei der sich keine körperlichen Spuren nachweisen lassen und die von der Administration Bush im Rahmen der verschärften Verhörmethoden gegenüber Terror-Verdächtigen zugelassen worden war. Die Beschallung soll dem Gefangenen ein Gefühl von ›futility‹ vermitteln mit dem Ziel, seinen Widerstand zu brechen, noch bevor das Verhör begonnen hat. Wie Augenzeugen berichten, seien neu angekommene Häftlinge auf dem Militärstützpunkt in Bagram nackt in dunkle Räume gesteckt und tagelang lauter Musik ausgesetzt worden. Die Lärmfolter habe im Verhör oft dann begonnen, wenn der Gefangene die ersten unbefriedigenden Antworten gegeben habe wie »Ich weiß es nicht« oder »Darüber habe ich keine Information«. Außerhalb des Verhörs bestand die Lärmfolter darin, die Häftlinge 24 Stunden am Tag mit lauter Musik oder anderen Geräuschen zu beschallen, so dass sich die Wirkung des Lärms durch den Schlafentzug potenzierte. Manchmal wurde der Lärm auch nach dem Zufallsprinzip an- und ausgeschaltet; diese Methode verstärkte bei den Gefangenen das Gefühl des Kontrollverlusts. Die Soldaten waren frei in der Wahl des Schalls – sie mussten selbst herausfinden, welcher Lärm für die Opfer am schlimmsten und somit als Folter am wirksamsten war. Dorfbewohner und islamische Fundamentalisten, so heißt es, reagierten besonders stark auf westliche Rockmusik, doch auch Babygeschrei, schallendes Gelächter oder ›Gespenstergeräusche‹ wurden als unerträglich empfunden. Am wirksamsten seien Kinderlieder, berichtet ein Armee-Angehöriger. Der Titelsong der Sesamstraße bringe die stärksten Männer zum Reden. »Wenn man es 24 Stunden lang spielt, geraten die Gehirn- und Körperfunktionen ins Rutschen, das Denken verlangsamt sich, und schließlich ist der Wille gebrochen. Dann kommen wir rein und reden mit ihnen.«

Der Lärm gehört zum Krieg, nicht nur als Nebenprodukt der Schlacht, sondern als Waffe. Die deutsche Wehrmacht setzte im Zweiten Weltkrieg eine Lärmmaschine namens ›Jericho-Trompete‹ ein: Beim Bombenabwurf heulte am Fahrgestell des Flugzeugs eine Sirene auf, die den Gegner weit über den Sprengradius der Bombe hinaus in Schrecken versetzen sollte. Bei der psychologischen Kriegsführung spielen Lärmrituale in allen Armeen eine wichtige Rolle. Sei es das Kriegsgeheul der Indianer, das Schilderschlagen der Germanen oder die Operation ›Shock and Awe‹ der amerikanischen Offensive im Irak – immer geht es darum, einerseits dem Feind eine Übermacht zu suggerieren und andererseits die Kampfmoral der eigenen Truppen zu stärken. Denn der Lärm manipuliert das Bewusstsein auf beiden Seiten.

Der Krieg ist die größte Lärmentfesselung, die der Mensch zustande bringt. Dies galt schon für die Zeit vor der Erfindung des Schießpulvers, doch Maschinengewehre, Bomben und Granaten verstärkten den Schlachtenlärm ins Unermessliche. »Ich schien mir gerade die windigste Ecke ausgesucht zu haben. Leichte und schwere Kugelminen, Flaschenminen, Schrapnells, Ratscher, Granaten aller Art – ich konnte gar nicht mehr unterscheiden, was da alles durcheinander schnurrte, brummte und krachte. (…) Zuweilen wurde das Ohr durch einen einzigen, von Flammenerscheinungen begleiteten höllischen Krach völlig betäubt. Dann erweckte wieder ein ununterbrochenes scharfes Zischen den Eindruck, dass Hunderte von Pfundstücken mit unglaublicher Geschwindigkeit hintereinander hersausten. Zuweilen fuhr mit kurzem, schwerem Stoß ein Blindgänger ein, dass rings das Erdreich wackelte. Schrapnells platzten zu Dutzenden, zierlich wie Knallbonbons, streuten ihre Kügelchen in dichter Wolke aus, und die Hohlbläser fauchten hinter ihnen her. Wenn in der Nähe eine Granate einhieb, rasselte und rieselte der Dreck zu Boden, dazwischen zackten sich mit scharfem Einschlag die Splitter ein.« So klang der Erste Weltkrieg, wie ihn Ernst Jünger in seinen Aufzeichnungen beschreibt. Er gab ihnen den Titel In Stahlgewittern. Der Schlachtenlärm war in Konkurrenz getreten zum mächtigsten Schall der Natur.

Jüngers Wahrnehmung des Lärm-Infernos ist ambivalent. Die ästhetische Faszination für die Formen des Schalls mischt sich mit der nervlichen Erschütterung. Diese Geräusche seien leichter beschrieben als ausgestanden, so Jünger, »denn das Gefühl verbindet jeden Einzelton des schwirrenden Eisens mit der Idee des Todes, und so hockte ich denn in meinem Erdloch, die Hand vor den Augen, während an meiner Vorstellung alle Möglichkeiten des Getroffenwerdens vorbeizogen«. Das Ohr schlägt pausenlos Alarm, so dass die Soldaten in einen Zustand der Hypernervosität geraten. Schon unter zivilen Umständen gewöhnt man sich nicht an Lärm, im Krieg nimmt die Empfindlichkeit noch zu. Auch kriegserfahrene Soldaten sind keineswegs abgehärtet, wie Jünger berichtet: »Das sollte uns übrigens durch den ganzen Krieg begleiten, dieses Zusammenfahren bei jedem plötzlichen und unerwarteten Geräusch. Ob ein Zug vorüberrasselte, ein Buch zu Boden fiel, ein nächtlicher Schrei erscholl – immer stockte der Herzschlag für einen Augenblick unter dem Gefühl einer großen und unbekannten Gefahr.«

Die Beeinträchtigung des Denkens und der Wahrnehmung durch den Lärm funktioniert im Gefecht nach dem gleichen Prinzip wie bei der Folter. Keiner der Soldaten sei mehr bei klarem Verstand gewesen, schreibt Jünger, sogar das Gefühl der Schwerkraft habe unter der akustischen Belagerung versagt. Lärm zermürbt die Willenskraft. »Man hatte das Empfinden des Unentrinnbaren und unbedingt Notwendigen wie einem Ausbruch der Elemente gegenüber.« Jünger wundert sich wiederholt darüber, dass seine Soldaten einem Rückzugsbefehl gerade dann äußerst unwillig Folge leisteten, wenn ihre Lage aussichtslos war. In der Gefechtssituation lähmt der Lärm den Selbsterhaltungstrieb – daher kann eine Lärm-Attacke den Gegner seelisch kampfunfähig machen.

Die extreme Lärm-Situation des Kriegs zeigt, welche Folgen es hat, wenn der Lärm das Bewusstsein aushebelt. Wie in Jericho stürzen die Mauern ein, die das Selbst sowohl nach innen schützen, als auch nach außen begrenzen. Wie sich die Auflösung des Selbst äußert, entscheidet sich daran, ob man den Lärm erleidet oder ihn veranstaltet. Wer Lärm passiv erlebt, nimmt sich im Extremfall selbst nicht mehr wahr, und da es nichts...

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