Vorwort zur Neuausgabe
Seit der ersten Auflage dieses Buches ist bald ein Vierteljahrhundert vergangen. Die Ereignisse von damals sind Teil deutscher Geschichte, mit deren Bewertung deutsche Politik und Geschichtsschreibung bis heute größte Schwierigkeiten haben beziehungsweise sehr viel Missbrauch betrieben wird. Dieses Vorwort soll keine Entgegnung sein, die im Buch behandelten Tatsachen sprechen für sich. Es sollen aber einige Zusammenhänge der Zeit zusätzlich dargestellt werden und das Nachdenken über Deutschland eine späte Ergänzung erfahren.
Die 150 Tage waren eine Übergangszeit, in der beide deutsche Staaten in Souveränität miteinander umgehen mussten. Nur so konnten die Bedingungen für den äußeren Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten geschaffen werden. Als im Februar 1990 die ersten 2+4-Gespräche in Ottawa stattfanden, war Außenminister Oskar Fischer der DDR-Partner, Hans-Dietrich Genscher war der Vertreter der BRD.
In aller Kürze die Kette der Ereignisse, die hier zu betrachten wäre: In Malta trafen sich Bush und Gorbatschow am 2. und 3. Dezember 1989 und sprachen über die internationale Lage, auch über die deutsche Frage. Am 4. Dezember informierte Gorbatschow im Politisch Beratenden Ausschuss des Warschauer Vertrages die Spitzen der Parteien und der Staaten in Moskau über dieses Treffen. Der Zerfall des Bündnisses war spürbar, aber ich wollte mich damit noch nicht abfinden. Gerade drei Wochen in der Verantwortung, ging es doch um Stabilität und Ansehen der DDR – für ein schon vereinbartes Gespräch mit Bundeskanzler Kohl in Dresden. Ich bat Valentin Falin, ein Gespräch mit Gorbatschow in der Pause des Treffens zu vermitteln, was dann auch stattfand. Zwei Dinge waren das Ergebnis dieser Unterredung. Mit Valentin Falin wurde eine Meldung über das Gespräch beraten, um die deutsche und internationale Öffentlichkeit zu informieren, und wenige Tage später erklärte Gorbatschow im Plenum des ZK der KPdSU, die DDR sei der wichtigste Verbündete der UdSSR und ein wichtiger Partner im militärischen Bündnis.
Am 9. und 10. Januar tagte der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Sofia, und die sowjetische Seite fordert den Rat auf, sich einer gründlichen Reform zu unterziehen, mit dem Kernstück eines Marktes auf Dollar-Basis. Da wurde erkennbar, eine eigenständige Deutsche Demokratische Republik hat mit dieser sowjetischen Politik keine Perspektive mehr. Die nächste Phase der 150 Tage konnte nicht mehr Umgestaltung einer sozialistischen DDR sein, es würde von nun an um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gehen.
Es begann die Arbeit an der Initiative für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Was noch heute als Flucht nach vorn bezeichnet wird, war eine Konzeption, die nicht als Taktik gegen den Wandel des Rufs von »Wir sind das Volk« zum »Wir sind ein Volk« entstanden ist. Es war die Ausdeutung und sollte die Fortsetzung einer Politik sein, die von der Vertragsgemeinschaft zur Konföderation und in die Föderation eines deutschen Bundesstaates mit militärischer Neutralität führt.
Beim Treffen in Moskau am 30. Januar begrüßte Gorbatschow diese Konzeption und bekundete die Zustimmung der sowjetischen Seite. Er sagte, man habe im kleinen Kreis über die deutsche Frage gesprochen, und ihre Überlegungen wären unseren sehr ähnlich. Wie ich heute weiß, fand dieses Treffen am 26. Januar statt. Die Teilnehmer waren Ryshkow, Schewardnadse, Jakowlew, Krjuschkow aus dem Politbüro, Falin, der Sekretär des ZK und die Berater Achromejew, Tschernjajew, Schachnasarow, Fjodorow. Der abgesteckte Kurs lautete, wie Gorbatschow in seinen Erinnerungen schreibt:
- Die Wiedervereinigung Deutschlands sei unvermeidlich;
- Die UdSSR soll die Initiative zu einer Konferenz der »sechs« ergreifen, also die vier Siegermächte und die beiden deutschen Staaten;
- Die Verbindung zur Führung der DDR sei aufrechtzuerhalten;
- Unsere Politik in der deutschen Frage müsste enger mit Paris und London koordiniert werden;
- Achromejew müsse den Abzug unserer Streitkräfte aus der DDR prüfen.
Das war ein Kurs, dem jegliche Vorbereitung fehlte und der nicht von gemeinsamer Haltung getragen war. Falin ging von einer stärkeren Einbindung der DDR aus und Ryshkow verhielt sich weitgehend abwartend. Im Weiteren werden Eigenmächtigkeit, Unfähigkeit und das Verlassen der sowjetischen Interessen durch Gorbatschow sichtbar. Hatten wir uns am 30. Januar noch darauf geeinigt, wie es in der Konzeption zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten heißt, »Militärische Neutralität von DDR und BRD auf dem Weg zur Föderation«, wurde am 9. Februar diese Position in den Gesprächen mit dem Außenminister der USA Baker bei einem kurzfristig angesetzten Besuch in Moskau von Gorbatschow aufgegeben.
Von nun an ist auch die Verbindung und partnerschaftliche Beratung mit der Führung der DDR beendet. Mit meiner Regierung bleiben die notwendigen diplomatischen Beziehungen, mit der Regierung de Maiziere wird im Rahmen der Übergabe der DDR an die BRD verhandelt und der Weg für ein vereintes NATO-Deutschland freigemacht. Noch vor dem 3. Oktober 1990 sind die Reste der NVA Teil der Bundeswehr und die übernommene Militärtechnik wird in ihrem Wert auf »Null« gerechnet.
Wenn Gorbatschow sich nach seiner Amtszeit ablehnend zur Erweiterung der NATO in Richtung Osten äußert, vergisst er zu sagen, wer eigentlich Raum für diese Entwicklung gegeben hat.
Hier wäre auch die Situation im Obersten Sowjet der UdSSR im 2+4-Prozess zu beachten. Im Februar 1991 bat der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Valentin Falin um eine Konsultation – es gab Schwierigkeiten bei der Bestätigung des Vertrages im Parlament. Viele Abgeordnete, vor allem Militärangehörige, meinten, dass ohne einen Friedensvertrag, der alle Interessenfragen der Sowjetunion regelt, den Weg zu einer deutschen Großmacht verhindert und Freunde und Waffengefährten des militärischen Bündnisses vor Verfolgung schützt, die Sowjetunion keine Siegermacht des Zweiten Weltkrieges mehr sein würde. Wir verständigten uns in Moskau auf eine Formel, die in der Erklärung des Obersten Sowjets bei der Ratifizierung des Vertrages auch enthalten war. Es darf keine politisch-juristische Verfolgung gegen die Amtsträger der DDR geben und die Menschenrechte sind gegenüber den Bürgern der DDR einzuhalten. Eine Klausel, die von der BRD nie beachtet wurde. Mehr als 100.000 Verfahren wurden eingeleitet, Prozesse geführt und beispielsweise Strafrenten eingeführt, die gegen Menschenrechte bis heute verstoßen.
Dem 2+4-Vertrag wurde im März 1991 im sowjetischen Parlament zugestimmt, die russischen Truppen verließen Deutschland, und mit der BRD hat die NATO die stärkste militärische und wirtschaftliche Rüstungsmacht der EU in ihren Reihen.
Der innere Prozess der Vereinigung wurde rechtlich über den »Einigungsvertrag« geregelt. Ausgehandelt wurde er unter zwei Vertretern einer Partei, Innenminister Schäuble und Staatssekretär Krause von der CDU. Krause, der ein Bundesminister wurde, war aber bald wegen krimineller Vergehen nicht mehr zu halten. Die Gier nach persönlichen Vorteilen war zu groß und das Eintreten für die Interessen der Bürger der DDR zu gering.
Was vertraglich »Beitritt über Artikel 23 des Grundgesetzes« hieß, erwies sich schon bald als Übergabe der DDR an die BRD. Schäuble sprach im Herbst 1989 berechtigt von großen Übersiedlerzahlen in die BRD. Ein politischer Fakt ist es schon, wenn heute nur noch 14,3 Millionen Bürger auf dem Gebiet der alten DDR leben, wo damals über 16 Millionen ihre Heimat hatten.
Der Innenminister der BRD Kinkel fordert 1991 die Delegitimierung der DDR und der Finanzminister Waigel sorgte mit Hilfe der Treuhand für die Deindustrialisierung des nun östlichen Teil Deutschlands.
Nicht die von Kohl versprochenen »blühenden Landschaften« sind entstanden, sondern eine Region, die in der EU unter zurückgeblieben eingestuft wird und bis 2019 entsprechende Fördermittel erhält. Schon heute fordern die neuen Länder eine Verlängerung der Förderung, denn der Rückstand wird auch 30 Jahre nach der Vereinigung noch nicht aufgeholt sein.
Im März 2013 wurde im Deutschen Bundestag der »Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur« diskutiert. Dabei wurde völlig ignoriert, dass die Probleme im Prozess der Verständigung zwischen Ost- und Westdeutschen eher größer als kleiner geworden sind.
Wenn im Jahre 2010 noch immer mehr als 50 Prozent der Ostdeutschen meinten, die DDR hätte »mehr gute als schlechte Seiten gehabt«, dann gibt es doch einen großen Unterschied zwischen einer Selbst- und einer Fremdwahrnehmung auf die DDR.
Es dürfte nicht falsch sein, noch immer von einer »Zweiheit« in Deutschland bei der Betrachtung des Standes der...