|7|Vorwort
Diesem Buchprojekt geht eine längere Geschichte voraus. Anlass für seine Konzeption waren Notwendigkeiten der Lehrerausbildung1: Hier gab und gibt es immer wieder Klagen, dass die Universitäten zu wenig auf die Schwierigkeiten, welche Lehrkräfte in ihrem Beruf erwarten, vorbereiten würden.2 Offen ist bei diesen Beschwerden allerdings, ob es sich dabei um eine „Bringschuld“ der Universitäten handelt, also um ein (eventuell didaktisch und studientechnisch) ungenügendes Angebot, oder um eine „Holschuld“ der Studierenden, welche nach dieser Denkfigur nicht bereit und in der Lage wären, vorhandene Lehrangebote selbstverantwortlich zu nutzen. Vorausgesetzt sind einschlägige curriculare Verordnungen der Wissenschafts- und Bildungsministerien, die zumindest Rahmenvorstellungen über erwünschte und sinnvoll erachtete Kenntnisse und Kompetenzen bei Lehrkräften enthalten sollten, welche dann von den universitären Institutionen in ein entsprechendes Lehrangebot (einschließlich der diesen Wissens- und Kompetenzerwerb kontrollierenden Prüfungen) umgesetzt werden sollten. Dabei besteht für die Studierenden immer die Herausforderung, sich aktiv und eigenständig mit diesem Angebot auseinanderzusetzen. Allerdings ist der an Universitäten vorausgesetzte hoch motivierte Lerner eine Idealvorstellung, die nicht immer der Realität entspricht. Aber den jedem prokrastinierenden Anstregungsminimierer zur Verfügung stehenden Rationalisierungen soll hier nicht mit Widerlegungsversuchen begegnet werden; hingegen wird beabsichtigt, ein Angebot zu gestalten, das zum Lesen und Lernen verführt und das auf einer fachlich-wissenschaftlichen Grundlage einer Lehrkraft helfen soll, auftretende Probleme im Schulalltag fundiert anzugehen und auch zu lösen.
Von einer angehenden oder bereits im Beruf stehenden Lehrkraft wird erwartet, auch die Schüler zu „verstehen“, die nicht problemlos bereit sind, den Zielen der Institution Schule zu folgen. Der Begriff des „Verstehens“ wird hier nicht im Sinne einer human-karitativen Haltung verwendet, sondern als kognitive Kompetenz, mögliche Probleme im Unterricht fachkundig zu erfassen, für deren Erklärung einschlägiges Hintergrundwissen zur Verfügung zu haben und auch das |8|Methodenarsenal zu kennen, mit dem man vorbeugend oder pädagogisch handelnd mit diesen Problemen umgehen kann.
Bei dieser Aufgabe muss man nicht bei null anfangen. Auf der einen Seite gibt es Beratungsliteratur, die sehr praktisch ausgerichtet ist und unabhängig von der Sichtung der wissenschaftlichen Literatur zur Beschreibung, Verursachung und Verbreitung von Auffälligkeiten den Lehrkräften im Schulalltag praktische Hilfen zu deren Bewältigung in die Hand geben will. Ein solches Beispiel ist das Werk von Becker (2006), das aus einem reichen Erfahrungswissen um die Probleme des Schulalltags gespeist wird und sowohl konkrete Handlungsempfehlungen beinhaltet wie auch ein systematisches Raster zur Einordnung von schulischen Konflikten enthält. Ein weiteres Beispiel ist ein Werk von Kliebisch und Meloefski (2009), das ausgehend von häufig vorzufindenden Kategorien (etwa „Stress und Stressbewältigung“, „Zeit-Management“, „Selbst-Management des Lehrers“) theoretisch begründete Deutungs- und Handlungsempfehlungen anbietet. Diese Werke sind mit ihren Übungsmöglichkeiten auch für Seminarveranstaltungen konzipiert. Wollte man sich hierzu kritisch äußern, so könnte man die fehlende systematische Aufarbeitung vorhandener wissenschaftlicher Studien zu diesen Themen anmerken.
Ebenso gibt es in der Entwicklungspsychopathologie eine reichhaltige Literatur zu all diesen Themen. Allerdings richtet sich diese naturgemäß an Psychologen, Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendpsychiater und beinhaltet daher andere Schwerpunkte. Zudem bestehen zwar vielerlei Beziehungen zwischen einer klinischen Sichtweise von auffälligen Verhaltens- und Erlebnisweisen bei Kindern und Jugendlichen und den pädagogischen Möglichkeiten im Rahmen der Schule, aber naturgemäß auch Differenzen. Ein Unterschied besteht etwa in der Schwere eines Problems: Eine klinische Behandlung wird immer erst dann einsetzen, wenn die Möglichkeiten des sozialen Umfeldes, konstruktiv mit Problemen der Schüler umzugehen, als nicht mehr ausreichend eingeschätzt werden (vgl. Kap. 1). Auch besteht die Gefahr einer ungerechtfertigten Pathologisierung von Kindern und Jugendlichen, wenn jeder schulische Regelverstoß in eine psychiatrische Diagnose umgesetzt wird. Jegliche Erziehungsschwierigkeit wäre demnach ein mit Mitteln der Psychotherapie zu behebender Missstand und viele Kinder wären demgemäß Patienten der Psychiatrie; das aber entspricht nicht dem Potenzial und dem Selbstverständnis von Laienerziehern oder professionellen Pädagogen.
Dem gegenüber sind die Kompetenzen von Lehrkräften, Eltern und anderen Erziehern zu sehen, die in den verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern (Familie, Kindergarten, Schule, Freizeiteinrichtungen) mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, Kinder und Jugendliche für die Gesellschaft handlungsfähig zu machen. Allerdings ist bei pädagogischem Handeln (wie auch |9|bei anderen sozialen Interventionen) der Erfolg nicht garantiert, denn bekanntlich ist „Erziehung“ ein Versuchs- und kein Erfolgsbegriff3 und nicht jeder, der schießt, trifft auch ins Schwarze. Man muss sich also im pädagogisch-psychologischen Bereich von einem Machbarkeitswahn verabschieden, was nicht immer den Wünschen ehrgeiziger Eltern oder gutmeinender Pädagogen entspricht. Andererseits geht es auch nicht darum, nur subjektiv begründete Ratschläge als Grundlage des Handelns zu verwenden. Gerade für die hier angesprochenen Problemfelder gibt es eine Vielzahl von Interventionsvorschlägen und -programmen, die auf ihre Wirksamkeit geprüfte Beratungs-, Förder- und Interventionsmaßnahmen beinhalten. Auf diese soll hier mit dem Ziel verwiesen werden, Lehrkräften gegebenenfalls einen Methodenbaukasten zur Verfügung zu stellen, auf den sie bei Bedarf zurückgreifen können. Dass aber nicht jeder, der ein gutes Kochbuch besitzt, auch ein guter Koch wird, sei nebenbei bemerkt.
Da in Deutschland das Schulwesen Ländersache ist, sind die schulorganisatorischen und schulrechtlichen Rahmenbedingungen, die bei der Prävention von Auffälligkeiten und der Förderung von Schülern wichtig sind, von Land zu Land unterschiedlich. Selbst bundesweit einheitliche Verpflichtungen, die im Rahmen der Kultusministerkonferenz beschlossen wurden (z. B. die Einführung eines Beratungslehrersystems), werden höchst unterschiedlich (oder auch gar nicht) umgesetzt. Auf diese vielfältigen Differenzen kann hier nicht eingegangen werden, dafür sollen aber beispielhaft die Gegebenheiten in Bayern behandelt werden; für spezielle Möglichkeiten in anderen Ländern muss bei den jeweils zuständigen Ministerien recherchiert werden.
Einleitend wurde auf die Geschichte dieses Projekts verwiesen: Die Materialien dieses Buches wurden zuerst für einen universitären E-Learning-Kurs entwickelt. So ein Kurs bietet einige didaktische und gestalterische Möglichkeiten, die über ein Buchmedium hinausgehen (z. B. das Einbinden von Film- und Audiodateien zu Illustration der Themen, Links zu weiterführenden Texten, interaktive Frage- und Antwortspiele). Da nach unserer Überzeugung ein E-Learning-Kurs besonders dann wirksam ist, wenn er als tutoriell betreutes Angebot gestaltet wird, ist so ein Vorgehen nicht unbedingt ökonomisch, da dies einen hohen Arbeits- und Rückmeldungsaufwand von Seiten der Tutoren bedeutet. Ein Buch ist hingegen, wenn es nicht zusätzlich in ein Präsenzseminar mit entsprechendem fachlichem Austausch eingebunden ist, eine Selbstlernumgebung, die vom Leser oder Ler|10|ner allein bearbeitet werden muss. Der weitgehend gleiche Aufbau der einzelnen Kapitel mit den abschließenden Schwerpunkten der Prävention und Intervention (Beratung bzw. Förderung) soll zu einer intensiven Auseinandersetzung verleiten.
Regensburg, Frühjahr 2016 | Helmut Lukesch |
Literatur
Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband e. V. (BLLV) (Hrsg.). (2009). Einzelergebnisse aus der Studie von Dr. Richard Sigel, Dozent an der Ludwig-Maximilians Universität München. Zugriff am 05. 05. 2015 unter http://www.bllv.de/uploads/media/Material_aus_PM_Sigel_und_Kahlert-1.pdf
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