|14|2 Störungstheorien und Erklärungsmodelle
2.1 Kognitive Theorien
Im Folgenden wird auf die kognitive Theorie von Beck und Mitarbeitern sowie auf das Modell von Clark und Wells eingegangen.
2.1.1 Die Theorie von Beck
Nach der Theorie von Beck, Emery und Greenberg (1985) stellen negative kognitive Schemata die zentrale Ursache für die Entwicklung psychischer Störungen dar. Wenn die kognitiven Schemata durch Stressoren wie Lebensereignisse oder besondere Anforderungen aktiviert werden, so entwickeln sich die problematischen Emotionen und Verhaltensweisen. Dies bedeutet, dass nach Beck et al. (1985) eine erfolgreiche Behandlung die Veränderung der problematischen kognitiven Schemata voraussetzt.
Charakteristisch für Soziale Angststörungen sind nach Beck et al. (1985) u. a. folgende Schemata:
Bewertungen des Selbst als inkompetent oder Versager,
die übermäßige Gewichtung der Bewertung durch andere und gesellschaftlicher Normen,
die Sichtweise, dass andere Menschen immer sehr kritisch in ihrer Beurteilung sind,
perfektionistische Standards der Bewertung des eigenen Verhaltens,
Rollenangemessenheit des eigenen Verhaltens.
Solche negativen kognitiven Schemata werden nach Beck et al. (1985) in Form von konditionalen oder unkonditionalen Annahmen im Gedächtnis gespeichert. Unkonditionale Annahmen sind Grundüberzeugungen, die absolute Bewertungen enthalten (z. B. „Ich bin ein Außenseiter“ oder „Ich bin nicht liebenswert“). Konditionale Annahmen sind Wenn-dann-Verknüpfungen, etwa der Art „Wenn andere merken, dass ich ängstlich bin, werden sie mich ablehnen“. Diese kognitiven Schemata bilden die Disposition zur Entwicklung von Sozialen Angststörungen. Ihre Aktivierung in späteren Lebensphasen führt zur Auslösung der Störung.
Als beobachtbares Resultat dieser Schemata erleben Patienten mit Sozialen Angststörungen negative automatische Gedanken in angstauslösenden Situationen oder in Erwartung solcher Situationen. Solche Gedanken sind zum Beispiel: „Die anderen finden mich lächerlich“, „Die anderen sehen mir an, dass ich unfähig bin“ (siehe Fragebogen zu sozialphobischen Kognitionen (SPK) im Anhang, S. 118). Diese Gedanken werden als „automatisch“ verstanden, da sie nur wenig Aufmerksamkeitskapazität erfordern und habitu|15|ell ablaufen, im Gegensatz zu kontrollierten (oder „strategischen“) Verarbeitungsprozessen, die zielorientiert und bewusst ablaufen. Dies heißt nicht, dass diese Gedanken völlig unbewusst sind. Sie gelten als zumindest potenziell bewusst wahrnehmbar. Automatische Gedanken bieten einen guten Einstieg in die Therapie, da sie am leichtesten einer Identifikation und Veränderung zugänglich sind. Die Veränderung dysfunktionaler Grundüberzeugungen ist durch kognitive Verzerrungen wie Übergeneralisierung oder selektive Abstraktion des Patienten erschwert, und stellt daher besondere Anforderungen an den Therapeuten.
Die Entstehung der negativen kognitiven Schemata kann auf unterschiedliche Einflüsse und Erfahrungen im Laufe der frühen Entwicklung zurückgeführt werden. Sie können z. B. durch Modelllernen von den Eltern übernommen werden oder durch elterliche Erziehungsstile verstärkt worden sein (vgl. Kapitel 2.2). Auch eine überkritische oder überbehütende Haltung der Eltern kann die Entwicklung eines positiven Selbstbildes und von Selbstvertrauen behindern. Auf die gleiche Weise können auch psychische Störungen der Eltern, insbesondere Soziale Angststörungen, auf direkte Weise das Risiko zur Entwicklung einer Sozialen Angststörung bei Kindern erhöhen (Lieb et al., 2000). Weiterhin tragen auch soziale Misserfolgserlebnisse (von Mitschülern gehänselt oder vor der Klasse ausgelacht werden) und traumatisierende Erfahrungen im engeren Sinne, etwa sexueller Missbrauch, zu negativen Schemata bezüglich des Selbst oder der Bewertung durch andere bei.
Vor allem aber sind es ungünstige Erfahrungen in Übergängen von einer Entwicklungsphase zur nächsten, die die Entwicklung von Sozialen Angststörungen begünstigen. Insbesondere in der frühen Adoleszenz, wenn die eigenen sozialen Fähigkeiten noch nicht weit entwickelt sind, kann es durch überzogene Erwartungen der Umwelt und einer Überforderung des sozialen Verhaltensrepertoires zur Entwicklung ungünstiger Überzeugungen kommen (vgl. Beck et al., 1985, S. 92). Die Belastungen, die mit dieser Entwicklungsphase einhergehen, aktivieren somit die negativen Schemata. Nicht zufällig entwickeln sich behandlungsbedürftige soziale Ängste zum ersten Mal in dieser Lebensphase. Von klinischer Bedeutung ist die Beobachtung, dass die negativen Schemata trotz der Entwicklung eines angemessenen Repertoires an sozialen Fähigkeiten längerfristig bestehen bleiben und nicht korrigiert werden.
2.1.2 Das Modell von Clark und Wells
Auch Clark und Wells (1995) nehmen an, dass Personen mit Sozialen Angststörungen in sozialen Situationen eine Bedrohung wahrnehmen, weil individuell unterschiedliche problematische Überzeugungen aktiviert werden, die sie aufgrund früherer Erfahrungen entwickelt haben (siehe auch Clark & Ehlers, 2002). Es kann sich hierbei um konditionale Überzeugungen (z. B. |16|„Wenn ich nicht viel sage, denken die anderen, dass ich ein Langeweiler bin“, „Wenn Menschen mich näher kennenlernen, werden sie mich ablehnen“), unkonditionale Überzeugungen (z. B. „Ich bin nicht liebenswert“, „Ich bin merkwürdig“) oder übertriebene Standards an das eigene Verhalten (z. B. „Ich muss mich immer intelligent anhören“, „Ich darf nur sprechen, wenn andere eine Pause machen“) handeln.
Clark und Wells (1995) stellten sich die wichtige Frage, warum sich diese Überzeugungen nicht geändert haben, obwohl die Betroffenen im Alltag viele Erfahrungen gemacht haben, die ihren sozialphobischen Überzeugungen widersprechen. Soziale Situationen können (im Gegensatz zu vielen anderen phobischen Stimuli) in unserer Gesellschaft nicht durchgängig vermieden werden. So müssen sich Personen mit Sozialen Angststörungen immer wieder den gefürchteten Situationen stellen und erleben dabei im Allgemeinen nicht die erwarteten negativen Reaktionen anderer Menschen. Diese Konfrontation sollte nach traditionellen verhaltenstherapeutischen Ansätzen zu einer Reduktion der Angst aufgrund von Habituation und aus kognitiver Sicht zu einer Korrektur der sozialphobischen Überzeugungen führen. Trotzdem erleben die Betroffenen über viele Jahre hinweg intensive Angst in sozialen Situationen.
Clark und Wells (1995) erklären die Aufrechterhaltung der sozialen Ängste und problematischen Überzeugungen durch Prozesse in der Informationsverarbeitung in sozialen Situationen. Die zentralen Faktoren sind: (1) erhöhte Selbstaufmerksamkeit und Verarbeitung des Selbst als soziales Objekt (dies beinhaltet verzerrte Eindrücke und Vorstellungen, wie man auf andere wirkt); (2) Sicherheitsverhalten sowie (3) problematische antizipatorische und nachträgliche Verarbeitungsprozesse.
Exzessive Selbstaufmerksamkeit und verzerrte Verarbeitung des Selbst als soziales Objekt
Wenn Personen mit Sozialer Angststörung in einer sozialen Situation eine negative Bewertung durch andere Menschen erwarten, wenden sie ihre Aufmerksamkeit (oft automatisch) in extremer Weise auf eine detaillierte Selbstbeobachtung und Überprüfung ihrer selbst (exzessive Selbstaufmerksamkeit). Welchen Eindruck sie auf andere machen und wie diese über sie denken, schließen sie aufgrund interner Informationen (d. h. Körperempfindungen, Gefühle, Vorstellungsbilder), die sie aus der Selbstbeobachtung gewinnen.
Gefühle und Körperempfindungen. Die Betroffenen setzen ängstliche Gefühle und Körperempfindungen mit ängstlichem Aussehen gleich, eine sog. emotionale Beweisführung (Mansell & Clark, 1999): „Weil ich mich ängstlich fühle, beweist dies, dass ich extrem ängstlich aussehe.“ Das kann zu deutlichen Verzerrungen führen. Zum Beispiel schlussfolgern viele Patienten aus dem „Gefühl“ zu zittern oder zu schwitzen, dass das Zittern oder |17|Erröten so stark ist, dass es anderen Menschen auffällt; tatsächlich sind diese körperlichen Symptome jedoch kaum merklich oder überhaupt nicht sichtbar (Hackmann, Clark & McManus, 2000).
Verzerrte Vorstellungsbilder des sichtbaren Selbst. Viele Personen mit Sozialer Angststörung erleben in...