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Aufmerksamkeitsdefizite

Wie das Internet unser Bewusstsein korrumpiert und was wir dagegen tun können

AutorAndreas Neider
VerlagVerlag Freies Geistesleben
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl196 Seiten
ISBN9783772541292
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Das Internet in seiner heutigen Form hat gravierende Folgen für die Entwicklung unseres Bewusstseins. Andreas Neider macht diese Wirkungen anhand vieler Beispiele deutlich. Er bleibt jedoch nicht bei einer kritischen Betrachtung stehen, sondern zeigt, wie durch einen beherrschenden Umgang mit den neuen Medien und durch seelische Übungen unser Bewusstsein gestärkt werden kann.

Andreas Neider, geboren 1958, studierte Philosophie, Ethnologie, Geschichte und Politologie in Berlin. Er war 17 Jahre im Verlag Freies Geistesleben als Lektor und Verleger tätig. Seit 2002 leitet er die Kulturagentur «Von Mensch zu Mensch» und ist Referent für Medienpädagogik und digitale Medien in der Jugend- und Erwachsenenbildung. Zudem veranstaltet er die jährlichen Stuttgarter Bildungskongresse. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher u.a.: «Medienbalance. Erziehen im Gleichgewicht mit der Medienwelt - Ein Elternratgeber», «Brauchen Jungen eine andere Erziehung als Mädchen?» und «Flucht in virtuelle Welten? Reale Beziehungen mit Kindern gestalten».

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Leseprobe

Die Korrumpierung des
Bewusstseins durch das Internet


Aufmerksamkeitsdefizite. Die «Taylorisierung» des Bewusstseins durch digitale Medien


Nicholas Carr, ein amerikanischer Journalist, der vor allem für wissenschaftliche Zeitschriften arbeitet, war wohl einer der Ersten, die ihr Unbehagen über die Entwicklung des Internets öffentlich zum Ausdruck brachten. In seinem Buch 2010 erschienenen Buch Wer bin ich, wenn ich online bin, und was macht mein Gehirn solange? hat er eine Kritik mit provokanten Thesen veröffentlicht. Bereits 2008 hatte er in The Atlantic festgestellt: «Das Internet scheint meine Fähigkeit zur Konzentration und Kontemplation auszuhöhlen. Mein Geist erwartet jetzt, Informationen auf eine solche Weise aufzunehmen, wie das Internet sie verteilt: in einem schnell bewegten Partikelstrom.»13

In einem Beitrag zu einer Anthologie mit der Frage «Wie hat das Internet Ihr Denken verändert?» fügt er dem eine Anekdote aus dem amerikanischen Hochschulalltag hinzu. Er erzählt, wie die Cushing Academy in Massachusetts, eine altehrwürdige private Elitevorbereitungsschule, stolz verkündete, anstelle von Tausenden von Büchern in Regalen stünden fortan modernste vernetzte Computer mit hochauflösenden Bildschirmen in der Bibliothek der Schule. «Cushings Bibliothek ohne Bücher würde, so prahlte der Schulleiter James Tracy, zu einem Vorbild für die Schule des 21. Jahrhunderts werden.»14

Dabei ging Tracy davon aus, wie er Carr bei einem Besuch des Internates mitteilte, dass beim Lesen das Medium doch keine Rolle spiele. Ob ein Student der Anglistik Geoffrey Chaucer in einem Buch oder an einem Bildschirm lese, sei letztlich einerlei. Diese weit verbreitete Auffassung aber hält Carr für einen gravierenden Irrtum. «Die Erfahrung des Lesens von Wörtern auf einem vernetzten Computer, ob es sich dabei um einen PC, ein iPhone oder einen Kindle handelt, unterscheidet sich stark von der Erfahrung des Lesens derselben Wörter in einem Buch. Als Technik fokussiert ein Buch unsere Aufmerksamkeit und schottet uns von den unzähligen Ablenkungen ab, die unser Alltagsleben ausfüllen. Ein vernetzter Computer tut das gerade Gegenteil. Er soll unsere Aufmerksamkeit streuen. Er schirmt uns nicht vor Ablenkungen aus der Umgebung ab, sondern stellt eine zusätzliche Ablenkung dar. Die Wörter auf einem Computerbildschirm sind umgeben von einer Vielzahl konkurrierender Reize.»15

Und selbst der überzeugte spirituelle Materialist Thomas Metzinger, der sein Selbst, seine Seele, für eine Machination seines Gehirns hält, stellt in dem genannten Buch fest: «Onlinesucht ist seit langem ein einschlägiger Begriff in der Psychiatrie. Viele junge Leute (darunter eine zunehmende Anzahl von Hochschulstudenten) leiden an Aufmerksamkeitsdefiziten und können sich nicht mehr auf altmodische, serielle, symbolische Informationen konzentrieren; plötzlich fällt es ihnen schwer, gewöhnliche Bücher zu lesen. … Überall wird alles schneller.»16

Was also geschieht mit uns, wenn wir das Internet nutzen? Wie lassen sich die oben zitierten Beobachtungen und Befürchtungen erklären? War das Internet nicht eben noch die Befreiung der Menschheit durch den freien Zugang zu sämtlichen Informationen, ja zum gesamten Wissen der Menschheit? Sind die Ziele, die zum Beispiel der Internetgigant Google mit seiner Onlinebibliothek, diesem universellen Gedächtnis der Menschheit, verfolgt, nicht eben noch per Börsengang geradezu vergoldet worden? Wird uns nicht ständig eingeredet, per Facebook könne man praktisch mit der gesamten Menschheit Freundschaften schließen, über sämtliche bisherigen Trennungen und Grenzen hinweg – und das alles zum Nulltarif? Und bietet das Internet nicht unzähligen Menschen enorme Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Kreativität, schafft es nicht eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze? Sind das nicht alles Gründe, das Internet als eine Segnung der Menschheit, als Gipfel des Fortschritts zu verehren?

Was ist mit all diesen Verheißungen einer «schönen, neuen Welt»?17 Sind wir hier vielleicht doch der Illusion eines Paradieses aufgesessen? Und symbolisiert nicht gerade der Name und das Logo des weltweit am meisten geschätzten Computerherstellers Apple, dass wir durch den Biss in den Apfel aus dem Paradies vertrieben wurden?

Es ist schon sehr merkwürdig, wie sich in den letzten zehn Jahren unser Alltag, ob privat oder bei der Arbeit, durch das Internet grundlegend verändert hat. Zuvor war es gewöhnlicherweise so, dass wir zum Beispiel einmal am Tag Post bekamen. Im Büro wurde sie von einer Sekretärin geöffnet, eine Postmappe ging dann von Mitarbeiter zu Mitarbeiter herum, und jeder bearbeitete die für ihn bestimmten Briefe oder Unterlagen. Der Absender eines Briefes erwartete die Antwort vielleicht innerhalb einer Woche, mitunter musste er aber auch mehrere Wochen auf sie warten.

Heute bekomme ich allein täglich so viele E-Mails wie früher ein ganzes Unternehmen am Tag. Und sie erreichen mich nicht nur einmal am Tag, sondern von morgens bis abends. Der Absender erwartet eine Antwort meist schon am selben Tag, spätestens am nächsten, denn danach sind bereits so viele neue E-Mails versendet oder eingegangen, dass die alten dabei unterzugehen drohen. Der Rhythmus des Geschäftsverkehrs und der Bürokommunikation hat sich also mindestens versiebenfacht. Was früher innerhalb von einer Woche ablief, geschieht heute an einem Tag. Besonders hart trifft es jene Menschen, die in einem Konzern mit ausländischen Geldgebern arbeiten. Denn dort kommen aufgrund der Zeitverschiebung dann jede Nacht neue Anweisungen für den nächsten Tag per E-Mail, sodass man einem enormen Zeitdruck ausgesetzt ist.

Noch schneller aber läuft bei vielen, vor allem jüngeren Menschen die Kommunikation per Telefon, sprich Handy. Da ruft man Freunde, die man vor zehn Jahren vielleicht einmal am Tag gesprochen hat, um wichtige Dinge mitzuteilen oder zu besprechen, gar nicht mehr an, sondern schickt eine SMS, eine Textbotschaft von gewöhnlich nicht mehr als drei bis fünf Zeilen Länge, kürzt dafür viele Worte durch Abkürzungen ab (statt «liebe Grüße» schreibt man LG). Und das Ganze erfolgt unter Umständen mehrmals am Tag.

Die Internet- und Medienkritikerin Sherry Turkle erzählt in ihrem Buch Verloren unter 100 Freunden18 folgende Geschichte: Sie war auf der Suche nach einem neuen Kindermädchen und besuchte eine der Bewerberinnen in deren Wohngemeinschaft. Eine Mitbewohnerin öffnete ihr die Tür. Sherry Turkle bat um Nachricht an die Bewerberin. Die Mitbewohnerin aber klopfte dazu nicht an deren Tür, sondern sendete ihr, «um nicht zu stören», eine SMS. Selbst in einer Wohngemeinschaft wird der ehemals persönliche Kontakt durch eine SMS ersetzt. Auch hier hat sich die Kommunikationsdichte einerseits beschleunigt, d.h. die Kontakthäufigkeit hat sich ebenfalls vervielfacht, andererseits wird die Kommunikation fragmentiert, SMS-Botschaften bestehen häufig nur noch aus Wortfragmenten.

Diese Form der Kommunikation ist aber nicht auf das Privatleben beschränkt. Im Gegenteil, in vielen Unternehmen ist heute die Grenze zwischen Büroalltag und Privatleben aufgehoben, weil erstens die Unternehmen selbst ihre Mitarbeiter durch E-Mail-Verkehr und SMS unter Druck setzen; selbst nebeneinander in einem Büro Arbeitende senden sich gegenseitig E-Mails. Die enorme Anzahl von zu bewältigender Korrespondenz hat auch dazu geführt, dass viele Mitarbeiter diese deshalb von zu Hause aus, auch am Wochenende, weiter bearbeiten, schon allein deshalb, um am Montagmorgen nicht in einer Flut unbeantworteter Mails zu ertrinken.

Dazu kommt nun zweitens noch, dass Kunden von Unternehmen, beispielsweise einer Bank, von einem Kundenberater erwarten, dass er doch bitte ihre Anfragen auch am Wochenende von zu Hause aus weiter bearbeitet. Die Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben sind damit fast vollständig verschwunden. Die Folge ist eine immer weiter um sich greifende Überlastung von Firmenmitarbeitern, ein enormer Anstieg von Burnout-Erkrankungen bis hin zu Selbstmordwellen in bestimmten Branchen, zum Beispiel bei der französischen Telekom.

Eine einfache Betrachtung der Zusammenhänge kann aber leicht erklären, womit diese Erscheinungen zusammenhängen. Das Phänomen der Beschleunigung zeigte sich zuerst im Industriezeitalter, das dem Informationszeitalter vorangegangen ist. Damals, vor 100 Jahren, wurde durch F. W. Taylor die Industriearbeit beschleunigt.19 Im Jahre 1878 begann Taylor bei der Midvale Steel Company zu arbeiten. Als Vorarbeiter des Stahlwerkes beschäftigte er sich mit Messgrößen für die Industrieproduktivität. Er entwickelte detaillierte Systeme, um die größtmögliche Nutzleistung aus den Arbeitern und den Maschinen im Werk herauszuholen. Diese Systeme beruhten auf Zeitstudien, mit deren Hilfe die besten Methoden ermittelt werden konnten, um eine Aufgabe mit geringstem Zeitaufwand zu erfüllen.

Diese Beschleunigung bezog sich zunächst auf die Herstellung materieller Güter. Die vormalige Fertigung per Hand wurde dadurch...

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