VORWORT
Welches Land kann sich seine Freiheit erhalten, wenn die Herrscher nicht von Zeit zu Zeit gewarnt werden, dass ihr Volk sich den Widerstandsgeist bewahrt hat?
Thomas Jefferson, US-amerikanischer Präsident 1801–1809
Deutschland 1918: Eine als Soldatenstreik angedachte Matrosenrevolte wird durch politische Agitation erst zum Volksaufstand gegen Hunger und Krieg, dann zur Revolution, die innerhalb weniger Tage das Wilhelminische Kaiserreich hinwegfegt. Es ist der erste überwältigende Sieg einer deutschen Aufstandsbewegung der Neuzeit. Sie bringt ein politisches System zum Einsturz, das für Jahrzehnte unerschütterlich schien, und endet mit der Gründung der ersten Republik Deutschlands.
Die Novemberrevolution von 1918 müsste dementsprechend ein populäres Ereignis der deutschen Geschichte sein. Besonders, weil zum Zeitpunkt des Erscheinens der vorliegenden Zweitausgabe von »Aufstand. Die Deutschen als rebellisches Volk« das 100-jährige Jubiläum jenes fundamentalen historischen Ereignisses ansteht, das in der Deutschen Geschichte eine größere Zäsur darstellt, als es die Wende 1989 war – doch weit gefehlt.
Die jüngst veröffentlichten Monografien zu diesem Thema lassen sich an einer Hand abzählen. Zu sehr haftet dem revolutionären Volksaufstand von 1918 der Makel des Scheiterns an. Dabei wird übersehen, dass die deutschen Revolutionäre binnen weniger Wochen die Existenz von 22 Bundesfürstentümern beendeten und wenig später die politischen Verhältnisse Deutschlands mit der Gründung der Weimarer Republik in die Moderne wuchteten. Die atemberaubende Schnelligkeit, mit der das geschah, musste zu schweren innenpolitischen Verwerfungen und Konflikten zwischen den rivalisierenden revolutionären Kräften von SPD, USPD sowie Arbeiter- und Soldatenräten führen und den Widerstand rechtskonservativer Kräfte wecken. Dass diese sich letztendlich durchsetzten und Hitler den Weg bahnten, ist tragisch, nimmt der Novemberrevolution jedoch nicht ihre Größe. Dass sie eine Terrorherrschaft nach sich zog, mindert nicht ihre historische Bedeutung für die deutsche Geschichte.
Wäre dem so, dürfte England weder eines Oliver Cromwells gedenken, der nach der Hinrichtung von König Karl I. von England eine Diktatur errichtete; noch dürften die Franzosen die Revolution von 1789 als Monumentalereignis ihrer Geschichte vergöttern, die Frankreich die Terrorherrschaft Robespierres brachte. Was jedoch die Novemberrevolution von den geschilderten englischen und französischen Umstürzen unterscheidet, ist, dass ihr charismatische Heldengestalten fehlen und sie nicht zum Stiftungsmythos deutscher Demokratie wurde. Daran konnte auch der kurzlebige Revolutionskult zu Zeiten der DDR nichts ändern. Bis heute ist die Novemberrevolution ein Stiefkind deutscher Geschichte – wie so viele andere Rebellionen und Umsturzversuche auf deutschem Boden.
So haben Volksaufstände wie der Deutsche Bauernkrieg 1525 oder die Revolution von 1848/49 nie wirklich den Weg ins Geschichtsbewusstsein der breiten Öffentlichkeit der BRD gefunden, im Gegensatz zur im Jahre neun nach Chr. geschlagenen Varusschlacht und der 1989 einsetzenden Wende in der DDR.
Zweitausend Jahre bewegter Geschichte liegen zwischen diesen beiden Daten, die als Schlüsselereignisse äußerst bedeutend für die deutsche Nationalidentität und Nationenbildung geworden sind. Eins vor allem kennzeichnet diese epochalen Wendemarken deutscher Geschichte: dass sie siegreiche Aufstände waren – der eine ein klassischer Befreiungskampf, der andere eine Revolution.
Beide Aufstände beseitigten unerträgliche Rechts- und Gesellschaftszustände und brachten das zurück, wonach die Menschheit nach Ansicht des französischen Philosophen Albert Camus seit Anbeginn ihrer Schöpfung strebt: Freiheit, eine gerechtere Gesellschaftsordnung und nationale sowie individuelle Selbstbestimmung. Im Kampf gegen die römischen Unterdrücker und in der Ablehnung des SED-Überwachungsstaats fanden sowohl die Krieger des Arminius wie auch die Demonstranten des Jahres 1989 zu einer neuen gesellschaftlichen Identität, die man mit den berühmten Worten Camus’ treffend beschreiben kann: »Ich empöre mich, also sind wir.«
Einmal begonnen, kannten diese Erhebungen kein Zurück und entwickelten eine seltsame, nicht aufzuhaltende Eigendynamik. Um diese überhaupt entwickeln zu können, mussten sie zunächst in Gang gebracht werden – eine der Hauptschwierigkeiten bei Aufständen. In eindrucksvoller Weise verdichtet Friedrich Schiller in seinem Wilhelm Tell den Schlüsselmoment einer jeden Erhebung, den Punkt ohne Umkehrmöglichkeit, der jedem Aufstand, jeder Revolte und jeder Revolution eigen ist.
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last – greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ewgen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst –
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben –
Der Güter höchstes dürfen wir verteidgen
Gegen Gewalt – Wir stehn vor unser Land,
Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder! 1
Mit dem Verweis auf die Verzweiflung durch Unterdrückung, mit dem Hinweis auf das ewige Recht spielt Schiller auf einen alten menschlichen Traum an: auf den einer idyllischen und gerechten Urgesellschaft, die keine Hierarchien, sondern nur eine freiheitliche Anarchie gleichberechtigter Individuen kennt. Dies ist stets das Programm einer Rebellion: die Wiederherstellung eines alten Rechtszustands, der von der Masse der Bevölkerung im Vergleich zu den gegenwärtigen Verhältnissen als gesellschaftliches Ideal empfunden wird.
Was aber ist der Unterschied zwischen Aufstand, Rebellion und Revolution?
Zunächst einmal gilt festzuhalten, dass ein Aufstand meist eine bewaffnete Erhebung einer größeren gesellschaftlichen Gruppe gegen die herrschende Macht ist. Protestaktionen, die sich in Krawallen und Tumulten erschöpfen, werden meist Aufruhr oder Unruhen genannt.
Zu den schwersten Formen des Aufstands gehören der Volksaufstand, die nationale Erhebung oder der Befreiungskampf gegen eine fremde Besatzungsmacht, die Rebellion oder die Revolution. Volksaufstände – im romanischen und englischen Sprachraum auch »Revolten« genannt – entstehen meist spontan, wie Leo Trotzki, einer der brillantesten revolutionären Taktiker, beschreibt:
Als elementaren Aufstand bezeichnen Historiker und Politiker gewöhnlich eine solche Massenbewegung, die, geeint durch Feindschaft gegen das alte Regime, weder klare Ziele, noch ausgearbeitete Kampfmethoden, noch eine bewusst zum Siege führende Leitung besitzt.
Im Gegensatz zum Volksaufstand können Befreiungskämpfe, Rebellionen und Revolutionen durchaus zentral geleitet sein. Da in diesem Buch neben Volksaufständen vor allem von Rebellionen und Revolutionen die Rede sein wird, lohnt es sich, an dieser Stelle genauer auf ihre Begrifflichkeit einzugehen.
Die Bezeichnung eines Aufstands als »Rebellion« bedeutete im 18. Jahrhundert noch wortwörtlich nichts anderes als »Wiederaufnahme des Krieges«, und zwar meist durch die zuvor unterlegene Partei. Später wurde der Begriff zu einem weiteren Synonym für Revolte, Empörung und Aufstand. Innerhalb dieser Begriffsgruppe nimmt die »Revolte« eine Sonderfunktion ein. Sie kennzeichnet oft einen lokal begrenzten, unmittelbar entstehenden Aufstand einer relativ kleinen Gruppe Unzufriedener wie beispielsweise der Matrosen des III. Geschwaders während der Kieler Matrosenrevolte 1918.
Der Begriff »Revolution« ist spätlateinischen Ursprungs und entstammt dem astronomischen Werk De revolutionibus orbeum coelestium (»Von der Umdrehung der Himmelskörper«) von Nikolaus Kopernikus. Er bedeutet so viel wie »Umwälzung« oder »Umdrehung« und beschrieb ursprünglich nichts anderes als die Umlaufbahnen von Planeten. Bald jedoch wurde der Begriff politisiert. Als »Revolution« bezeichnete man vorerst einen durch Gewalt herbeigeführten Umsturz ohne tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen, zum Beispiel die 1688 erfolgte »Glorious Revolution« in England, die mit dem Sturz Jakobs II. und der Einführung der konstitutionellen Monarchie endete. Erst später wurde der Begriff durch die Französische Revolution von 1789 zu dem, was wir heute idealtypisch unter »Revolution« verstehen: eine durch einen gewaltsamen Umsturz bedingte, tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, die den Willen zum Neuen hat und meist mit der völligen Entmachtung der herrschenden Gesellschaftsschicht endet. Albert Camus sah den Unterschied zwischen »Revolte« (Aufstand/Rebellion) und »Revolution« darin, dass die Revolte nur Menschen, die Revolution aber Menschen und Prinzipien tötet und aufgrund einer Idee von Herrschaft ein neues System errichtet.
Doch Camus’ Erklärungsmuster, so trefflich es auch ist, richtet den Revolutionsbegriff allzu starr an den Ergebnissen der Französischen Revolution aus und berücksichtigt nicht ihre schrittweise Eskalation. Die Französische Revolution verlief weder nach Plan, noch dachten die Bastillestürmer an einen Systemwechsel. Denn 1789 war aufseiten der Empörer zwar der Wille zur politischen Veränderung da, aber kein systemumwälzendes Programm vorhanden. Alles begann mit einem Volksaufstand, mit dem Sturm auf die Bastille, der – wenn man so will – Frankreich jene...