"Es lebt heute wohl Niemand, der sich nicht Glück dazu wünschte, daß es sein Loos nicht ist, im achtzehnten Jahrhundert zu leben. Ist es doch, unter allgemeiner Zustimmung, zu einem Gegenstand des Spottes und Hohnes geworden. Selbst seine Kleidung und Sitten haben Etwas an sich, das unwiderstehlich zum Lächeln reizt. Seine Literatur steht – mit wenigen edlen Ausnahmen – vernachlässigt auf unseren Bücherbänken. Seine Dichtung hat alle Macht verloren über uns. Seine Wissenschaft ist verurtheilt ( exploded); sein Geschmack verdammt; seine kirchlichen Schöpfungen in die Winde zerstreut; seine religiösen Gedanken überlebt und auf raschem Wege zu vollständiger, vielleicht nicht einmal ganz verdienter Verachtung.
Es bedurfte all' des Überlegenheitsbewußtseins, welches das geistliche Gewand seinem Träger zu geben pflegt, um solche Worte über das menschlichste und fruchtbarste aller Jahrhunderte vor den Vertretern der englischen Wissenschaft in der alma mater der englischen Bildung auszusprechen. Im Grunde aber ist es doch nur die priesterliche Übertreibung eines Gefühls, das im heutigen England ziemlich allgemein ist. Ich weiß nicht, ob Herr Curteis, wohl noch ein junger Mann, als er jene kecken Worte sprach und erst beim Altkatholizismus angekommen – es war im Jahre 1871 – Rom seitdem um ein Beträchtliches näher gerückt ist; auch kömmt es auf's Persönliche hier gar nicht an. Ein solches Urtheil über das achtzehnte Jahrhundert, an solchem Ort vor solchem Publikum ausgesprochen, hat nur insofern ein Interesse, als es eine Seite der Reaktion gegen jenes Jahrhundert grell beleuchtet, welche der aufmerksame Beobachter als einen charakteristischen Zug der ganzen geistigen Bewegung Englands seit dreißig bis vierzig Jahren zu erkennen keine Mühe haben wird. Neben der großen Geringschätzung, welche die Radikalen Mill'scher Schule für eine Zeit an den Tag legen, wo England noch in den Banden der Aristokratie schmachtete, noch thöricht und ungerecht genug war, europäische Politik zu treiben und sich noch mit Philosophie abgab, hat sich auch der Widerwille einer Art Romantik gegen "die lange Herrschaft der Prosa" geregt, wie Leute, welche Poesie in einem Chorhemd mehr zu erblicken vermögen, die Zeit Fielding's und Goldsmith's zu nennen wagen.
Nichts gleicht in der That unserer Romantik von 1800 mehr als die sonderbare Bewegung der Geister in gewissen Kreisen Englands seit 1840 etwa. Es ist dieselbe Absichtlichkeit, derselbe Mangel an Unmittelbarkeit, dasselbe Gefallen an sogenannt poetischen Äußerlichkeiten, und, bei weniger historischem Sinn für Vergangenheit, dieselbe ganz unhistorische Sucht, die Gegenwart zurückzwängen zu wollen: Alles freilich in englischer Fassung und Weise. Die feste Geschlossenheit einer alten Gesellschaft voll starrer Konventionen erlaubt den englischen Romantikern die tollen Freiheiten nicht, die sich unsere Romantiker mit der Sitte nahmen; ein nationaler Staat und eine nationale Kirche stellen sich dem Spielen mit Staats- und Religionsfragen, in dem sich unsere christlich-germanischen Apostel gefielen, hindernd entgegen; die ungesunde, von der Blässe des Gedankens angekränkelte Sinnlichkeit unserer lüsternen Pedanten entwickelt sich nicht in der kräftigen Atmosphäre englischer Jugenderziehung und englischer Öffentlichkeit. Dagegen fehlt den englischen Romantikern auch die wunderbare Bieg- und Schmiegsamkeit unserer Romantiker, ihre philosophische Durchbildung, die Ironie namentlich, die ein Friedrich Schlegel ja fast als den Kern der neuen Lehre hinzustellen pflegte. Der Engländer ist zu sehr aus einem Stück, zu ernstgewissenhaft auch und steifwürdevoll, dabei viel zu realistisch gestimmt, als daß er's zu jener Virtuosität der Anempfindung brächte, seine Bestrebungen philosophisch durchgeistigte oder sich gar zu einer Schwärmerei verleiten ließe, welche das ganze gesellschaftliche Gebäude bedrohen könnte. Die Schwärmerei, die ja natürlich in England ebensowenig fehlen kann, als in irgend einem anderen Volke, wirft sich bei ihm immer auf's Religiöse und bleibt beinahe ausschließlich in den der höheren Bildung fremden Kreisen des Volkes. Jene modischen Romantiker aber sind gerade die Auserwählten der Bildung. Die ganze Bewegung ging ja von Oxford aus; und sie findet besonderen Anklang in den höchsten Sphären. In der Kirche begann sie unter dem Namen des Tractarianismus, der dann sich im Puseyismus und endlich im Ritualismus bestimmter als eine katholisirende Reaktion gestaltete. Sie ist ebenso gegen die Herrnhuter Schwärmerei als gegen die kirchliche Indifferenz des vorigen Jahrhunderts gerichtet. Sie sucht Befriedigung für das künstlerisch-sinnliche Bedürfnis und sucht es im Äußerlichsten: Priestergewändern, Kerzen, Gesang u.s.w. Die Wenigen, bei denen es tiefer geht, thun denn auch den Schritt des Schiller'schen Mortimer: sie werfen sich, wie Dr. Newman selber, in den Schoß Roms.
Neben dieser kirchlichen Richtung aber ist auch eine heidnische im Gang, welche ebensosehr wie jene gegen den Geist des achtzehnten Jahrhunderts gerichtet ist und welche, obgleich scheinbar im Gegensatze zur religiösen Reaktion, oder jedenfalls gleichgültig gegen dieselbe, im Grunde doch auf demselben Bedürfnis nach sinnlichreicheren Lebensformen beruht und auch wie diese sich beim Äußerlichsten begnügt. Ihr Ideal ist die italienische Renaissance und deren anscheinende Gleichgültigkeit gegen Stoff und Inhalt, deren Schwelgen in Formen und Farben. So hat sich eine Poesie, eine Malerei, eine Aesthetik und eine Geschichtsschreibung herausgebildet, welche ebenso hohl und äußerlich ist, als jene kirchliche Bewegung und doch in dem Lande allmächtiger Fashion eine ebenso weite Herrschaft erlangt hat, als diese. Indessen thäte man sehr Unrecht, die kulturhistorische Thätigkeit und Bedeutung des heutigen England hier zu suchen. Diese liegt durchaus in der Darwin'schen Lehre, wie sie von ausgezeichneten Männern – ich nenne vor Allem Huxley, W. Bagehot und, obschon er selbst es sich nicht bewußt sein mag, L. Stephen – tiefer begründet, weiter entwickelt und auf andere Gebiete angewandt worden. Diese Männer sind es, welche bestimmend auf den europäischen Gedanken einwirkten, wie einst Bacon und Newton, Voltaire und Rousseau, Herder und Kant. Der ganze Chorhemdschwindel hat nur eine örtliche und vorübergehende Bedeutung: der Positivismus aber, der eine Zeitlang grassirt hat, ist schon fast überwunden. Beide werden darum doch mittelbare Spuren hinterlassen.
Es tritt nämlich die merkwürdige Erscheinung ein, welche auch die deutsche Romantik im Gefolge gehabt hat, daß selbst die klaren Köpfe rationalistischer Bildung und Neigung sich diesem Einflusse nicht ganz entziehen können, davon aber doch nur das Berechtigte annehmen und, es vertiefend und klärend zugleich, anwenden. So entsteht eine historische Literatur – historisch im weitesten Sinne des Wortes – welche viele Ähnlichkeit mit unserer historischen Schule aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hat und einen ähnlichen Reichthum wie diese zu entfalten verspricht. Der Positivismus seinerseits, von dem ein großer Theil der jetzt im reifen Mannesalter stehenden Generation Englands ausgegangen ist, wollte nur das tatsächliche Allgemeine in der Geschichte gelten lassen, dies aber wissenschaftlich behandelt wissen, d.h. unter Gesetze gebracht sehen; während er doch wieder die Philosophie der Geschichte, als einen Zweig der Metaphysik, verwarf. Das ward dann auch eine Zeitlang so getrieben und Buckle's Werk schien bestimmt, das Muster aller Geschichtsschreibung zu werden. Es dauerte aber nicht lange, so fühlte man, daß eine solche Geschichtsbehandlung womöglich noch blassere, wesenlosere Abstraktion ergab, als die aprioristischen Konstruktionen der berufenen Geschichtsphilosophie; und man suchte das Band zwischen der Geschichte als Wissenschaft und der Geschichte als Leben da, wo es allein zu finden ist, in der Persönlichkeit. Jenes in der Neuromantik zum Ausdruck kommende Bedürfnis der Phantasie, mitzureden und mitzuhandeln gesellte sich dazu; und wir danken diesem Bestreben auf der Grundlage wissenschaftlicher Factenforschung den Einfluß der geschichtlichen Persönlichkeit der Anschauung concret faßbar zu machen, eine Reihe ganz ausgezeichneter historischer, namentlich literarhistorischer Werke, deren einige gerade das vielgeschmähte achtzehnte Jahrhundert zu ihrem Gegenstande machen. Ich möchte heute, an der Hand so trefflicher Führer, wenn auch manchmal im Gegensatz zu ihren Schlußfolgerungen, zeigen, wie die staatliche, religiöse und literarische Entwickelung Englands nie lebendiger, und folglich nie fruchtbarer war, als gerade während jenes Jahrhunderts anscheinenden Schlummers, wie vornehmlich die politische, poetische und kirchliche Blüte der achtziger und neunziger Jahre unendlich reicher und ursprünglicher war, als die gewollte Renaissance, welche in neueren Tagen vermeint, den Staat durch eine "kaiserliche" Politik, die Kirche durch einen prunkenden Gottesdienst, die Poesie und Kunst durch einen schwülstigsinnlichen Stil verjüngt zu haben.
I.
Wer die englische Verfassungsgeschichte von 1688 bis 1786 etwa im Einzelnen betrachtet, wird vielleicht versucht sein, sich unwillig, ja fast mit Ekel abzuwenden, wie's unser guter Schlosser gethan. Die schlimmsten Ränke gewissenloser Aristokraten, ein gehässiger Kampf um Macht und Geld, eine Gesinnungslosigkeit, welche es den Staatsmännern erlaubt, ohne Anstand ihre Farbe zu wechseln, so oft es ihr Interesse erheischt; Bestechung überall und crasseste Selbstsucht der Regierenden bei anscheinender Lethargie der Regierten: dies ist das Schauspiel, das...