Vorwort
Die heutige Welt nahm erstmals Gestalt an während zweier Tage im Mai 1905, und zwar in den engen Gewässern der Koreastraße. In dieser Meerenge, die heute zu den meistbefahrenen Seewegen der Welt gehört, besiegte eine kleine japanische Flotte unter dem Kommando des Admirals Tōgō Heihachirō einen großen Teil der russischen Flotte, die fast um die halbe Welt gesegelt war, um den Fernen Osten zu erreichen. Die Seeschlacht bei Tsushima – der deutsche Kaiser bezeichnete sie als die wichtigste Seeschlacht seit der ein Jahrhundert zurückliegenden Schlacht bei Trafalgar, und Präsident Theodore Roosevelt nannte sie »das größte Phänomen, das die Welt jemals gesehen hat« – bedeutete das faktische Ende eines Krieges, der im Februar 1904 begonnen hatte und in dem es vor allem darum ging, ob Korea und die Mandschurei künftig von Russland oder von Japan kontrolliert würden. Zum ersten Mal seit dem Mittelalter hatte ein außereuropäisches Land eine europäische Macht in einem größeren Krieg besiegt, und die Nachricht eilte um eine Welt, die von westlichen Imperialisten – und mit Hilfe der Erfindung des Telegraphen – zu einem engen Netz verbunden worden war.
In Kalkutta meinte Lord Curzon, Vizekönig von Indien, dem der Schutz der kostbarsten britischen Besitzung oblag: »Der Widerhall dieses Sieges rast wie ein Donnerschlag durch die flüsternden Galerien des Ostens.«[1] Hier hatte der auf Distanz bedachte und taktlose Curzon einmal den Finger am Puls der einheimischen öffentlichen Meinung. Die wurde am besten von einem damals noch unbekannten Rechtsanwalt in Südafrika namens Mohandas Ghandhi (1869–1948) zum Ausdruck gebracht, als er schrieb: »Die Wurzeln des japanischen Sieges haben sich so weit ausgebreitet, dass wir die Früchte, die er einmal tragen wird, noch gar nicht zu erkennen vermögen.«[2]
In Damaskus jubelte ein junger osmanischer Soldat namens Mustafa Kemal, der später unter dem Namen Atatürk (1881–1938) bekannt werden sollte. Kemal sehnte sich nach einer Reform und einer Stärkung des Osmanischen Reiches gegenüber der Bedrohung durch den Westen, und wie viele Türken erblickte er in Japan ein Vorbild, worin er sich nun bestätigt sah. Der 16-jährige Jawaharlal Nehru (1889–1964), später der erste Premierminister Indiens, hatte die Anfangsphasen des Kriegs zwischen Japan und Russland in seiner Provinzstadt voller Begeisterung in der Zeitung verfolgt und dabei von seiner eigenen Rolle bei der »Befreiung Indiens und Asiens aus europäischer Knechtschaft« geträumt.[3] Vom japanischen Sieg bei Tsushima erfuhr er während einer Zugfahrt von Dover zu seiner englischen Schule Harrow, und sie versetzte ihn sogleich in eine »ausgezeichnete Stimmung«.[4] Der chinesische Nationalist Sun Yat-sen (1866–1925) war gleichfalls in London, als er von dem Sieg erfuhr, und jubelte ebenfalls. Als er 1905 mit dem Schiff nach Hause zurückkehrte, gratulierten ihm arabische Hafenarbeiter am Suezkanal, weil sie ihn für einen Japaner hielten.[5]
Begeisterte Spekulationen über die Folgen des japanischen Sieges füllten türkische, ägyptische, vietnamesische, persische und chinesische Zeitungen. In Indien benannte man Neugeborene nach japanischen Admirälen. In den Vereinigten Staaten sprach der afroamerikanische Führer W. E. B. Du Bois von einem weltweiten Ausbruch »farbigen Stolzes«. Ein ganz ähnliches Gefühl erfasste den pazifistischen Dichter (und späteren Nobelpreisträger) Rabindranath Tagore (1861–1941), der seine Schüler auf einem improvisierten Siegesmarsch um einen kleinen Schulkomplex im ländlichen Bengalen anführte, als die Nachricht aus Tsushima eintraf.
Es spielte kaum eine Rolle, welcher Klasse oder Rasse sie angehörten. Die subalternen Völker der Erde erkannten sogleich die – moralischen und psychologischen – Implikationen des japanischen Triumphs. Und die Vielfalt war erstaunlich. Nehru gehörte einer Familie wohlhabender englischsprachiger Brahmanen an. Über seinen Vater, einen Nutznießer der britischen Herrschaft über Indien, ging das Gerücht, er schicke sogar seine Hemden zur chemischen Reinigung nach Europa. Sun Yat-sen war der Sohn eines armen Bauern; einer seiner Brüder starb während des Goldrauschs in Kalifornien, bei dem chinesische Kulis Hilfsdienste leisteten. Abdurreshid Ibrahim (1857–1944), der führende panislamische Intellektuelle seiner Zeit, der 1909 nach Japan reiste, um Kontakte zu japanischen Politikern und Aktivisten herzustellen, war in Westsibirien geboren. Mustafa Kemal stammte aus Selanik (dem heute in Griechenland gelegenen Thessaloniki), und seine Eltern waren albanischer und makedonischer Herkunft. Seine spätere Mitstreiterin, die türkische Schriftstellerin Halide Edip (1884–1964), die ihren Sohn nach dem japanischen Admiral Tōgō benannte, war eine weltlich gesinnte Feministin. Birmas nationalistische Ikone U Ottama (1879–1939), der sich vom japanischen Sieg über Russland dazu anregen ließ, sich 1907 in Tokio niederzulassen, war ein buddhistischer Mönch.
Die zahlreichen arabischen, türkischen, persischen, vietnamesischen und indonesischen Nationalisten, die sich über die Niederlage Russlands freuten, stammten aus noch unterschiedlicheren Verhältnissen. Aber sie alle teilten eine Erfahrung: die Unterjochung durch die Menschen aus dem Westen, die für sie lange nichts weiter als Emporkömmlinge oder gar Barbaren gewesen waren. Und sie alle zogen dieselbe Lehre aus dem japanischen Sieg: Die Weißen, Eroberer der Welt, waren nicht länger unbesiegbar. Zahlreiche Phantasien – von nationaler Freiheit, rassischer Würde oder einfach von Rache – erblühten in Herzen und Köpfen, die bis dahin missmutig die europäische Herrschaft über ihre Länder ertragen hatten.
Japan, das im 19. Jahrhundert von den westlichen Mächten tyrannisiert wurde und mit Sorge auf die grobe Behandlung Chinas durch diese Mächte schaute, hatte sich 1868 an die ehrgeizige Aufgabe einer inneren Modernisierung gemacht. Dazu gehörten auch der Ersatz eines halbfeudalen Schogunats durch eine konstitutionelle Monarchie und einen einheitlichen Nationalstaat sowie der Aufbau einer am westlichen Vorbild orientierten Wirtschaft mit intensiver Produktion und hohem Konsum. In einem 1886 erschienenen Bestseller mit dem Titel Die Zukunft Japans hatte der führende Journalist des Landes, Tokutomi Sohō (1863–1957), die Kosten einer japanischen Gleichgültigkeit gegenüber den vom Westen vorgegebenen »weltweiten« Entwicklungstrends dargelegt: »Diese blauäugigen, rotbärtigen Rassen werden unser Land wie eine gewaltige Welle überschwemmen und unser Volk auf die Inseln im Meer vertreiben.«[6]
Schon in den 1890er Jahren löste Japans wachsende industrielle und militärische Stärke europäische und amerikanische Ängste vor einer »Gelben Gefahr« aus – ein furchterregendes Bild von asiatischen Horden, die den weißen Westen überrannten. Die Niederlage Russlands bewies, dass Japans Pläne, mit dem Westen gleichzuziehen, erstaunlich erfolgreich gewesen waren. »Wir zerstreuen den Mythos der Unterlegenheit der nichtweißen Rassen«, erklärte Tokutomi Sohō nun. »Durch unsere Stärke zwingen wir alle dazu, uns als eine der größten Mächte der Welt anzuerkennen.«[7]
Auch in den Augen vieler anderer nichtweißer Völker widerlegte die Demütigung Russlands die rassischen Rangordnungen des Westens, indem sie den europäischen Anspruch, die angeblich »rückständigen« Länder Asiens zu »zivilisieren«, ad absurdum führte. »Das Gerede von der ›Bürde des weißen Mannes‹«, erklärte Benoy Kumar Sarkar (1887–1949), ein Pionier der indischen Soziologie, »ist zu einem Anachronismus geworden – außer für die blindesten Fanatiker.«[8] Japan habe gezeigt, dass die asiatischen Länder einen eigenen Pfad in die moderne Zivilisation mit ihrer besonderen Stärke finden könnten. Der jungtürkische Aktivist und spätere Minister Ahmed Riza (1859–1930) fasste diese noch lange nachhallende Bewunderung folgendermaßen zusammen:
»Die Ereignisse im Fernen Osten haben gezeigt, wie nutzlos die häufigen, aber schädlichen Eingriffe Europas zur Reformierung eines Volkes sind. Im Gegenteil, je isolierter ein Volk lebt und je besser es vor dem Kontakt mit europäischen Eindringlingen und Plünderern geschützt ist, desto besser entwickelt es sich in Richtung einer vernünftigen Erneuerung.«[9]
Gandhi, der in Südafrika gegen den institutionalisierten Rassismus kämpfte, zog eine ähnliche moralische Lehre aus dem japanischen Sieg: »Als alle in Japan, ob reich oder arm, zur Selbstachtung fanden, war das Land frei. Es konnte Russland einen Schlag ins Gesicht versetzen (…) Ebenso müssen auch wir das Bedürfnis haben, Achtung vor uns selbst zu haben.«[10] Der chinesische Philosoph Yan Fu (1854–1921) erinnerte an ein Jahrhundert voller Demütigungen Chinas durch westliche »Barbaren«, von den Opiumkriegen bis hin zur Zerstörung des Sommerpalasts in Beijing, und schloss: »Der einzige Grund, weshalb wir nicht ihr Fleisch verschlangen und auf ihrer...