Einleitung
»In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise ›erkannte‹ mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich niemals gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton):
›Und Sie können dies beschreiben?‹
Und ich sagte:
›Ja.‹
Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.«
Anna Achmatowa, 1. April 1957, Leningrad
Wieder und wieder bitten Menschen in Not, Eingeschlossene oder Ausgeschlossene, Opfer von Krieg oder Gewalt, ein Gegenüber darum, »davon« zu erzählen.
Warum? Was geschieht in einer solchen Szene?
»Und Sie können dies beschreiben?«, es klingt unsicher, ängstlich auch (»dort sprachen wir alle im Flüsterton«), aber vor allem karg: In einem Wort nur verbirgt sich der Schrecken über eine Erfahrung, die die Fähigkeit, sie zu beschreiben, unterwandert hat: »dies«.
Was ist »dies«? Genauer: Was ist es an diesem »dies«, das es zu einem sprachlichen Problem macht? Was daran ist unsäglich? Warum braucht die Frau »mit den blauen Lippen« eine andere, eine Fremde? Warum kann sie ihre Erlebnisse im Gefängnis nicht selbst beschreiben – so wie sie vermutlich den Besuch der Nachbarin, den ersten Schultag ihres Kindes oder das Einholen der letzten Ernte in Worte fassen kann? Ist etwas dem Unrecht oder Leid zu eigen, das sich nicht darstellen lässt? Lähmt Gewalt wie der Blick der Medusa jene, die sie erfahren?
Bestimmte Erlebnisse scheinen nicht erst die Möglichkeit zu begrenzen, sie zu beschreiben, sondern schon das Vermögen, sie zu erfassen. Extremes Unrecht und Gewalt stellen eine Anomalie dar, sie widersprechen jeder unversehrten Welterfahrung. Sie brechen ein in das Leben von Menschen, die nicht begreifen können, was ihnen da geschieht. Das Erlebnis scheint entkoppelt von allem, was vorher geschah, es reiht sich nicht ein in die eigene Geschichte, in das Verständnis dessen, was und wer man selbst einmal war und wer die anderen waren. Und das Erlebnis scheint entkoppelt von allem, was geschehen sollte, es passt nicht zu der eigenen moralischen Erwartung, zu dem, was und wer andere sein sollten. Der zivilisatorische Bruch eines Unrechts zieht sich durch verschiedene Schichten, erschüttert zweifach: die Beziehung des Opfers zu sich selbst und seine Beziehung zur Welt. Diese normative Störung vertieft den Riss zwischen innerhalb und außerhalb der Zone der Gewalt, zwischen Betroffenen und Außenstehenden.
So werden Leid und Gewalt zu einem sprachlichen Problem: Die Erlebnisse scheinen nicht beschreibbar, weil die Betroffenen sie selbst nicht verstehen, weil sie alles zu übersteigen drohen, was vorher als Erfahrung zählte. Zu harmlos wirken die üblichen Begriffe angesichts des Schreckens, zu flach. Um die Verwüstungen zu beschreiben, müssten Worte, eines nach dem anderen, an »dies« angelegt werden, wie Pailletten an einen Stoff, bis sie alles bedecken.[1]
Und die Erlebnisse erscheinen anderen nicht vermittelbar, weil sie die, die sie durchleiden, absondern von denen, die verschont wurden. Zu kurz scheint jede Erzählung angesichts des Schreckens, zu dünn, um die Last der ganzen Erfahrung tragen zu können.
»Und Sie können dies beschreiben?« Die Satzstellung suggeriert, die Fragende selbst habe sich schon daran versucht – und sei gescheitert. Als ob es einer speziellen Gabe bedürfte, Elend zu beschreiben. Schon als sie nur ahnt, dass eine Dichterin unter ihnen, den Opfern des Regimes, sein könnte, »erwachte« sie »aus jener Erstarrung«.
Was ist »jene Erstarrung«, aus der die Frau mit den blauen Lippen erst mit der Aussicht auf Zeugenschaft durch eine andere »erwacht«?
Verzweiflung und Schmerz legen sich wie eine Schale um die betroffene Person und schließen sie ein. So vergrößert sich der Radius der Gewalt, weitet sich aus und beschädigt. Erlittene Gewalt nistet sich ein, sie lagert sich ab, lässt »erstarren«, artikuliert sich in Gesten, Bewegungen, Wortfetzen oder im Schweigen.
Darin aber, in dem Schweigen der Opfer von extremem Unrecht und Gewalt, liegt die perfideste Kunst solcher Verbrechen: seine eigenen Spuren zu verwischen. Denn wenn sich strukturelle und physische Gewalt einschreibt in ihre Opfer, wenn sie die physische und psychische Integrität einer Person verletzt, wenn extremes Unrecht und Gewalt die erzählerische Kompetenz angreift, dann bleibt sie unbemerkt und wirkt fort.
»Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war«, schreibt Achmatowa und verweist so auf das Ethos der Zeugenschaft, auf die Kraft des Erzählens für eine andere.
»… das, was einmal ihr Gesicht gewesen war«? Die Frau bleibt in Achmatowas Text namenlos, sie ist anfangs nur eine weitere Person in einer der Schlangen im Gefängnis, »die hinter mir stehende Frau«, sie erscheint als eine von allen, sie hat jene Erstarrung, »die uns allen zu eigen war«, sie flüstert, »dort sprachen alle im Flüsterton«, sie scheint ihrer Individualität (ihres Gesichts) beraubt, das einzige Merkmal sind die »blauen Lippen«.
Erst als sie weiß, dass ihre Erlebnisse durch eine andere in Worte gefasst werden, erhält sie ein menschliches Antlitz zurück. Erst als sie weiß, dass eine andere zu sprechen, zu erzählen in der Lage ist, erhält sie ihre Subjektivität wieder zurück. Sie weiß: diese Erlebnisse werden nicht unbeschrieben bleiben. Mindestens eine von ihnen allen wird erzählen können, was geschah, mindestens eine von ihnen wird aus den Erlebnissen der Einzelnen eine Erfahrung machen, von der andere hören können und müssen.
Als ich, vor ungefähr zwanzig Jahren, diese Zeilen von Anna Achmatowa zum ersten Mal las, damals noch Studentin der Diskurs-Ethik in Frankfurt am Main, war es dieser Zusammenhang von Gewalt und Sprachlosigkeit, der mich umtrieb. Wenn Opfer von Gewalt in ihrer Fähigkeit beschädigt würden, das erfahrene Leid zu beschreiben, wenn es keinen oder keine gab, der oder die für sie spräche, dann wäre die Sprachlosigkeit nicht nur ein hermeneutisches oder psychologisches Problem, sondern auch eines der Gerechtigkeit. Wenn Opfer von Gewalt das, was ihnen widerfahren war, nicht erzählen könnten, würden Diktatoren und Folterer obsiegen.
Wann immer ich in der Folge diesen kleinen Text von Achmatowa las, konzentrierte ich mich auf den ersten und den letzten Teil: auf die Versehrung der Frau mit den blauen Lippen und ihre Frage »Und Sie können dies beschreiben?« Und auf ihre Wandlung aus der Erstarrung, dem Flüstern, hin zu »da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war«, dieser Hoffnung, die sich in dem Lächeln andeutet. Dieses Lächeln, das mit der Würde zu tun hat, die es allein nicht gibt, die immer nur zu zweit aufscheint – hier in jenem Moment, in dem eine für eine andere zu erzählen verspricht.
Zwischen der Leserin von damals und der von heute liegen vierzehn Jahre, die ich reisend und zuhörend als Reporterin in Kriegs- und Krisengebieten verbracht habe. Nicht nur, aber auch. Vierzehn Jahre, in denen ich vor Frauen mit blauen Lippen saß und vor erstarrten Männern, in Flüchtlingslagern oder Verstecken, in Gefängnissen oder Wellblechhütten, am Wegesrand oder auf den Ladeflächen von Traktoranhängern, eingesperrt oder ausgesperrt, vertrieben oder verloren, und versuchte zu verstehen, was ihnen widerfahren war.
Sie konnten nicht einfach nur »dies« sagen. Denn ich war nicht eine von ihnen. Ich wusste nicht, was »dies« bedeutete. Ich war eine Fremde, zugereist in diese Landschaft aus Gewalt und Zerstörung. Ich teilte ihre Erlebnisse nicht. Sie mussten mir mitteilen, was sie durchgemacht hatten. So gut es ging. Manche schwiegen, manche stockten, manche erzählten rückwärts, manche verhaspelten sich, so schnell wollten sie ihre Geschichte mitteilen, manches kam nur bruchstückhaft heraus, nicht selten gab es erzählerische Schwellen, über die sie nicht hinwegkonnten oder -wollten, viele weinten, manche nicht, ihre Erzählungen klangen oft unwahrscheinlich, auch nicht eigentlich intelligibel, aber wieder und wieder, in zahllosen Begegnungen überall auf der Welt, tauchte, in allen Sprachen, diese eine Frage auf: »Schreibst du das auf?«, flehend oft, fordernd auch, manchmal begleitet von einem nachdrücklichen Blick in mein Notizbuch, auf die schwarzen Buchstaben, die doch, bitte, ihre Erfahrung dingfest machen sollten.
Erst mit der Zeit begann ich zu ahnen, dass sie mich nicht allein darum baten, weil sie das Unrecht und Leid, das ihnen widerfahren war, bestätigt und erinnert wissen wollten, sondern auch, weil sie als die Person bestätigt und vergewissert werden wollten, die sie waren, bevor ihnen all das widerfuhr: jemand, die es wert ist, wahrgenommen zu werden, als Individuum, als menschliches Subjekt.
All die Jahre blieb mir die Geschichte von Anna Achmatowa im Gedächtnis, all die Jahre begleitete mich die Vorstellung von dem »Lächeln, auf dem, was einmal ihr Gesicht gewesen war«, und sie schien sich zu spiegeln in den Gesprächen und...