Vorwort des Herausgebers
70 Jahre ist es her, dass Österreich durch alliierte Truppen vom NS-Regime befreit wurde. 70 Jahre sollte es dauern, bis es möglich wurde, die Namen der NS-Opfer im und aus dem Gailtal öffentlich auszusprechen. Als ich zusammen mit einem engagierten jungen Team vor drei Jahren die Erforschung der Geschichte des Gailtals im Nationalsozialismus und der Opfer des NS-Terrors begonnen habe, ahnte noch niemand, wie viel Staub damit aufgewirbelt werden würde.
Über die Opfer des NS-Terrors zu sprechen, war im Tal ein großes Tabu. NS-Opfer wurden in den meisten Fällen – wenn überhaupt – nur im engsten Familien- und Nachkommen-Kreis thematisiert. Mit etlichen Veranstaltungen zur Thematik im ganzen Gailtal und unserem ersten Buch Das Gailtal unterm Hakenkreuz gelang es, dieses Schweigen zumindest ein wenig aufzubrechen. Selbst die größten Kritiker mussten bald bemerken, dass es auch in der Gailtaler Bevölkerung ein großes Bedürfnis gibt, das Unansprechbare anzusprechen.
Das Gedenkjahr 2015 wollen wir vom Verein Erinnern Gailtal zum Anlass nehmen, die Leidensgeschichten von 200 großteils vergessenen NS-Opfern im und aus dem Gailtal endlich einer breiten Öffentlichkeit und somit auch einem würdigen Gedenken zugänglich zu machen.
In Anbetracht der unerwartet hohen Opferzahl mutet es aber dennoch mehr als merkwürdig an, dass 200 Personen jahrzehntelang vergessen werden konnten. Eine solche Entwicklung wirft ein Schlaglicht auf die Herrschaftsstrukturen und die Haltung vieler Menschen im Gailtal nach 1945 bis heute. Ein emanzipatorischer und verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Vergangenheit ist im Gailtal auf breiter Ebene bisher nicht geglückt. Dazu bedarf es der Einbindung und Anstrengung der regionalen Schulen in den Auseinandersetzungs- und Ermächtigungsprozess, aber natürlich auch der Politik, die aufgerufen ist, endlich ein Klima mitzuschaffen, in dem nicht mehr Angst und Scham regieren, sondern das Interesse an der eigenen Vergangenheit und der bereits erwähnte verantwortungsvolle und ehrliche Umgang damit.
Das vorliegende Werk will ich als Beitrag zu einem anderen Gebaren mit der eigenen „dunklen Vergangenheit“ und einem neuen Fokus auf die tatsächlichen Opfer des NS-Terrors verstanden wissen. Schließlich und endlich ist das Erinnern auch ein Auftrag an uns, alles zu tun, dass sich solche Verbrechen nicht mehr wiederholen. Gerade heute leben wir in einer Zeit, in der viele den Verlockungen einfacher Antworten auf schwierige gesellschaftliche Probleme erliegen. Rassismus, Nationalismus und antisemitische Tendenzen sind auf dem Vormarsch und mit ihnen rechtsextreme Bewegungen in ganz Europa und auch in Österreich. Der große Zulauf zu rechtsextremen Parteien und Organisationen in Österreich zeigt einmal mehr, dass Vorurteile und Ressentiments tief in unserer Gesellschaft verwurzelt sind. Erinnerungsarbeit kann nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die Verbrechen im NS-Regime und deren Entstehung, die uns zeigen wozu ein Staat im schlimmsten Falle in der Lage ist, so zu vermitteln, dass eine Sensibilisierung für die Ausgrenzungsmechanismen der heutigen Zeit, die sich oft kaum von denen von vor 80 Jahren unterscheiden, zu schaffen. Oder mit den Worten Peter Gstettners, Gründer der Initiative Memorial Kärnten/Koroška gesprochen: „Denn die Gegenwart kritisch mit der Vergangenheit zu konfrontieren, heißt zweierlei: Einmal […] die Mobilisierung politischer Leidenschaften für Demokratie und Menschenrechte, zum anderen eine Sozialisatiuon gegen Opportunismus, Untertanengeist, Autoritätsgeläubig keit und Verantwortungsabstinzenz.“ In Österreich, allen voran in Kärnten, ist noch viel zu tun.
Der Opferbegriff
Als „Opfer“ haben wir in unserer Arbeit all jene verstanden, die vom NS-Regime verfolgt wurden. Zwar sind nicht alle angeführten Personen von den Nazis ermordet worden, aber auch das Leid all jener, die das „Glück“ hatten, die Lager und/oder Gestapo-Haft oder andere Repressionen zu überleben, sollen in unserer Erinnerung Platz finden. Manche überlebten, starben aber nach der Befreiung an den Folgen von Folter, Misshandlung, Ausbeutung, schlechter Versorgung oder Ähnlichem. Andere konnten zwar ins Gailtal zurückkehren, wurden aber all ihres Hab und Guts beraubt und mussten ihre Existenz entweder neu aufbauen oder das Tal endgültig verlassen. Restitutionen oder Wiedergutmachungen hat es im Gailtal kaum gegeben. Fest steht aber, dass die Überlebenden vom erlebten Grauen nie ganz losgelassen wurden, da es im Gailtal nicht möglich war, über dieses Leid zu sprechen und es zu verarbeiten. Zu diesem Schluss komme ich nach etlichen sehr persönlichen und eindringlichen Gesprächen mit Überlebenden und deren Nachfahren. Es ist erstaunlich, wie viel Verständnis so manchen Tätern entgegengebracht wird, für die Opfer aber bleibt kein Platz. Wer zugibt, dass es im Gailtal NS-Opfer gab, gesteht sich auch ein, dass es viele gab, die wegschauten oder mitmachten und vom NS-Regime profitierten. Die eigene Schuld und Täterschaft bzw. jene der Vorfahren zu thematisieren und Verantwortung einzufordern, ist bis heute kaum möglich.
Quellen und Methodik
Das Gailtal im Südwesten Kärntens steht stellvertretend für viele andere österreichische Täler und Regionen, in denen bisher dem Schweigen über die Opfer des NS-Terrors der Vorzug gegenüber dem Gedenken gegeben wurde. Deshalb war es von Beginn dieses Buchprojektes an klar, dass eine möglichst umfangreiche Recherche vonnöten sein wird, wenn es darum gehen soll, die Namen und Schicksale möglichst vieler Gailtaler NS-Opfer so gut es geht zu rekonstruieren.
Unser erklärtes Ziel war es, auch Nachkommen der Opfer in die Forschung miteinzubeziehen, und, wo gewünscht, diese persönlich zu Wort kommen und über die eigenen Erfahrungen schreiben zu lassen. Dies ist uns gelungen. Zwei Autoren dieses Buches, namentlich sind dies Martin Jank und Theresia Wölbitsch, haben sich in der eigenen Familie auf die Spurensuche nach NS-Opfern gemacht. Damit ermöglichen sie sehr persönliche Einblicke in die familiäre Auseinandersetzung und es gelang ihnen lange Verschwiegenes anzusprechen und die Geschichten von Vorfahren – die in beiden Fällen „Euthanasie“-Opfer wurden – zu beschreiben und zurück in die Erinnerung zu holen.
Ausgangsmaterial der Forschung waren einerseits jene Unterlagen, die wir bereits bei der Recherche für das Buch Das Gailtal unterm Hakenkreuz erschlossen hatten, andererseits neue, aber auch alte Literatur, in der Namen und Opfergeschichten mit Bezug zum Gailtal recherchiert wurden. Nicht zuletzt wurden die Werke von anderen Kärntner Erinnerungsinitiativen studiert. In dieser frühen Phase der Arbeit war umfangreiche Literaturrecherche, unter anderem in der Nationalbibliothek, wo wir alte Tageszeitungen studierten, aber auch in vielen kleinen Fachbibliotheken die zentrale Tätigkeit.
Im Anschluss daran wurde der Kontakt zu Archiven ehemaliger Konzentrationslager wie Dachau, Ravensbrück, Neuengamme, Mauthausen oder Auschwitz hergestellt. Auf diesem Wege wurden auch Akten aus unterschiedlichen „Nebenlagern“ für unsere Forschung zugänglich. Darüber hinaus galt es, Landesarchive wie jenes in Kärnten und Wien zu besuchen. Nicht vergessen werden dürfen die Bestände im Dokumen tationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW), das österreichische Staatsarchiv und auch das Bundesarchiv Deutschland in Berlin. E-Mail-Kontakt wurde mit dem Archiv der Holocaustgedenkstätte „Yad Vashem“ in Israel sowie den „National Archives London“ aufgenommen. Da im Laufe der letzten Jahre immer mehr Quellen auch digital zur Verfügung stehen, nahm auch die Onlinerecherche in Archiven eine wichtige Rolle ein.1
Begleitend zu der Archivforschung wurden etliche Zeitzeugengespräche2 geführt. Es bedarf keiner ausführlichen Erklärung, wie wichtig der direkte Kontakt zu den Nachkommen und Verwandten ist, wenn man ein Buch über die NS-Opfer aus diesem Tal verfassen möchte. Den Kontakt zu Nachfahren und Verwandten stellten wir entweder über persönliche Beziehungen her, über Aufrufe in regionalen Medien sowie über den Newsletter und die Internetseite des Vereins Erinnern Gailtal. So entstanden durch die Begegnungen und Gespräche mit Überlebenden und deren Nachfahren auch viele Freundschaften.
Über die Maßen intensiv gestaltete sich die Suche nach sogenannten „Euthanasie“-Opfern. Diese Recherche übernahm Wolfgang Haider, der einzige Autor im Team, der nicht aus Kärnten stammt. Es gelang ihm mit Hilfe von Helge Stromberger die Namen von beinahe 60 „Euthanasie“-Opfern zu recherchieren und deren Biographien zu erarbeiten. Seine Forschungstätigkeit führte ihn ins Landesarchiv Klagenfurt, ins Bundesarchiv Deutschland in Berlin und ins Landesarchiv Wien, wo unser Forschungsprojekt besonders unterstützt wurde. In Wien wurden Akten der sogenannten „Kinder- und Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund“ gesichtet.
Schwieriger gestaltete sich hingegen die Zusammenarbeit zwischen Janina Koroschitz, die sich auf die Suche nach jüdischen NS-Opfern im Tal machte, und der Bezirkshauptmannschaft...