Die Entscheidung
Seit einem Vierteljahrhundert arbeite ich im direkten Kontakt mit Menschen – als Gesprächs- und Atemtherapeutin, als Heilpraktikerin mit den Schwerpunkten Psychosomatik/Psychotherapie, als Sterbebegleiterin, Kommunikationstrainerin und schließlich als Coach.
In meiner Arbeit als Coach begann ich zunächst ausschließlich mit Frauen zu arbeiten. Danach wandte ich mich allen Führungskräften, Unternehmern und Selbstständigen zu.
Irgendwann kam einmal der Tag, an dem ich mir überlegte, mit welchen Klienten es mir persönlich am meisten Spaß machte zu arbeiten, welche Ratsuchenden am schnellsten ihre Ziele erreichten und welche Coachings am herausforderndsten waren. Es war leicht festzustellen, dass es sich oft um besonders anspruchsvolle Menschen, um schwierige Situationen und komplexe Fragestellungen handelte. Ich suchte nach den Gemeinsamkeiten, die all diese Menschen miteinander verbanden. Diese wunderbaren Menschen waren redegewandt, hatten ein hohes Energielevel, einen wachen Verstand und waren ausgeprägt empathisch. Es waren intelligente und sensible Menschen mit einem breiten Wahrnehmungsspektrum. Es handelte sich um Menschen, deren Leben nicht geradlinig verlaufen war. Es waren suchende Menschen und solche, die viele Fragen stellten. Die größte Gemeinsamkeit, die ich fand, war, dass all diese Menschen besonders begabt waren, entweder auf geistiger oder emotionaler Ebene.
Zeitgleich begann eines meiner Familienmitglieder unter Depressionen zu leiden und begann eine Therapie. Im Verlauf dieser Therapie tauchte das Thema Hochbegabung mit all seinen möglichen Auswirkungen erstmals auf. Die Therapeutin stellte damals in den Raum, dass es einen Zusammenhang zwischen der Depression und der Hochbegabung geben könnte, und fragte, ob Hochbegabung in der Familie bekannt sei.
So fiel mir ein, dass auch bei mir, als ich fünf Jahre alt war, ein Intelligenztest gemacht wurde, um herauszufinden, ob ich frühzeitig eingeschult werden könne. Die Kinderpsychologin bestätigte damals eine hohe Intelligenz, empfahl aber dennoch, dass ich noch ein Jahr zum Spielen in den Kindergarten statt in die Schule gehen solle. Im Jahr 1965 war Hochbegabung noch kein großes Thema, das Wort war nicht einmal allseits bekannt. Meine Eltern wussten nach dem Test nur: »Sie ist eben besonders clever«, und das war’s. Das Testergebnis war für meine Eltern damals nicht wichtiger als meine Schuhgröße. Und so nahm meine Schulkarriere einen später oft gehörten Verlauf: Ich bin hingegangen, habe mich gelangweilt, nur das Nötigste getan und war dabei sehr gut. Allerdings nur so lange, bis es dann im Gymnasium schwierig wurde. Dann habe ich mich nur noch von Schuljahr zu Schuljahr gerettet und meine wirklichen Interessen außerhalb der Schule gepflegt. Ich konsumierte Bücher wie andere Kinder Fernsehserien. Ich war süchtig nach Wissen, ich trieb exzessiv Leistungssport und viel mehr hat mich nicht interessiert.
Zwischen meinem 14. und 34. Lebensjahr litt ich aber auch immer wieder an heftigen Depressionen, die mein Leben unendlich schwer und scheinbar unerträglich werden ließen. Ich habe mich einfach nicht verstanden. Diese Depressionen endeten erst, als ich meine Berufung gefunden und meinen Platz im Leben eingenommen hatte. Erst als ich mit mir und meinen Gaben und Aufgaben voll und ganz im Reinen war, verschwanden die Depressionen und sind seitdem auch nicht wieder aufgetaucht.
An all das erinnerte ich mich in dieser Situation. Ich begann zum Thema »Hochbegabung bei Erwachsenen« zu recherchieren und stellte sehr schnell fest, dass es damals nur eine Handvoll Literatur zu diesem Thema gab. Diese Bücher habe ich förmlich inhaliert. Ich weiß noch, wie viele Tränen beim Lesen geflossen sind. Zu diesem Zeitpunkt begann ich mein Leben neu zu bedenken und neu zu bewerten.
In diesem Zusammenhang habe ich dann auch nach Experten zum Thema gesucht, nach Coaches, Beratern und Therapeuten, die sich mit diesem Thema auskennen. Leider gab es damals auch von diesen Experten nicht mehr, als es Literatur dazu gab. Ich war also gezwungen, mir meine Informationen selbst zusammenzusuchen und mich immer tiefer in die Materie einzuarbeiten.
Sehr schnell war ich dann wieder bei der Überlegung, mit welchen Klienten ich am liebsten arbeitete. Ich beschloss, mich auf eben diese hochbegabten und hochsensiblen Menschen zu konzentrieren, entgegen dem Rat aller Marketingspezialisten, die glaubten, die Zielgruppe sei viel zu klein, um davon leben zu können. Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Heute, viele Jahre später, weiß ich, dass ich ohne jeden Zweifel meiner Intuition gefolgt bin und mein Bauchgefühl über die rationalen und wirtschaftlichen Erwägungen gestellt habe.
Intuition und Freude
Im Nachhinein weiß ich – vor allem auch durch die Erfahrung mit Hunderten von Menschen, mit denen ich seitdem gearbeitet habe –, dass die Fokussierung auf die Freude und die Intuition eine der besten Möglichkeiten ist, um sein Potential zu entfalten und den eigenen Lebenssinn und seine Lebensaufgabe zu entdecken. Ich werde in diesem Buch immer wieder genau darauf hinweisen:
•Wobei empfindest du die größte Freude?
•Was empfiehlt dir dein Bauchgefühl?
•Wofür stehst du jeden Morgen gerne auf?
•Was bereitet dir tiefe Befriedigung?
Wer konsequent nach den Antworten auf diese Fragen handelt, wird ein glückliches, erfolgreiches und wirklich befriedigendes Leben führen – beruflich und privat, denn diese Bereiche lassen sich in meinen Augen nicht voneinander trennen.
Um diese Lebensfreude und Selbstakzeptanz zu erreichen, ist als Grundbedingung die vollständige Akzeptanz des Andersseins erforderlich. Außergewöhnlich zu sein bedeutet zunächst einfach nur: ungewohnt, jenseits der Norm, andersartig. Eine Wertung ist damit nicht verbunden. Den Begriff »außergewöhnlich« habe ich nur gewählt, weil ich die Schubladen von »Hochbegabung«, »Hochsensibilität« und »Hochsensitivität« für unsinnig halte.
Ein wenig anders
Vieles von dem, was ich schreibe, entspricht nicht der gängigen Meinung der Fachliteratur oder den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Alles, was ich schreibe, entspringt der Erfahrung mit hochbegabten und hochsensiblen Menschen, denn ich habe seit 2005 mit Hunderten dieser außergewöhnlichen Menschen intensive persönliche Gespräche geführt und mit Tausenden korrespondiert. Ich gründete im Internet mehrere Gruppen und moderierte Foren zum Thema »Hochsensibilität und Hochbegabung«. Viele Tausend Mitglieder haben sich dort intensiv über ihre eigenen Erfahrungen ausgetauscht.
Die meisten Ratgeber oder Selbsthilfebücher, die zu den Themen »Hochbegabung«, »Hochsensibilität« und »Hochsensitivität« existieren, beraten in diesen Kategorien. Sie verharren in der jeweiligen Schublade und bieten damit denjenigen Menschen eine Art innere Heimat, die auf der Suche nach Erklärungen für ihre Außergewöhnlichkeit sind. Das ist ehrenvoll und auch sehr wichtig. Mir liegt jedoch sehr daran, dieses Schubladendenken zu verlassen. Es führt zu nichts, sich in Begrifflichkeiten zu definieren. Es kann nicht darum gehen, den vielen Etiketten, die wir bereits in unserem Leben erhalten haben, ein weiteres hinzuzufügen.
Selbstverständlich ist es notwendig, zunächst einmal wenigstens ungefähr zu beschreiben, was ich mit den Phänomenen »Hochbegabung«, »Hochsensibilität« und »Hochsensitivität« verbinde. Aber du wirst sehr schnell erkennen, dass ich wenig Wert auf eine Etikettierung lege. Ich freue mich, wenn du dich auf diese Denkweise einlassen kannst und siehst, wohin sie dich in deinem Selbstverständnis führen kann.
Warum ich »du« sage
Es hat sich so ergeben. Mit den Menschen, mit denen ich täglich zusammen bin, mit denen ich arbeite, die mir vertrauen, duze ich mich. Sie mögen und schätzen es so. Das Du ist für mich ein Ausdruck des Vertrauens und der Nähe. Ich danke all diesen Menschen sehr dafür und nehme diese Anrede auch hier gerne an.
Ich selbst habe vieles erst in der Rückschau verstanden. Mein Leben ist sehr reich an Erlebnissen, die ich mit meinen Klienten gemeinsam habe. Darum erzähle ich manches auch aus meinem sehr persönlichen Erfahrungsschatz. Da sage ich gerne »du«.
Wenn wir den Weg gemeinsam gehen, um Erfahrungen zu teilen und neue Perspektiven darauf zu richten, entsteht Nähe. In dieser Nähe ist das Du einfach naheliegend. So, wie in den persönlichen Gesprächen ein neues Bewusstsein für die eigenen Stärken und ein veränderter Umgang mit Unsicherheiten entstehen, wünsche ich es mir für dich als Leser auch.
Außergewöhnliche Menschen oder »bunte Zebras«
Durch die Arbeit mit hochsensiblen und hochbegabten Menschen wurde mir klar, dass ihre Beziehung zu anderen Menschen zuallererst von dem Gefühl geprägt ist, anders zu sein. Sie empfinden sich oft als nicht dazugehörig, ausgeschlossen, einsam und ganz einfach fremd. So entstand das Bild einer Welt von Haflingern und bunten Zebras: Unsere Welt wird vorwiegend von Haflingern bewohnt, gestaltet und geregelt. Haflinger sind außerordentlich liebenswerte, nützliche, soziale und freundliche Pferde. Als ehemalige Reiterin im Leistungssport (Dressur und Springreiten) verbinde ich mit den Haflingern nur Angenehmes. Es ist keinerlei Abwertung darin enthalten. Haflinger sind auch sehr vielfältig: Man kann sie...