Günter Bischof
Vorwort
Frederic Morton und Ruth Klüger haben im Exil in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg erstaunliche Karrieren als Schriftsteller bzw. Literaturwissenschaftlerin gemacht. Ich schätze Mortons historische Sachbücher A Nervous Splendor: Vienna, 1888–1889 (1979) und Thunder at Twilight: Vienna 1913 / 1914 (1989) und habe sie auch wiederholt im Unterricht verwendet. Mortons englischer Wortschatz ist so umfangreich, dass selbst ein gebildeter Leser ohne Wörterbuch nicht auskommt. Ruth Klügers Still Alive: A Holocaust Girlhood Remembered (2001) ist eine tief bewegende Autobiographie, wenn auch ihr gnadenloser feministischer Standpunkt den männlichen Leser auf die Probe stellt. Diese zwei Biographien von Migranten aus Österreich in ihrem amerikanischen Überlebensexil erhellen den schwierigen Prozess der Aus-/Einwanderung in die USA und sind repräsentativ für die Kohorte einer viel größeren Wanderungsbewegung von österreichischen Juden nach dem Anschluss 1938 (sog. „38er“). Die Forschung der Migration von Österreichern in die Vereinigten Staaten war traditionell den größeren demographischen Bevölkerungsbewegungen gewidmet, weniger Einzelbiographien von Migranten. Migrationsbewegungen wurden lange aus der Perspektive von „Push“- und „Pull“-Faktoren analysiert: Welche sozialen und wirtschaftlichen Umstände veranlassen Menschen, ihre Heimat zu verlassen bzw. was machte Amerika so attraktiv als Einwanderungsland? Die Migration in die USA hat sich immer wieder in Wellen bewegt und hing auch meist von der Begünstigung bzw. Verhinderung von Auswanderung durch die heimischen bzw. amerikanischen Regierungsbehörden und deren Aus- und Einwanderungsgesetzgebung ab.
1731 / 32 vertrieb der Salzburger Erzbischof Leopold von Firmian 20.000 Protestanten aus den Alpentälern seines Fürstbistums, wo sie seit der Reformation gelebt hatten. Diese sog. „Salzburger“ waren die erste größere Kohorte von „Österreichern“, die sich in den USA im Raume Savannah, Georgia ansiedelten. Habsburger Kaiser wie Josef II behinderten die Auswanderung nach Amerika, da es die Monarchie wirtschaftlich schwächen würde. Die nächste größere Welle kam in Folge der Revolutionen in der Monarchie 1848. Tausende von „48ern“ suchten eine neue Heimat mit mehr politischen und persönlichen Freiheiten in den USA. Die größte Welle von Auswanderung kam in den letzten zwei Jahrzehnten vor Ausbruch des 1. Weltkrieges. In diesen Jahren stellten Einwanderer aus den Kronländern der Österreichisch-Ungarischen Monarchie die größte Einwanderungsgruppe in die USA dar. Hunderttausende strömten damals nach Amerika, Jahr für Jahr, meist aus wirtschaftlichen Gründen. Überschüssige Menschen aus großen Familien verließen ihre kleinen Bauernhöfe in den Randgebieten der Monarchie und waren von den Jobs in Amerika angezogen. Dort setzte nach dem Bürgerkrieg (1861–65) eine rasche Industrialisierung und Urbanisierung ein und es wurden Millionen von neuen Arbeitskräften gebraucht. Zwischen 1861 und 1920 wanderten gut vier Millionen Menschen aus den Kronländern der Habsburger Monarchie in die USA ein.
Mit dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie 1918 erlebte „Restösterreich“ massive wirtschaftliche, soziale und politische Probleme. Das westungarische „Burgenland“ kam 1921 zu Österreich und war damals das ärmste Bundesland Österreichs. Es gab kaum Industrie und die Bauernhöfe wurden auf Grund der Erbtrennung von Jahr zu Jahr kleiner und unwirtschaftlicher. Bereits vor dem 1. Weltkrieg verließen 24.000 „Burgenländer“ ihre Heimat und emigrierten nach Amerika. Nach dem Krieg kamen noch einmal 22.000 dazu; sie ließen sich vor allem in Städten wie Chicago und New York nieder und bauten ein neues Leben auf. Das vom amerikanischen Kongress 1924 verabschiedete neue Einwanderungsgesetz brachte das Ende des großzügigen, relativ freien Zugangs aus aller Welt in die USA und reduzierte die Einwanderung aus Mittel- und Südeuropa massiv mit neuen Quotenregelungen. Die Quote für Österreich waren 1.435 Visa pro Jahr. Diese Quote reduzierte nicht nur die Einwanderung von Burgenländern massiv, sondern sollte sich auch fatal auf die 1938 nach dem „Anschluss“ vertriebenen Juden (vor allem aus Wien) auswirken. Von den gut 200.000 Juden Wiens konnten 130.000 ihre Haut retten, indem sie die von Hitler okkupierte „Ostmark“ verließen. Wo immer sie eine neue Heimat finden konnten, ließen sie sich nieder und bauten im Exil neue Leben auf – von Shanghai bis Australien, von New York bis Palästina. Trotz der strikten Quotenregelung schafften es ca. 30.000 österreichische Juden, Visa in die USA zu ergattern. Der barbarische Antisemitismus ihrer Nachbarn zu Hause sowie die Beschlagnahmung ihrer Wohnungen und der Raub ihrer Wertgegenstände („Arisierungen“) ließen viele Juden rasch zum Entschluss kommen, durch die Ausreise aus dem „Dritten Reich“ ihr Leben zu retten. Mit allerhand Schikanen wie „Reichsfluchtsteuer“ etc. machte es das Hitlerregime den Ausreisewilligen nicht leicht, das Land zu verlassen. Von den jüdischen Mitbürgern, die es nicht schafften aus der „Ostmark“ wegzukommen, wurden ca. 65.000 im Nazi-Rausch der Judenvernichtung ermordet.
Dominik Hofmann-Wellenhofs Buch erzählt symptomatische Einzelschicksale – die Lebensgeschichten von zwei Wiener Juden, denen es gelang, in den Vereinigten Staaten eine neue Heimat zu finden, wobei ihr Schicksal nicht unterschiedlicher hätte sein können. Während es der Familie von Fritz Mandelbaum (Frederic Morton) gelang, 1939 Wien zu verlassen und über Großbritannien 1940 nach New York zu kommen, hatte Ruth Klügers Familie weniger Glück – ihr Vater und Bruder kamen im Holocaust um. Ruth und ihre Mutter Alma überlebten die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt. Nach dem Krieg lebten sie als Flüchtlinge in sog. „DP-Lagern“ (DP = Displaced Person) in Bayern, bevor es ihnen gelang, Visa in die USA zu erhalten. Wie die Mortons sieben Jahre zuvor, zogen Ruth und Alma Klüger nach New York, wo sie auch Verwandte hatten.
Auf Basis seiner intensiven Studie von Mortons und Klügers Autobiographien Runaway Waltz (2005) bzw. weiter leben (1992) analysiert Hofmann-Wellenhof den schwierigen Prozess der Integration bzw. Assimilation dieser zwei Immigranten in die amerikanische Gesellschaft und die Akkulturation an das amerikanische Wertesystem. Es geht um den Verlust einer vertrauten Heimat, Entwurzelung, Entfremdung, innere Zerrissenheit zwischen der alten und neuen Welt und um den Aufbau neuer Identitäten. Mortons Leitspruch in seinem neuen New Yorker Domizil blieb das Wort des englischen Dichters Gerald Manley Hopkins: „Mine, o thou lord of life, send my roots rain.“1 Klüger fand Halt in der Dichtkunst Hölderlins. Morton und Klüger flüchteten sich in die Literatur als Überlebensstrategie. Beide lernten die englische Sprache rasch und assimilierten sich in ihrem neuen Exilland. Trotzdem verspürten beide Heimatlosigkeit und kamen nie ganz in Amerika an, obwohl sie bis heute dort leben (Morton ist im März 2015 in Wien verstorben). Morton war seiner Heimat Wien immer mehr verbunden als Klüger, die als Kind dort den unsäglichen Wiener Antisemitismus erlebte und nie vergessen konnte und dazu drei Jahre Nazi-KZs überlebte. Morton pflegte zeitlebens das Bild vom ewig Reisenden. Es gelang ihm nicht aus dem Zug, den er 1939 im Wiener Bahnhof bestieg, auszusteigen. Ruth Klüger sah sich als ewig Flüchtende, da sie die „Gespenster“ ihrer Zweiten Weltkriegsvergangenheit nie wirklich loswerden konnte. Klüger lebte den Großteil ihres erwachsenen Lebens in Kalifornien. Die dortige schnelllebige und oberflächliche Gesellschaft war das rechte Rezept für eine Holocaust-Überlebende. Kalifornien bot ihr einen „Hort der Zuflucht vor der Vergangenheit.“2 Im Zuge seiner Studie setzt sich der Germanist Hofmann-Wellenhof auch intensiv mit der Literaturgattung Autobiographie auseinander.
Der Prozess der Einwanderung in die USA und die Assimilation dieser beiden „38er“-Flüchtlinge aus Nazi-Wien war also nie so einfach und leicht, wie es E. Wilder Spaulding in seinem Buch über österreichische Einwanderer in die USA Quiet Invaders (1968) den Leser glauben macht. Spauldings These ist es, dass Österreicher, ohne viele Umstände zu machen, ihre Identität aufgaben und Amerikaner wurden, also sich rasch und meist problemlos assimilierten und quasi in der amerikanischen Gesellschaft untertauchten. Sie bildeten nie eine „Austrian Lobby“, um sich für die Interessen Österreichs in den USA einzusetzen. In der neueren Forschung wird dieser Assimilationsprozess als viel komplizierter gesehen. Der Grazer Soziologe Christian Fleck geht in seinem Buch Etablierung in der Fremde (2015) in vier Einzelstudien von ausgewanderten / vertriebenen Wienern auch auf den schwierigen Integrationsprozess im amerikanischen Berufsleben ein. Während der Ökonom Joseph Schumpeter und der Soziologe Paul Lazarsfeld sehr erfolgreich waren, konnten der Sozialphilosoph Edgar Zilsel und der Psychologe Gustav Ichheiser nie richtig Fuß fassen und nahmen sich das Leben. Der amerikanische Historiker Alan M. Kraut sieht Assimilierung als einen „Verhandlungsprozess zwischen Neuankömmlingen und Einheimischen.“ In diesem schmerzhaften Opportunitätsprozess müssen alte Identitäten abgestoßen und neue angenommen werden. Durch seine eingehende Analyse von Mortons und Klügers aussagekräftigen Autobiographien zeigt Hofmann-Wellenhof diesen Verhandlungs- und Opportunitätsprozess auf. Das Bild zur österreichischen Migration in die USA...