Anja Davids
Leben auf dem Land
Nordfriesland ... da steckt der Teufel doch schon im Detail - oder besser – im Namen. Nordfriesland, das bedeutet für mich eine salzige Brise, mal mehr, mal weniger stark. Das bedeutet blauer Himmel, und zwar in jeglicher Schattierung von Dunkelblauanthrazit bis strahlend Königsblau, mal mit Schäfchenwolken, mal ohne als bedrohliche, geballte Wolkenfront.
Schäfchenwolken ... Schäfchen ... Schafe ..., für mich gibt es kein Landleben ohne diese Tiere. Es ist eine so friedfertige, beruhigende Stimmung, wenn man von der Arbeit gestresst nach Hause kommt, keinen Lärm mehr ertragen kann. Dann setzt man sich vor die Tür und lauscht. Das Blöken der Schafe im Chor mit dem Muhen der Kühe, belebt vom hohen Schreien der Uferschnepfen und dem Kiwitt des Kiebitzes, das ist eine Musik von einzigartiger Schönheit. Da weiß ich, ich bin zuhause.
Nordfriesland, ja, wie bin ich hierher gekommen? Das ist schon eine seltsame Geschichte mit vielen Umwegen. Es begann im Jahre 1973 mit einem Urlaub in St.-Peter-Ording. Als Lübecker Kind nur die Ostsee gewohnt, war die Nordsee natürlich völliges Neuland. Wir machten Urlaub auf dem Bauernhof. Was gab es da nicht alles: Kühe und Kälber, Bullen, Schafe, Katzen, Hühner und vieles mehr, kurz gesagt alles, was man als Großstadtkind nicht unbedingt in die Finger bekommt. Ich durfte überall mit, in den Stall, auf die Fennen, Kühe reinholen, Bullen füttern, Kälber versorgen, es war für mich das Paradies. So stand mein Heiratswunsch von Stund auf an fest: ein Bauer soll es sein. Doch dazu später.
Natürlich genossen wir in vollen Zügen die Bademöglichkeiten und das Wandern im Watt. Es hat uns manchen Sonnenbrand (auch an den Füßen) eingebracht. Auch mit den unliebsamen Strandkrabben habe ich so meine Erfahrungen gemacht ... ich mag sie auch heute noch lieber von weitem sehen.
Kurz und gut, für mich als Kind unter zehn Jahren ein absoluter Traumurlaub, der nur unter Protest und Tränen wieder beendet wurde, aber irgendwann musste man ja wieder mal zurück nach Lübeck.
Dieser Urlaub und die wunderbaren Erlebnisse waren für mich auch ungefähr 15 Jahre später noch präsent, als ich mit einer Freundin beschloss, Kurzurlaub an der Westküste zu machen, Station: Jugendherberge Dagebüll. Von hier aus machten wir Tagestouren in alle Richtungen, unter anderem – um in Erinnerungen zu schwelgen – auch nach Eiderstedt. Was hatte ich meiner Freundin nicht alles vorgeschwärmt, da tobt das Leben, wir können die Reiherkolonie besichtigen und vieles mehr. Von der Reiherkolonie war im Jahre 1988 nicht mehr viel vorhanden, auf der Suche nach einem netten Café sind wir schier verzweifelt, St. Peter war so vollgestopft, dass wir gleich wieder kehrtgemacht haben. Für unsere Altersklasse gab es keine adäquate Unterhaltung auf Eiderstedt. Mein Fazit damals (wortwörtlich, ich bekomme es ab und zu noch zu hören): „Also auf Eiderstedt möchte ich ja nicht mal begraben sein!“
Tja, die Jahre gingen ins Land mit Studium und vielen weiteren Erfahrungen in Kiel. Selbst während des Studiums zog es mich immer wieder Richtung wilder Westen, nach Husum. Ich habe mehrere Referate und Arbeiten über Theodor Storm, einen meiner Lieblingsdichter, verfasst und bin zu Studienzwecken in die Stormgesellschaft gefahren, und das nicht nur einmal und nicht nur zu Studienzwecken.
Dann sollte 1993 der Ernst des Lebens beginnen, Vorbereitungsdienst für das zweite Staatsexamen. Da ich unbedingt einen Hund mitnehmen wollte, den ich gerade kennen- und liebengelernt hatte, begann meine Wohnungssuche „auf dem Land“, die dann in Simonsberg endete. Aus der Großstadt Kiel nun in Simonsberg gelandet stellte ich dann fest, man lernt nie aus. Auf dem Land leben kann auch spannend sein, reines Überlebenstraining. Als geselliges Menschenwesen gönnte ich mir dann einen netten Abend in netter Runde bei „Peter Post“, der Gastwirtschaft in Simonsberg. Gegen 0.30 Uhr dann allgemeiner Aufbruch, die anderen fuhren mit dem Auto los, ich trat vor die Tür vom Kirchspielskrug, dann der Schock: Hinter mir ging das Licht aus … und es war stockfinster!!! Entsetzen machte sich breit, das kann doch nicht wahr sein, wo sind die Straßenlaternen? Ich hatte doch genau gesehen, dass es welche gab! Pech gehabt, auf dem Land wird eben Energiesparen groß geschrieben, wie ich später erfuhr. Ab 0.00 Uhr sind die Laternen aus! Nie im Leben wäre ich Großstadtkind auf die Idee gekommen. Neumond machte den Heimweg zu einem Abenteuer. Die ungefähre Richtung ahnte ich, ansonsten kam ich tastend vorwärts. Ich wusste, wenn meine Füße auf Kies stoßen, bin ich von der Straße abgekommen. Für einen Weg von 5 Minuten brauchte ich dann locker 20 Minuten. Mein Hund war auch komplett begeistert, dass ich wieder da war.
Und es gab noch eine Menge mehr zu lernen. Wegbeschreibungen oder Tätigkeiten sind auch sehr spannend. „… denn fohrst du liekut un dat ack dal…“, „…bi dat Heckloch musst du anholen…“ oder „ De is nich dor, de is an´t instacken.“ All diese Begriffe sind inzwischen in meinen Sprachgebrauch übergegangen.
Oft wird gesagt, die Norddeutschen, besonders die an der Westküste, sind dröge und unzugänglich. Diese Erfahrungen kann ich so nicht bestätigen, aber wir wissen ja, Ausnahmen bestätigen die Regel! Die Redensart „hart, aber herzlich“ trifft das Ganze besser, glaube ich. Aufgenommen bin ich als „Totruckene“ jedenfalls immer gut.
Es gibt so viele liebenswerte Eigenheiten der Menschen in dieser Region, die ich nicht mehr missen möchte bzw. die ich übernommen habe. Spontan fällt mir da der aus einem Wort bestehende Kommentar „Na“ ein, der je nach eingesetzter Stimmlage eine ganze Bandbreite von Emotionen wiedergeben kann, Betroffenheit, Trauer, Zustimmung, Erstaunen u.v.m. Ein anderes Thema sind die üppigen Torten… aus Lübeck gewohnt wollte ich diese in 12 geometrisch exakte Teile schneiden. Es folgte ein Entsetzensschrei meiner Nachbarin. Hier an der Küste säbelt sich jeder von den vorhandenen Torten (ungefähre 1:1-Zuordnung Kaffeegast-Torte) ein Stück in ihr oder ihm genehmer Größe ab. Diese Einrichtung finde ich einfach klasse!
Schon nach kurzer Zeit in Simonsberg fiel mir auf, dass sich meine Wahrnehmung veränderte. Der unverbaute Blick in die Ferne war ein wichtiger Bestandteil meines Lebens geworden; unvorstellbar, jemals wieder in eine dicht bebaute Siedlung zu ziehen. Von meiner zweiten Wohnung im Dorf konnte ich direkt auf den Roten Haubarg gucken, einfach wunderbar.
Auch die Wahrnehmung für Entfernungen verändert sich. Strecken von 10km in die nächste große Örtlichkeit werden nicht als dramatisch wahrgenommen, sie sind normal, während der Tourist, dem man eine Strecke beschreibt, kopfschüttelnd zum Besten gibt: „Was, so weit?“
Ach ja, und dann der schlimme Wind. Nicht-Küstenbewohner verfallen schon bei Windstärke 4 in Panik, was hier eher so als leichte Brise angesehen wird. Oft fällt mir der Wind gar nicht mehr auf, er gehört zu meinem täglichen Leben. Wenn er fehlt, dann fehlt was!
Mein Weg führte mich dann nach ein paar Jahren weg von Simonsberg, genau vier Kilometer weiter auf den landwirtschaftlichen Betrieb meines jetzigen Mannes. Wer vorher genau gelesen hat, dem gleitet jetzt bestimmt ein Lächeln übers Gesicht. Ja, ich habe meinen Kinderwunsch wahr gemacht und einen Landwirt geheiratet.
Wieder Umstellungen, statt nur für einen zu kochen, nun auf einmal für zwei und – oh Schreck – zu Heu-, Silo- und Erntezeiten für eine ganze Meute. Man wächst mit seinen Aufgaben, heißt es so schön. Es stimmt. Melken lernen, Kälber versorgen, Heu und Stroh ernten, alles kann man lernen.
Dann die Schafe, diese weißen, braunen und schwarzen runden Farbkleckse auf den grünen Fennen Nordfrieslands. Eigentlich gehörten sie schon längst ins Wappen. Jedes Jahr wieder ist es ein toller Anblick, wenn diese kleinen, springlebendigen Lämmer die Fennen erobern und voller Begeisterung in hohen Sprüngen ihre Lebensfreude zum Ausdruck bringen. Viele glückliche und aufregende Stunden haben diese Tiere mir schon beschert.
Als mein Schwiegervater starb, der sich sonst immer intensiv um „seine Schafe“ gekümmert hatte, waren nun mein Mann und ich gefragt. Schafe hatten ihn aber nie wirklich interessiert. Da passierte es: Ein Mutterschaf, das vor einer Woche gelammt hatte, lag morgens tot im Schuppen. So hatten wir nun zwei Handlämmer. Wie aber diese ernähren? Erster Gedanke: Ein Buch muss her. Gedacht, getan. Viel schlauer war ich aber dann noch nicht. Nach Befragung von Tierarzt, dem guten Nachbarn und einiger anderer Stellen hatten wir dann den Notfallplan Ernährung aufgestellt: Erst einmal alle vier, dann irgendwann alle sechs Stunden körperwarme Milch angerührt für die Waisenknaben, die von mir nach Figuren von Astrid Lindgren Krümel und Jonathan Löwenherz getauft wurden. Schließlich sollten sie genauso stark werden. Wie ich es geschafft habe, in diesen Wochen nachts aus dem Bett zu kommen, in die Kälte raus, weiß ich bis heute nicht. Nach einer weiteren Woche lohnte sich das Aufstehen dann noch mehr, denn es kamen Püppi und Annika dazu. Eines schönen Morgens sah ich nach einem unserer ältesten Schafe mit einem Bocklamm. Der Kleine spielte mit seiner Mutter immer Doppeldecker, er lag auf ihr und genoss das Leben. Leider rührte sich seine Mutter nicht mehr, so kam zu der Viererbande noch Richard Löwenherz dazu.
Jetzt war ich wirklich gut ausgelastet. In unserem Obstgarten vor dem Küchenfenster wurde der Kindergarten aufgemacht. Kindermilchflaschen wurden mit neuen Schnullerkonstruktionen versehen, um den ungestümen Lämmern gerecht zu werden. Telefonieren in der Küche konnte ich vergessen. Kaum hörten die Fünf meine...