Teil I
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade
Don Marco Pozza: Papst Franziskus, von Maria gibt es unzählige Gemälde, Skulpturen, Erzählungen, sie gehört zu den meistgeliebten, den meistgefürchteten und auch den meisterforschten Gestalten – und ist von den Päpsten am energischsten verteidigt worden. Meistgesucht von den Sündern, meistgehasst von Luzifer. Doch nur dem Herrn ist es gelungen, sie zu erobern – mit einem unvergleichlichen Gruß: »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade« (vgl. Lk 1,28). Kein Geschöpf kann sich rühmen, jemals vom Himmel in dieser Weise gegrüßt worden zu sein. Deshalb bewegt es mich tief, das Gegrüßet seist du, Maria zu beten, weil ich dann den Eindruck habe, den Anfang jener Geschichte zu hören, die das Schicksal der Menschheit verändert hat. Es ist eine Verkündigung der Barmherzigkeit, es bedeutet gleichsam, dass Gott einen Neuanfang macht: einen Neuanfang mit einer Frau. Es ist bewegend, sich bewusst zu machen, dass das Christentum auf diese Weise beginnt.
Papst Franziskus: Der Gruß an eine Frau. Gott grüßt eine Frau, er grüßt sie mit einer großen Wahrheit: »Ich habe dich mit meiner Liebe, ich habe dich mit mir selbst angefüllt, und so, wie du von mir erfüllt bist, wirst du auch von meinem Sohn und dann von allen Kindern der Kirche erfüllt sein.« Doch damit ist die Gnade noch nicht erschöpft: Die Schönheit der Mutter Gottes ist eine Schönheit, die Frucht bringt, eine mütterliche Schönheit. Vergessen wir das nicht: Gott grüßt eine Frau, die vom ersten Moment an Mutter ist, die schon im Augenblick der Empfängnis als Mutter dargestellt wird.
Es ist merkwürdig, dass Marias Biografie im Stillschweigen versinkt, als hätten die Evangelisten die Privatsphäre dieser außergewöhnlichen Frau beschützen wollen. Man möchte sagen, dass Maria aus der Stille kommt – so, wie man sagt, dass jemand aus einem bestimmten Land kommt. Papst Franziskus, wie stellen Sie sich die Etappen in Marias Leben vor, von ihrer Geburt bis zu ihrer Aufnahme in den Himmel?
Von ihrer Geburt bis zur Verkündigung, dem Moment der Begegnung mit dem Engel Gottes, stelle ich sie mir wie ein normales Mädchen vor, ein Mädchen von heute, nicht gerade ein Stadtmädchen, denn sie kommt aus einem kleinen Dorf, aber normal, normal, normal erzogen, bereit zu heiraten, eine Familie zu gründen. Ich stelle mir vor, dass sie die heiligen Schriften liebte: Sie kannte die Schriften, sie war darin unterrichtet worden, aber in der Familie, mit dem Herzen. Dann, nach der Empfängnis Jesu, wieder eine normale Frau: Maria ist die Normalität, sie ist eine Frau, von der jede beliebige Frau auf dieser Welt sagen darf, dass sie sie nachahmen kann. Nichts an ihrem Leben ist seltsam, sie ist eine normale Mutter: Auch in ihrer jungfräulichen Ehe, ihrer Keuschheit im Rahmen der Jungfräulichkeit, war Maria normal. Sie hat gearbeitet, die Einkäufe erledigt, ihrem Sohn geholfen, ihrem Mann geholfen: ganz normal.
In einem der Psalmen gibt es einen wunderbaren Vers: »Schön bist du wie keiner unter den Menschen« (45,3). Mir gefällt der Gedanke, dass der Schönste unter den Menschen letztlich hingegangen ist und sich die Schönste aller Frauen gesucht hat: Darum geht es doch eigentlich bei der Unbefleckten Empfängnis. Zuweilen erschreckt mich das sogar: all diese Schönheit, die sich in einer einzigen Geschichte verbirgt. Aber mich beeindruckt der Stil: Maria tritt auf Zehenspitzen in die Geschichte ein und geht auf Zehenspitzen wieder hinaus. Das ist auch der Stil ihres Sohnes. Aber was bedeutet das konkret, dass Maria ohne Erbsünde geboren ist?
Das bedeutet, dass sie, wie ich gerne sage, sogar noch vor Eva geboren ist. Aus chronologischer Sicht trifft das nicht zu, aber mir gefällt die Vorstellung, dass sie vor dem Moment geboren ist, als Eva betrogen, als sie verführt wurde, weil Maria kein Opfer dieses Betrugs geworden ist, weil für sie keine Konsequenzen entstanden. Doch sie ist auch danach geboren, weil aus Sicht der Kirche, die nicht irren kann, die Neu-Schöpfung wichtiger ist als die Schöpfung. Die Schöpfung beginnt mit Adam und dann Eva, und beide gemeinsam sind nach dem Bild Gottes und ihm ähnlich geschaffen worden. Die Neu-Schöpfung beginnt von Maria aus: einer alleinstehenden Frau. Wir können an die alleinstehenden Frauen denken, die zuhause alles in Gang halten, die alleine die Kinder erziehen. Maria ist sogar noch alleinstehender als sie. Allein beginnt sie diese Geschichte, die dann mit Josef und der Familie weitergeht; aber am Anfang ist die Neu-Schöpfung ein Zwiegespräch zwischen Gott und einer alleinstehenden Frau.
Dieser Übergang ist wesentlich: Die christliche Geschichte beginnt mit einer Frau, die fähig ist zu staunen. Ein Dichter hat einmal gesagt, dass jemand, der die Fähigkeit des Staunens verliert, vorzeitig altert. Man möchte beinahe sagen, dass jemand, der nicht überrascht sein kann – sich nicht von Gott überraschen lassen kann –, nicht weiß, was er in seinem Leben versäumt.
Genauso ist es, denn Gott ist der Gott der Überraschungen. Das Staunen ist eine menschliche Tugend, die heute nicht mehr im Angebot ist. Nimm dir ein Kind, zeig ihm etwas, das seine Aufmerksamkeit erregt: Es staunt sofort, das Staunen ist die Tugend der Kinder. Wenn wir die Fähigkeit des Staunens verlieren, können wir Maria nicht verstehen: Um Maria zu verstehen, muss man umkehren, zurückgehen, wieder Kind werden, das Staunen der Kinder empfinden, »Gegrüßet seist du, Maria« sagen wie ein Kind, mit dem Herzen eines Kindes, mit den Augen des Herzens, die unsere Kultur verloren hat. Das Staunen ist keine übliche Kategorie, wir müssen sie im Leben der Kirche wiederfinden. Wir müssen uns verwundern.
Die Schönheit einer Frau, in der Gott wohnt
(Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Mutter Gottes Maria, 8. Dezember 2017)
Jedes Jahr am 8. Dezember betrachten wir die Schönheit der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau Maria. Das Evangelium von der Verkündigung an Maria hilft uns – vor allem durch den Gruß des Engels – zu verstehen, was wir feiern. Er wendet sich mit einem nicht leicht zu übersetzenden Wort an sie, das »von Gnade erfüllt«, »aus Gnade geschaffen«, »voll der Gnaden« (Lk 1,28) bedeutet. Bevor er sie Maria nennt, nennt er sie Begnadete und offenbart so den neuen Namen, den Gott ihr gegeben hat und der ihr mehr zukommt als jener, den sie von ihren Eltern erhalten hat. Auch wir nennen sie bei jedem Gegrüßet seist du, Maria mit diesem Namen.
Was heißt voll der Gnaden? Dass Maria von der Gegenwart Gottes erfüllt ist. Und wenn Gott in ihr wohnt, ist kein Platz für die Sünde in ihr. Das ist etwas Außerordentliches, da die ganze Welt leider vom Bösen befleckt ist. Ein jeder von uns sieht, wenn er in sein Inneres blickt, finstere Seiten. Auch die größten Heiligen waren Sünder und alle Wirklichkeiten, sogar die schönsten, sind vom Bösen angegriffen: alles, außer Maria. Sie ist die einzige »immergrüne Oase« der Menschheit, die einzige Reine, unbefleckt geschaffen, um mit ihrem »Ja« Gott ganz aufzunehmen, der in die Welt kam, und so eine neue Geschichte zu beginnen.
Jedes Mal, wenn wir sie als die Gnadenerfüllte bekennen, machen wir ihr das größte Kompliment, dasselbe, das Gott ihr gemacht hatte. Ein schönes Kompliment gegenüber einer Frau besteht darin, ihr auf nette Art zu sagen, dass sie jung aussieht. Wenn wir Maria voll der Gnaden nennen, sagen wir ihr in einem gewissen Sinn auch das, auf einer höheren Ebene. Denn wir erkennen sie als die immer jung Gebliebene, da sie nie durch die Sünde gealtert ist. Es gibt nur eines, was wirklich alt werden lässt, innerlich alt werden lässt: nicht das Alter, sondern die Sünde. Die Sünde lässt altern, da sie das Herz verhärtet. Sie verschließt es, sie macht es träge, sie lässt es verblühen. Doch die Gnadenerfüllte ist ohne Sünde. So ist sie immer jung, sie ist »jünger als die Sünde«, sie ist »die Jüngste des ganzen Menschengeschlechts « (G. Bernanos, Tagebuch eines Landpfarrers).
Die Kirche beglückwünscht Maria heute, indem sie sie die ganz Schöne nennt: tota pulchra. Wie ihr Jungsein nichts mit dem Alter zu tun hat, so besteht ihre Schönheit nicht in Äußerlichkeit. Wie das heutige Evangelium zeigt, zeichnet sich Maria nicht durch ihr Auftreten aus: Sie kam aus einer einfachen Familie und lebte bescheiden in Nazareth, einem fast unbekannten Städtchen. Sie war nicht berühmt: Auch als sie der Engel besuchte, wusste dies niemand. An jenem Tag war kein Reporter anwesend. Die Mutter Gottes hatte auch kein Leben in Bequemlichkeit, sondern Sorgen und Ängste: sie »erschrak « (V. 29), sagt das Evangelium, und als der Engel »sie verließ« (V. 38), mehrten sich die Probleme.
Dennoch hat die Begnadete »ein schönes Leben« gelebt. Was war ihr Geheimnis? Wir können es erfassen, indem wir erneut auf die Szene der Verkündigung blicken. Auf vielen Gemälden wird Maria dargestellt, wie sie vor dem Engel sitzt und ein kleines Buch in der Hand hält. Dieses Buch ist die Heilige Schrift. So war Maria gewöhnt, auf Gott zu hören und mit ihm zu sprechen. Das Wort Gottes war ihr Geheimnis: Es war ihrem Herzen nah und nahm dann aus ihrem Schoß Fleisch an. Weil Maria Gott nahe blieb und in jeder Situation im Dialog mit ihm war, machte sie ihr Leben schön. Nicht der Schein, nicht das, was vorübergeht, sondern das auf Gott ausgerichtete Herz macht das Leben schön. Wir wollen heute voll Freude auf die...