Max von Baden war ein Vetter des Kaisers. Ein ungeliebter Vetter allerdings, den Wilhelm überall, aber auf keinen Fall an der Spitze seiner Berliner Regierung hatte sehen wollen. (Die gar nicht zimperliche Kaiserin hat wohl im Moment allerhöchster Spannung dem Vetter ihres Gatten gedroht, man werde seine homosexuellen Neigungen öffentlich machen, wenn er nicht von seiner Kritik der kaiserlichen Linie abrückte. Max von Baden erlitt einen Nervenzusammenbruch, gab aber nicht nach.3)
Am 7. November ließ sich der Kanzler noch mal weichklopfen und gab – auch mit Unterstützung der deutlich verärgerten Zentrumspartei, der Fortschrittlichen Volkspartei und der Nationalliberalen – die Rücktrittsforderung seines Kabinetts ans Hauptquartier in Spa weiter, wo der Kaiser weilte, um den Berlinern und anderen Opponenten zu signalisieren, dass er in diesen schwierigen Tagen Wichtigeres zu tun habe. Da der Kanzler aufgrund seines Selbstverständnisses als Aristokrat den Kaiser nicht direkt um Abdankung bitten konnte, bot er seinen eigenen Rücktritt an. Wilhelm aber untersagte dem Prinzen den Rücktritt. An seinen eigenen dachte er nicht einmal.4
Im Ultimatum war der sofortige Rücktritt gefordert worden. Aber Wilhelm II. war auch am Abend des nächsten Tages, das war Freitag, der 8. November, noch im Amt. Der Kaiser schien sich einen Dreck zu scheren um die Verlautbarungen seiner Regierung im Berliner Reichstag. Aber das war sowieso klar. In Berlin zeigte man sich dennoch konsterniert. Vor allem in der SPD, die ja die Rücktrittsforderung als Problemlösung geradezu erfunden hatte. Sie sah sich dennoch gezwungen, etwas Druck aus dem Kessel zu nehmen. Also wurde Scheidemanns Versicherung dem Prinzen Max von Baden gegenüber nun auch noch öffentlich bekräftigt: Die SPD wird diese Regierung vor dem Abschluss des wichtigen Waffenstillstandes nicht im Stich lassen. Die Unterhändler waren schließlich schon seit dem 6. November unterwegs und hatten noch nicht einmal das alliierte Hauptquartier erreicht. Das mit dem Waffenstillstand konnte also noch dauern.
Dass der Kaiser nichts gab auf die Forderungen seiner Regierung und die SPD das auch noch hinnahm, feuerte die Wut der Demonstranten auf der Straße nur noch mehr an. Also musste die SPD auf den fahrenden Zug, den sie mit ihrer ruckelnden Verhandlungstaktik nicht mehr bremsen konnte, aufspringen. Wie so oft an einem deutschen 9. November war der Hauptakteur auch der Verantwortliche dafür, dass er im Finale selbst gewaltig unter Druck geriet. Die SPD stellte sich an die Seite der Arbeiter- und Soldatenvertreter und forderte die Regierung auf, die Macht zu übergeben.5 Eine eigenartige Forderung von einer Partei, die ja nominell schon an der Macht war, zumindest saß sie im Kabinett des Max von Baden.
Der unfreiwillige Partner der SPD, die USPD, hatte an diesem 9. November ein Problem. Ihr Vorsitzender Hugo Haase war nicht in der Stadt. Er hatte die Aufgabe, die in Kiel meuternden Matrosen zu beschwichtigen, was ihm überraschend gut zu gelingen schien. Ohne Haase sahen sich die abtrünnigen Sozialisten nicht in der Lage, so grundsätzliche Vereinbarungen zu beschließen, wie die Mehrheitssozialisten sie anstrebten. Dazu kam noch, dass sich die Revolutionären Obleute in der USPD entschlossen hatten, erst ab dem 11. November einen großen Vorstoß gegen die Regierung und den Kaiser zu starten.
Karl Liebknecht warnte davor, so lange zu warten. Aber sein Wort hatte in der Partei in diesen Tagen weniger Gewicht, als er und andere es glauben wollten. Die Revolutionäre, mit denen die Mehrheitssozialisten um Ebert sich zusammentun wollten, waren also gelähmt – zumindest für den Augenblick.
Um den ging es aber: um den Augenblick. Denn auf der Straße wurde die Situation immer kritischer, auch wenn die USPD-Radikalen sich nicht entschließen konnten, ob und wann sie mit oder ohne Mehrheitsgenossen handeln wollten.
Eine starke militärische Kraft, die die Radikalen hätte auseinandertreiben können, gab es nicht in der Hauptstadt. Die Fronttruppen waren anderswo, in Auflösung begriffen oder ohne entschlossene Führung. Einzig die berüchtigten Naumburger Jäger waren seit dem Vortag in der Stadt stationiert. Das 4. Jägerregiment zog am 8. November mit Maschinengewehr-Kompanien und schwerbewaffneten Infanteriekolonnen am Landwehrkanal entlang in Richtung Charlottenburg. Die Berliner beobachteten den Aufzug der Kampftruppen mit Beklemmung.6
Am späten Abend rückte das 4. Jägerregiment in die Infanterie-Schießschule an der Charlottenburger Chaussee ein. Den sogenannten Naumburger Jägern traut die Generalität zu, dass sie in Berlin mit revolutionären Umtrieben kurzen Prozess machen. Noch in der Nacht zum 9. November werden Granaten an die Jäger ausgegeben. Bei der Ausgabe verweigert ein Gefreiter die Entgegennahme seiner Granate. Er wird sofort verhaftet und weggebracht. Niemand in der Truppe protestiert oder leistet gar Widerstand. Erst Stunden später beginnt es unter den Soldaten zu rumoren. Sie wollen nun wissen, was genau sie in Berlin tun sollen und was es mit den Granaten auf sich hat. Sollen sie die Granaten etwa auf die Berliner Arbeiter werfen? Die Offiziere versprechen ihnen, dass sie in wenigen Stunden genauere Anweisungen und auch Informationen über die Lage in Berlin bekommen werden. Die ermüdeten Mannschaften legen sich in ihre Betten.
Am Samstagmorgen, dem 9. November, hat sich die Stimmung in der Charlottenburger Kaserne verändert. Die Naumburger Jäger wollen die Unterrichtung durch die Offiziere nicht abwarten. Sie schicken eine Delegation zur „Vorwärts“-Redaktion, wo seit 7 Uhr die Betriebsvertrauensleute der SPD tagen. Die bekommen einen mächtigen Schreck, als die bewaffneten Elitesoldaten ins Verlagshaus stürmen. Der Sprecher der Naumburger verlangt, dass jemand in die Kaserne mitkommt. Der Reichstagsabgeordnete Otto Wels erklärt sich dazu bereit. Die Soldaten bugsieren ihn in ihren Kraftwagen und bringen ihn in den Hof der Kaserne an der Charlottenburger Chaussee. Wels wird auf einen Krümperwagen gehievt und aufgefordert, die Mannschaften ins Bild zu setzen. Er berichtet von den schwierigen Waffenstillstandsbedingungen, von den taktischen Manövern des Kaisers. Auf dem Wagen bietet er ein leichtes Ziel, wenn einer der Offiziere, die ebenfalls Stellung bezogen haben, auf ihn schießen sollte. Wels wagt es schließlich, an die Jäger zu appellieren: „Es ist eure Pflicht, den Bürgerkrieg zu verhindern. Ich rufe euch zu: Ein Hoch auf den freien Volksstaat!“7 Und die gefürchteten Naumburger jubeln ihm zu.
Als Wels gegen 9 Uhr morgens zum „Vorwärts“ zurückkehrt, befinden sich in seiner Begleitung sechzig schwerbewaffnete Jäger: Sie sollen den Verlag vor Angriffen schützen. Damit ist es entschieden: Die Armee steht in der Hauptstadt auf der Seite der Mehrheitssozialisten, die Richtung der Revolution ist festgelegt.
Wels hält einen Rekord: Kein Politiker wurde in diesen turbulenten Tagen so oft entführt, eingesperrt, bedroht, als Geisel genommen. Aber kein Politiker hat auch so hoch gepokert wie Wels: Er agitierte in Kasernen, in die hinein sich keiner seiner Genossen getraut hätte. Er holte sogar die aufständischen Kieler Matrosen nach Berlin. Doch Wels war ein Stehaufmännchen. Trotz Todesdrohungen und Misshandlungen entkam er immer wieder seinen Peinigern und konnte sie sogar politisch umstimmen – wie im Fall der Naumburger Jäger.
Die Kaiserschlacht
Die Karten sind verteilt. Nicht zuletzt durch den riskanten Einsatz von Otto Wels in den Alexanderkasernen war die stärkste militärische Machtkonzentration in der Hauptstadt zu den Sozialdemokraten übergelaufen. Das bedeutete – mehr als alles andere – das Ende des Kaiserreichs.
Im Hauptquartier der Reichswehr im belgischen Spa hatte man bis zu diesem Morgen so getan, als hätten die Kapriolen der Politik, vor allem der Sozialdemokraten, wenig Einfluss auf den großen Gang der Dinge, für den man sich trotz Parlamentsregierung in Berlin immer noch zuständig fühlte. Doch kurz nach neun an diesem Samstag machten sich die hohen Generäle Hindenburg und Groener auf einen schweren Weg. Sie mussten zum Kaiser, zu dem sie bisher stur gestanden hatten, obwohl seine Abdankung vonseiten des mächtigen Siegers auf der anderen Seite der Front als Bedingung für den Frieden angesehen wurde.
Wilhelms Zustand war seit Monaten unverändert. Unverändert weltfremd und egoman. Ein Schlaglicht auf seinen politischen Geisteszustand wirft eine Episode aus dem Frühsommer. Da in Brest-Litowsk ein Friedensvertrag mit Russland erzwungen worden war, waren eine Million deutsche Soldaten und 3000 Geschütze an die bröckelnde Westfront verlegt worden. Die beiden Hasardeure an der Spitze der Obersten Heeresleitung Ludendorff und Hindenburg warfen alles in eine Entscheidungsschlacht bei St. Quentin. Dort waren die Deutschen den Engländern 3:1 überlegen. So konnten sie im März 1918 noch 90 000 Gefangene machen und 1300 Geschütze erbeuten. Als im Hauptquartier in Avesnes die Meldungen über den unerwarteten Erfolg eintrafen, jubelte der Kaiser. Das Zentrumsblatt „Kölnische Volkszeitung“ sprach von St. Quentin nur noch als der „Kaiserschlacht“. Als Wilhelm davon hörte, tobte er gegenüber Herrn von Berg, dem Chef seines Zivilkabinetts (eine Art Präsidialamt): Das klinge ja so, als habe er die anderen Schlachten nicht gewonnen.
Die „Kaiserschlacht“, also der vermeintliche „Endsieg“ von 1918, war bereits im Mai beendet, als massierte alliierte Verbände der letzten deutschen Offensive an der Marne bei Chateau Thierry...