Wieder in Alaska
März 2005. Zum zweiten Mal bin ich mit meinem elfjährigen Sohn Erik in Alaska unterwegs. Zwei Jahre zuvor waren wir mit unserem Segelboot Tardis durch die Shelikofstraße entlang der Südseite der Aleuten gesegelt, eine der gefährlichsten Routen weltweit. Gewaltige Stürme, plötzliche Wetterumschwünge und ein sehr hoher Tidenhub – zehn Meter liegen zwischen Ebbe und Flut – sind charakteristisch für dieses Gebiet, in dem das milde Nordpazifikklima auf die eisige Luft der Beringsee stößt. In geschützten Buchten waren wir an Land gegangen, und Erik hatte erstmals die Grizzlys, von denen ich ihm schon so viel erzählt hatte und die er aus meinen Filmen kannte, live und aus nächster Nähe gesehen.
Seit Erik fünf Jahre alt war, hatte er mir nach jeder Rückkehr aus Alaska – wo ich oft mehr als die Hälfte des Jahres verbringe – ein Loch in den Bauch gefragt. Und jedes Verhör hatte mit der Frage geendet: »Papa, wann nimmst du mich mal mit nach Alaska?« Natürlich freute ich mich über das Interesse meines Sohnes an der faszinierenden Welt, die mich vor 15 Jahren in ihren Bann geschlagen hat und seither nicht mehr losläßt. Für Erik war der Törn auf unserem Tardis (wir sagen immer »der Tardis«, obwohl uns klar ist, daß Schiffe eigentlich weiblich sind) entlang der Aleuten ein Abenteuer gewesen, das ihn tief beeindruckt hat.* [* Nachzulesen in Kieling, Andreas: Der Bärenmann. Vater und Sohn unter Grizzlys in Alaska, Hamburg 2004.] Und er hatte Feuer gefangen: Alaska hat ihn ebenso infiziert wie mich, denn von da an hatte er mich ständig mit der Frage gelöchert: »Papa, wann nimmst du mich wieder mit nach Alaska?«
Der wilde Norden ist für Erik das ideale »Spielfeld«, denn er ist wie ich ein Wassermensch, kein Bergtyp, und will als erstes immer wissen: »Kann ich da angeln?« und »Gibt’s da große Fische?«
Ich war als Kind genauso. Magisch zog es mich zum Wasser. Wann immer ich einen Kanal, einen Fluß oder Strom sah, war ich nicht mehr zu halten. Mein erstes Boot war der auseinandergesägte Benzintank eines russischen Lkws der Marke Ural. Mit diesem unförmigen, rechteckigen Ungetüm und einer Dachlatte als Paddel dümpelte ich schon als Sieben-, Achtjähriger auf einem kleinen Waldsee herum, und damit es mir niemand wegnehmen konnte, befestigte ich eine Schnur daran und versenkte es jedesmal. Nur mit Mühe konnte ich das schwere Teil dann zu meiner nächsten Exkursion aus dem Schlick ziehen. Doch irgendwann wurde ich zu groß und zu schwer für das Gefährt und mußte es aufgeben.
Nach dem Umzug an die Saale machte ich mich mit meinem neuen Kumpel Michael auf die Suche nach einem Ersatz für den Benzintank. Ein Wassertrog auf einer Kuhweide kam uns da wie gerufen. Der ausgehöhlte, zylinderförmige Holzstamm hatte natürlich weder Bug noch Heck, aber praktischerweise zwei Griffe. Wir hatten gerade das Wasser ausgekippt und wollten unser neues Boot zur Saale schleppen, da kam der Bauer angerannt. Es gab mächtig Hiebe. Zum Glück bekomme ich sehr schnell Nasenbluten, und als mir das Blut übers Gesicht bis auf mein Hemd lief, bekam es der Bauer mit der Angst und ließ uns laufen. Zwei Tage später hatten wir mehr Erfolg, und kurz darauf fuhren wir in dem Wassertrog von Jena bis an die Einmündung in die Elbe bei Halle.
Irgendwann war uns der Trog nicht mehr gut genug, war ja auch kaum steuerbar. Da entdeckten wir eines Tages Masten, aus denen eine Telegraphenleitung errichtet werden sollte. Für uns Jungs ein Geschenk der Götter, war das doch das beste Material, um ein Floß zu bauen. Pfeil und Bogen und auch eine Angel gehörten zu unserer Standardausrüstung, dazu ein Feuerzeug, um ein Lagerfeuer machen zu können, über dem wir Kartoffeln und mit etwas Glück einen selbstgefangenen Fisch grillten. Wir waren wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Und wenn unser Floß am Wehr zerbrach, setzten wir es anschließend wieder zusammen – unermüdlich.
Wie gesagt, Erik ist genauso ein Wassermensch wie ich und genauso von Alaska begeistert. Als ich ihn fragte, ob er wieder mit mir nach Alaska reisen wolle, diesmal, um auf dem Chilkoot Trail in das Quellgebiet des Yukon zu ziehen, schaute er mich aus großen Augen an. Er glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können – und hatte vermutlich sowieso nur die zweite Hälfte von dem, was ich gesagt hatte, mitbekommen. Die Aussicht, mit dem Kanu auf dem Yukon zu paddeln …
»Erik, hast du mir richtig zugehört? Zuerst müssen wir über den Chilkoot-Paß. Das wird alles andere als ein Spaziergang. Der Weg ist extrem anstrengend und schwierig – vor allem im Frühjahr, denn da ist es in Alaska noch eiskalt.«
»Was meinst du, Papa, schaffe ich das?«
»Da bin ich mir sicher.«
»Dann will ich mit!«
Erik weiß, daß ich ihn zu nichts überreden würde, was ich nicht verantworten könnte, und wenn ich ihm sage, daß ihm dies oder das gefallen wird oder er einer Aufgabe gewachsen ist, dann vertraut er mir – im Unterschied zu Thore, unserem jüngeren Sohn, der sehr stark von Birgit beeinflußt ist, die trotz meiner langjährigen Erfahrung in der Wildnis immer noch mit Ängsten zu kämpfen hat.
Die Tour mit Erik wäre nur der Anfang einer groß angelegten Unternehmung, die mich von Skagway beziehungsweise Dyea an die Quellen des Yukon und von dort bis zu seiner Einmündung in die Beringsee führen würde – knapp 3200 Kilometer durch die Wildnis. Im Fokus stand neben der atemberaubenden Landschaft mit ihrem sagenhaften Wild- und Pflanzenreichtum auch die Geschichte dieses Gebiets. Vor über 100 Jahren hatte der Goldrausch Tausende wagemutiger Männer – und einige Frauen – an den Klondike River, einen Nebenfluß des Yukon, gelockt. In der Erwartung unermeßlichen Reichtums hatten die Menschen härteste Strapazen auf sich genommen, und viele hatten ihre Hoffnungen mit dem Tod bezahlt. Nur wenige waren wohlhabend geworden. Auch Jack London war ohne ein Klümpchen Gold zurückgekehrt, dafür aber mit Geschichten, die die Welt begeisterten. Dieser Vergangenheit wollte ich nachspüren. Da ich diesmal weit länger als sonst von zu Hause fort sein würde, hatten Birgit und ich vereinbart, daß Erik mich in den Osterferien begleiten und in den Sommerferien dann die ganze Familie zu mir stoßen würde.
Birgit und ich waren schon einmal, 1991, den Yukon runtergepaddelt. Daß sie damals den Mut zu einem solchen Abenteuer aufgebracht hatte, rechne ich ihr noch heute hoch an, denn sie ist kein Wassermensch, hat zu Wasser eher ein zwiespältiges Verhältnis. Schwimmen und Baden, ja, aber große Flüsse sind ihr suspekt. Trotzdem ließ sie sich auf das Wagnis ein, mehrere Monate auf und an einem Fluß in der Wildnis zu leben. Die Reise wurde eine Bewährungsprobe für mich und meine Pläne, als Abenteurer und Filmer meinen Unterhalt zu verdienen, und für unsere Beziehung: Die ersten Wochen war unser Freund Michael mit von der Partie, was so manche Situation entspannte, doch dann lebten Birgit und ich mehrere Monate auf engstem Raum zusammen – untertags in einem Kanu, nachts in einem kleinen Zelt. Nur selten kamen wir an Siedlungen vorbei und konnten mal mit anderen Menschen reden. Wir waren zudem mit vielen Träumen und null Ahnung aufgebrochen, denn auch ich war damals noch ein absolutes Greenhorn. Tagelang wurden wir oft von heftigen Regenfällen regelrecht durchweicht, dann wieder stürzten sich dicke, schwarze Moskitowolken auf uns. Als Birgit schließlich nach Deutschland zurückkehrte, während ich den Yukon noch bis zur Beringsee weiterpaddelte, stand unsere Beziehung auf der Kippe. Dabei hatten wir ursprünglich geplant, in irgendeiner der Indianersiedlungen am Yukon zu heiraten … Na ja, aber wir sind noch immer zusammen, haben irgendwann mal auch geheiratet und mittlerweile zwei Söhne. Und ich habe mir als Tierfilmer einen Namen gemacht.
Und wie das halt so ist, mit der Zeit fängt man an, alte Erlebnisse zu romantisieren. Das ging dann so nach dem Motto: »Erinnerst du dich noch an die lustigen Indianer?« Die waren nicht lustig, sondern einfach nur betrunken. Oder: »Weißt du noch, wie schön das war, als der Elch damals in der Abendsonne durch den Fluß geschwommen ist?« Und allmählich reifte der Plan, noch einmal, wenn unsere Jungs dafür groß genug wären, gemeinsam den Yukon zu bereisen – zumindest ein Teilstück. Diese zweite Reise war also als »Familienurlaub« von langer Hand geplant, in erster Linie unternahmen wir sie aber für das Fernsehen.
Über die »goldene Treppe«
Ende März 2005 landen Erik und ich auf dem kleinen Flughafen in Skagway und fahren nach Dyea. Dyea, in einem Fjord gelegen, ist der Ausgangspunkt des Chilkoot Trails, auf dem die alten stampeders oder Argonauten – benannt nach den Argonauten Iasons auf der Suche nach dem Goldenen Vlies – vor über 100 Jahren nach Dawson City in Kanada zogen, um am Klondike Gold zu schürfen. Wir decken uns mit Vorräten ein, und ein letztes Mal für die nächsten Wochen schlafen wir in einem richtigen Bett und gönnen uns ein Essen in einem Restaurant.
Am nächsten Morgen geht es dann los. Der Winter ist nicht gerade die optimale Zeit für so ein Unternehmen. Um uns her ist alles weiß. Wobei gerade die weiße wilde Landschaft Erik fasziniert. Sooooo viel Schnee! Es hat um die minus 20 Grad, dazu starke Winde, das potenziert sich schnell zu gefühlten minus 40.
»Mensch, Papa, wann sehe ich denn endlich mal ein Tier?« beschwert sich Erik nach einiger Zeit, und ich merke, daß er sich unser Unternehmen doch ein klein bißchen...