kapitel 1
when everyone
has gone
Es gibt Millionen Storys von Jungs, die eine Band gründen und vom großen Ruhm träumen. Es gibt hunderte Geschichten von Bands, die dem Traum ein klein wenig näher kommen – Geschichten über erste verschwitzte, nervöse Auftritte in Jugendzentren, auf Stadtteilfesten, in kleinen Clubs und bei kirchlichen Veranstaltungen. Ein paar dieser Bands entwickeln sich Schritt für Schritt weiter. Doch die meisten bleiben irgendwo unterwegs hängen, zufrieden mit ihrem lokalen Bekanntheitsgrad, das Anfängerschlagzeug in der Garage, die ungestimmte Gitarre im verstaubten Futteral unterm Bett und der Synthesizer wurde schon auf dem Flohmarkt verschleudert oder für kleines Geld über eine Kleinanzeige verhökert. Die Saga vom Esbjörn Svensson Trio ist die Geschichte von drei Enthusiasten, die sich mit dem Erreichten nicht zufriedengaben, hartnäckig weiterkämpften, ohne Rücksicht darauf, »was die Leute hören wollen« oder »was die Plattenfirma will«. Die Story vom Esbjörn Svensson Trio zeigt, dass alles möglich ist – für den, der zum vollen Einsatz bereit ist.
Esbjörn Svensson grinst seinen Jugendfreund Magnus Öström und den Bassisten Dan Berglund frech an. Es ist der erste Auftritt des Esbjörn Svensson Trios in seiner endgültigen Formation und außerdem das Release für das erste Album der Band When Everyone Has Gone. Das Konzert im Fasching wechselt zwischen ruhigen Balladen und schnellen Stücken, zwischen eigenen Kompositionen und Standards und nähert sich dem Ende. Wenn bei dem Auftritt irgendwann einmal Lampenfieber eine Rolle gespielt haben sollte, ist es längst verflogen. Das Publikum amüsiert sich mit der Band und unvermittelt setzt das vorletzte Stück des frisch veröffentlichten Albums – der Funkblues »Tough Tough« – ein.
Es ist der 26. Januar 1994 und alles läuft perfekt. Anlässlich des großen Tages hat sich das Trio in Schale geworfen, trägt seriöse dunkle Anzüge, schwarze Poloshirts und blank geputzte Schuhe. Vielleicht ist das auch eine augenzwinkernde Verneigung vor der Jazztradition, die das Trio während der kommenden 15 Jahre immer im Blick haben, mit der es aber auch brechen und die es weiterentwickeln wird. Vielleicht ist es eine Art, dem Ernst der Stunde Rechnung zu tragen – die erste Platte mit Musik, von der alle instinktiv spüren: Das ist es. Aber mit dem traditionellen Outfit hören die meisten Anklänge an Jazzbands, die zu Beginn der 1990er-Jahre die Szene prägten, auch schon auf.
Das Esbjörn Svensson Trio steht – das offenbart sich schon an diesem Abend – für etwas Neues. Es geht nicht um die große Revolution, aber doch um eine eigenständige Haltung gegenüber einer Menge ganz unterschiedlicher Details. Das alles verbunden mit einer Energie, die keine andere Band auch nur annähernd erreicht. Die Kommunikation und die gute Stimmung innerhalb der Band sind fast mit Händen zu greifen. Das steckt an. Schon bevor Esbjörn das Mikrofon für seine Ansagen zur Hand nimmt, die angenehm informativ sind, ohne deshalb in Schmeicheleien oder Banalitäten abzugleiten, fühlt sich das Publikum einbezogen.
Das soll zum Schlüssel für die Zukunft werden.
Ja, man kann so weit gehen zu behaupten, dass all die künstlerischen Qualitäten, die e. s. t. im Laufe der Zeit an die Weltspitze des Jazz führen, bereits in When Everyone Has Gone und seinem Release-Konzert angelegt sind.
Wenden wir uns für einen Augenblick dem Album selbst zu. Der sensible nordische Folk, der sich wie ein roter Faden durch alles zieht, was das Trio in Zukunft produzieren wird, findet sich schon in dem einleitenden Track »When Everyone Has Gone«. Den Titel hatte Magnus ausgebrütet, was im Laufe der Zeit von der Ausnahme zur Regel wurde. Er hebt auf das bittersüße, ambivalente Gefühl nach einem gelungenen Fest ab; auf die Mischung zwischen Wehmut und Wärme. Track Nummer zwei, »Fingertrip« (der Titel erklärt sich selbst), lässt sich bei großzügiger Definition als Moll-Blues im schnellen Tempo bezeichnen. Dem eigensinnigen Thema geht ein Pianosolo voraus, das auf vielerlei Weise swingt, geschmeidig und nicht vorhersagbar ist wie kaum ein anderes Stück, das das Trio je spielen wird. Die Struktur ist hingegen wesentlich traditioneller als spätere Produktionen der Band. Die Formel entspricht faktisch dem, was das Trio in vielen Live-Konzerten immer wieder praktiziert: Pianosolo, Basssolo, Schlagzeugsolo, Thema und Schluss.
Das dritte Stück nennt sich »Free Four« – und wie der Titel andeutet, lässt sich der Rhythmus, je nach Wahl des Zuhörers, am Beginn sowohl als Dreiviertel als auch als Viervierteltakt deuten. Die Melodie ist modal aufgebaut, mit einem stark von Fusion und Blaxploitation-Soundtracks beeinflussten Thema, und zeigt deutlich die subtile Beherrschung elektronischen Equipments. Der vierte Track »Stella By Starlight« ist ein Standard – einer der letzten, den die Gruppe einspielen sollte (abgesehen vom Monk-Album). Hier kokettiert das Trio ausführlich mit der gesamten Geschichte des Jazzpianos, erlaubt sich dabei zwar den einen oder anderen Ausflug, bewegt sich aber dennoch im Rahmen dessen, wie alles insgesamt »sein soll«. Das fünfte Stück, »4am«, leiten Flügelklänge ein, die über einem verhaltenen Synthesizerteppich schweben und in eine von schwedischer Volksmusik beeinflusste Ballade übergehen; eine ausgeprägte Melodie, die der inspirierten Pianoimprovisation eine große, freie Projektionsfläche schafft. Im Hintergrund erahnt man währenddessen Esbjörns Stimme, der in der Art von Keith Jarrett halblaut seine eigenen Solopartien begleitet.
Respektlos und experimentell, anders kann man die zwei folgenden Stücke nicht nennen – »Mohammed Goes To New York part 1 / part 2«. Part 1 beginnt mit einem improvisierten Muezzingesang von Magnus Öström – unisono mit Dan Berglunds gestrichenem Bass – und mündet in ein orientalisch gefärbtes Streichersolo, das hoch über dem meist synthetischen Klanghintergrund schwebt. »Die Melodie flog uns während einer Probe einfach zu«, berichtet Magnus, »ich kann nicht erklären, woher.« In Part 2 ist der historische Mohammed offensichtlich nach Downtown verzogen, die orientalischen Tonskalen sind verschwunden und durch traditionellere Elemente ersetzt. Gerade hier kann man deutlich die Struktur künftiger Stücke erahnen: gemeinsame Kompositionen mit zahlreichen unterschiedlichen Modulen in Bezug auf Klang und Rhythmus, die hin- und hergeschoben werden, und nicht zuletzt der unterlegte Gospelfunk-Beat, der eine Erfolgsformel für die Konzerte war und das Publikum auf der ganzen Welt immer wieder neu begeisterte. In seinem Kontext, nämlich als gewichtiges Stück auf dem Debüt-Album eines schwedischen Pianojazz-Trios, lässt sich das nur auf eine einzige Weise charakterisieren: bahnbrechend!
Track acht heißt »Waltz For The Lonely Ones« (ein weiterer Titel von Magnus Öström, der auf das »Gefühl« in Esbjörns Musik verweist; mit der späteren Vertextung im gleichen Geist durch Lina Nyberg kam indes eine zusätzliche Deutung hinzu) und ist ebenfalls ein sinnreich konstruierter Walzer im Folkstil, der beim ersten Hineinhören weit weniger kompliziert erscheint als sich bei näherer Analyse herausstellt. Auch dies (die Mischung von Einfachheit und Komplexität) sollte zum Markenzeichen für e. s. t. im Allgemeinen und für das Komponieren Esbjörns im Besonderen werden. Wie so oft präsentiert das Trio einen einzigartigen Mix, indem es diese kleine, verborgene Perle mit Gesang begleitet. Alle Bandmitglieder jonglieren unbekümmert mit Blues, Gospel, Folk und hochoktanigem Bebopspiel, wenngleich das Piano die sammelnde und treibende Kraft bleibt.
Der neunte Track des Albums nennt sich »Silly Walk« (der Titel ist eine Hommage an Monty Python, die das Trio besonders liebte) und ist ein von hohem Tempo bestimmtes, einfallsreiches Stück, bei dem im Nachhinein der Verdacht entsteht, es kam auf das Album, um das künstlerische Vermögen des Trios auf bekanntem Terrain zu demonstrieren. Natürlich schafft es die Band nicht ganz, bis zum Schluss »seriös« zu bleiben, das Finale präsentiert sich – wenn auch zurückhaltend – in der Manier eines klassischen Hardrock-Konzerts.
Es folgt Stück 10, »Tough Tough«, ein Gospelblues mit Funkfeeling, der neben dem bandtypischen Spiel mit Harmonien und Strukturen sowie einem technisch interessanten Slapbass-Solo ein weiteres Mal den nahezu einzigartigen Swing der Band unter Beweis stellt. Der Titel spielt auf den fast dampflokmäßigen Groove in dem Stück an (Tuff-Tuff-Eisenbahn) und kann nichts anderes sein als eine »harte Nummer mit viel Energie«.
Den Abschluss bildet wieder ein vom Gospel bestimmtes Stück, »Hands Off« (der Titel rührt daher, dass Magnus praktisch alle Percussioninstrumente mit den Händen spielt), in welchem sich Bass und Piano bei der Melodieführung abwechseln. Das...