2 Versteckte Heimat
April 1945. Die Russen kämpfen sich in der Reichshauptstadt Berlin vor, die deutschen Soldaten sind an allen Fronten auf dem Rückzug, Millionen Tote auf den Schlachtfeldern und in den Konzentrationslagern bezeugen die grausamen Folgen der Nazi-Herrschaft. Das Regime dämmert seinem Ende entgegen. Die Menschen sehnen sich nach Frieden. Das Ende des Krieges ist nur wenige Tage entfernt. Tief im Keller der Reichskanzlei spielen sich derweil gespenstische Szenen ab: Adolf Hitler, körperlich und psychisch vom Verfall gezeichnet, beugt sich über ein Modell der Stadt Linz, das vor ihm auf einem überdimensionalen Tisch aufgebaut ist. »Gleich zu welcher Zeit, ob Tag oder Nacht, sobald sich in diesen Wochen die Möglichkeit bot, saß er vor dem Modell«, berichtet der Architekt Hermann Giesler, der die Entwürfe verantwortete. Hitler habe die virtuelle Stadt fixiert wie »ein verheißenes Land, in das wir Eingang finden würden«37. Besuchern führt der Herrscher im Bunker seine Pläne vor, doziert über die Zukunft der oberösterreichischen Bezirkshauptstadt, ohne die Welt draußen und die bevorstehende totale Niederlage wahrzunehmen.
Scheinwerfer simulieren für früh, mittags und abends den unterschiedlichen Sonnenstand von Klein-Linz. Der Ort, in dem Hitler nur wenige Jahre als Heranwachsender gewohnt und kurzzeitig die Schule besucht hatte, sollte die neue Megapolis des Deutschen Reiches nach dem Endsieg werden. Den Titel »Patenstadt des Führers« hat Hitler bereits verliehen, nun sollte daraus eine Weltstadt und Kulturhauptstadt werden. Entlang des Donauufers war eine Repräsentationsarchitektur geplant, gepflastert mit nationalsozialistischen Protzbauten – das Baumaterial sollte das nahe gelegene KZ Mauthausen liefern. Ein Hochhaus war für die Parteileitung vorgesehen, eine »Gauanlage« barg »Donauturm«, »Gauhalle« und Ausstellungsgelände, mit Platz für 100000 Menschen. Dazu eine »Nibelungenbrücke«, ein Kraft-durch-Freude-Hotel und eine Technische Hochschule. Auf dem Freinberg oberhalb von Linz, mit Blick auf die Donau, wollte Hitler seinen Altersruhesitz errichten, im Stil eines Vierseithofes, wie er im Waldviertel üblich war, »außer Fräulein Braun nehme ich niemanden mit; Fräulein Braun und meinen Hund«38. Im Zentrum plante Hitler ein Kunstmuseum, in dem er – als Gegenpol zu Wien und zu den Uffizien in Florenz – seine angekauften und geraubten Gemälde zeigen wollte. »Linz verdankt alles, was es hat und was es noch bekommt, dem Reich. Deshalb muss diese Stadt Trägerin des Reichsgedankens werden. Auf jedem Bau in Linz müsste stehen ›Geschenk des Deutschen Reiches‹«, schwadroniert Hitler.39 Als nationales Heiligtum entwirft er ein Grabmal seiner Eltern, pompöser gedacht als das Tadsch Mahal, mit einem Turm höher als der Wiener Stephansdom und einem Glockenspiel, das zu ausgewählten Zeiten eine Melodie aus der »Romantischen Symphonie« von Anton Brückner spielt. Dazu will der Sohn seinen Vater Alois und seine Mutter Klara aus ihrer letzten Ruhestätte auf dem Friedhof Leonding bei Linz umbetten.
Bezeugen diese Pläne, dieses steinerne Hohelied auf die Eltern, Hitlers Heimatverbundenheit und Verehrung seiner Vorfahren? Mitnichten. Die demonstrative Zurschaustellung seiner Wurzeln ist allenfalls Größenwahn eines Alternden in seinen letzten Lebensjahren.
Hitler ging mit dem Thema Heimat und Familie in früheren Lebensphasen ganz anders um. Mit dem Abschied aus Linz war auch die Jugend des Adolf Hitler beendet. Der Wechsel nach Wien markierte den Umbruch: Er war nun Vollwaise, allein und ungebunden, aber auch orientierungslos. Schon nach kurzer Zeit tauchte er in der Hauptstadt Österreich-Ungarns unter und führte sein unstetes Leben ohne geregelte Arbeit und festes Einkommen weiter. Den Rastlosen hielt es an diesem Ort nicht lange. Es zog ihn fort, nach München, Berchtesgaden und Berlin. So trat er in die Fußstapfen seines Vaters, von dem er als Kind schon ständige Ortswechsel gewohnt war. Gab es für den Diktator, der den Begriff »Heimat« politisch ständig im Mund führte, persönlich überhaupt so etwas wie Heimat? Wie ging er mit seiner eigenen Vergangenheit und seinen Wurzeln im Waldviertel um? Stand er zu Werten wie Tradition und Überlieferung, wenn es die persönliche Geschichte betraf? Immerhin bedeutet Heimat meist nicht nur das Geborgensein in einer Region, sondern auch in der eigenen Familie.
Familie aus dem Gedächtnis gestrichen
Trotz seiner Liebe zur Mama und zu Linz beließ es der NS-Führer in Bezug auf seine Herkunft bei gelegentlichen Gesten für die Propaganda. So besuchte er beim Einmarsch in Österreich im Jahr 1938 das Grab seiner Eltern und das danebenliegende ehemalige Wohnhaus, die Kameras der Berichterstatter immer mit dabei. Aber hätte er zu seiner Familie besondere, um nicht zu sagen herzliche Gefühle gehegt, wäre der Respekt und die Pflege der Gräber eigentlich eine Selbstverständlichkeit, kaum der Rede wert gewesen. Tatsache ist jedoch, dass Hitler außer bei solchen offiziellen Anlässen nur selten seine »Heimat« Linz besuchte. Mit der Verehrung seiner Eltern war es nach deren Tod schon gar nicht weit her: Hitler wollte die Gräber eigentlich verfallen lassen. Damit wären sie vom Erdboden verschluckt und für niemanden mehr auffindbar gewesen, eine Wurzel seiner Herkunft wäre für immer im Dunkeln geblieben. Das deckte sich mit der Einstellung seiner Geschwister, auch die scherten sich wenig um das Andenken von Vater und Mutter.
Jedenfalls kümmerte sich Adolf Hitler nicht darum, die »Weihestätte« in Leonding weiter existieren zu lassen, obwohl er, der Millionär, nur regelmäßig die Grabgebühren hätte schicken müssen. Doch das geschah nie. Damit wäre die letzte Ruhestätte von der Gemeinde eingeebnet worden, wenn nicht Parteigenossen eingegriffen hätten. Die beschweren sich nach der Machtübernahme bei der Parteileitung schriftlich: »Das Elterngrab des Führers wäre heute nicht mehr erhalten, wenn nicht im letzten Augenblick von Linzer NSDAP-Mitgliedern vor Jahren die Einlöse desselben bezahlt worden wäre.«40 Johann Haudum, der von 1938 bis 1943 als Priester in Leonding arbeitete, besorgte die Pflege des freigekauften Hitler-Grabes aus eigenem Antrieb und auf eigene Kasse.
In einem anderen Fall waren die Parteigenossen weniger erfolgreich: Die Ruhestätte von Adolfs Bruder Edmund, im Juni des Jahres 1900 in Leonding im Alter von sechs Jahren verstorben, war bereits umgepflügt. Weder Adolf Hitler noch seine Schwestern, keine Tanten oder Onkel, haben sich für den Erhalt des Grabes eingesetzt. Einer der erwähnten Parteigenossen, ein Hobby-Ahnenforscher, schrieb verzweifelt: »Da die Grabstätte des Genannten (Edmund) nicht feststeht, habe ich seitens des Pfarramtes die Feststellung desselben veranlasst, da vielleicht eine Neubeerdigung des Kindes im gemeinsamen Elterngrab im Sinne des Führers gelegen haben mag, es aber auf keinen Fall angeht, dass die Grabstätte Edmund Hitlers verschollen bleibt.«41 Genauso ist es um Adolfs älteren Bruder Otto bestellt, der im Jahr 1887 kurz nach der Geburt verstarb. Auch über dessen mutmaßliche Grabstätte in Braunau am Inn ließen die Hitlers längst Gras wachsen, die Stelle war nicht mehr zu orten.
Die öffentliche Zelebrierung des Führertums und der Eifer lokaler Parteigenossen, das Andenken an den früheren Bewohner aufrechtzuerhalten zwangen Hitler dazu, das einstige Elternhaus in Leonding in eine Art Wallfahrtsstätte umwidmen zu lassen. Das besorgten Jahre nach der Machtergreifung andere – er selbst war vorher trotz üppigen Vermögens auch nicht im Entferntesten auf den Gedanken gekommen, die Immobilie zu erwerben und dort seine »Heimat« zu genießen. Am 9. Mai 1938 kaufte die Gauleitung der NSDAP des Gaues Oberdonau das Gebäude und propagierte es als »Elternhaus des Führers«, was alljährlich Tausende von Besuchern anzog, die sich mit devoten Widmungen und Treueschwüren in das Gästebuch eintrugen. Nach dem Krieg ging das Haus in das Eigentum der Gemeinde Leonding über. Heute ist dort das städtische Beerdigungsinstitut untergebracht.
Eigentlich wäre der Ort Leonding eher als Hitlers Heimat zu bezeichnen als Linz. Die knapp 70 000 Einwohner zählende Stadt verband der junge Hitler mit der verhassten Realschule, zu der er vom Leondinger Zuhause aus täglich jeweils eine Stunde marschieren musste. In Leonding brachte er rund acht Jahre seines Lebens zu, in Linz dagegen wohnte er nur vom Sommer 1905 bis Februar 1908, also weniger als drei Jahre. Sicherlich waren dies damals für den Jugendlichen die unbeschwertesten Zeiten, faulenzte er doch losgelöst vom Schulzwang und ohne Druck, eine Arbeit annehmen zu müssen in den Tag hinein – finanziert von seiner Mutter. Das mag im alten Hitler dann nostalgische Vorstellungen von der guten, alten Zeit geweckt haben, die ihn nun auch von der »Heimat« schwärmen ließ. In Mein Kampf Jedoch, im Jahr 1924 geschrieben, bezeichnete er die Linzer Zeit zwar als schönste seines Lebens, von heimatlichen Gefühlen Österreich gegenüber konnte jedoch keine Rede sein: »Aus all diesen Gründen entstand immer stärker die Sehnsucht, endlich dorthin zu gehen, wo seit so früher Jugend mich heimliche Wünsche und heimliche Liebe hinzogen.« Nach Deutschland: »Eine deutsche Stadt!! Welch ein Unterschied gegen Wien! Mir wurde schlecht, wenn ich an dieses Rassenbabylon auch nur zurückdachte.« Denn sein Herz habe »niemals für eine österreichische Monarchie, sondern immer nur für ein Deutsches Reich« geschlagen.42
Um seine Expansionspolitik nach Osten zu rechtfertigen, versuchte Hitler wiederum den Deutschen einzubläuen, die wahre Heimat sei der Osten, der »Lebensraum« der Arier, der dem deutschen »Volk ohne Raum« von...