SILVANA CIMENTI
MUTTERSPRACHE – MUTTERKULTUR?
ZUR SCHRIFT DES FREUNDES BEI BARBARA FRISCHMUTH
»Ein Pfad tut sich auf zwischen Anna und der alten Frau, ein Pfad voraussetzungslosen Verstehens.«1 So wird in dem Buch Die Schrift des Freundes von Barbara Frischmuth die Situation zwischen Anna Margotti und Hikmets Mutter, Feride Hatun, beschrieben, in der die beiden Frauen zum ersten Mal alleine im Zimmer sind. In dem 1998 erschienenen Roman erzählt die Autorin die Geschichte einer 23jährigen Computerexpertin, die über den Umweg von Leidenschaft und Liebe und durch das Bedürfnis »noch etwas erleben zu wollen«2 vor dem Hintergrund einer Bespitzelungsaffäre die Reise zum Verstehen einer anderen Kultur antritt. Da geht es einerseits um das Computerprogramm PACIDUS, in dem Daten zur frühzeitigen Erkennung »gefährlicher Randgruppen« gesammelt werden,3 da stellt sich die Frage nach Identität, da gibt es Konfrontation mit dem Fremden, dem anderen. Und eben deshalb kann Die Schrift des Freundes als Liebesgeschichte, als Kriminalroman, als politische Standortbestimmung der Autorin und nicht zuletzt als »ethnopoetischer Reisebericht«4– wie es etwa die Neue Zürcher Zeitung vorschlägt – gelesen werden.
Aber was können wir tun, wir, die Reisenden innerhalb der Literaturen, die Grenzgänger zwischen den Kulturen? […] wir können mit dem Finger Löcher in die bereits errichtete Wand bohren, Löcher, die zumindest den Blick freigeben, den Blick auf die anderen, und somit den Blick auf uns,5
sagt Frischmuth in der Eröffnungsrede des Symposiums Wir und die anderen in Wien im Jahr 1998 und fordert somit die Bereitschaft zum friedlichen Zusammenleben ein, dem ein Verstehen-Wollen und letztlich vielleicht das Verstehen selbst vorausgehen. Dieses Verstehen betrifft dabei nicht nur andere Kulturen (im Fall des Romans Die Schrift des Freundes ist es die alevitische Glaubensgemeinschaft), sondern auch das Nebeneinander von Mann und Frau.
Frischmuths Umgang mit Lebensmodellen und Weiblichkeitsidentitäten, ihr Versuch, das System zu brechen, um eine neue Begrifflichkeit zu schaffen, wirft die Frage auf, inwieweit Geschlechtlichkeit – wobei der Begriff als kulturell gefärbt verstanden werden soll – den Prozess der Annäherung beeinflusst. Im Folgenden sollen Aspekte dieser Fragestellung vor allem aus Sicht der weiblichen Hauptfigur in Die Schrift des Freundes behandelt werden.
ENTWICKLUNGSGESCHICHTE
Anna Margotti, die Protagonistin des Romans, ist vaterlos aufgewachsen und verkörpert, ganz stereotyp, die möglichen Folgen einer Mutter-Alleinerziehung. Bei ihrem Versuch, an der Vollkommenheit der physisch abwesenden Vaterfigur festzuhalten – nach einer Woche der intensiven Liebe wurde ihr Vater angeblich abkommandiert –, um eine Geringschätzung der eigenen Person nicht Überhand nehmen zu lassen, entsteht, quasi als Nebenprodukt, die Abwertung der Mutter. »Als Kind hatte Anna die Geschichte geglaubt, mit Müh und Not. Später machte sie Gigi [ihrer Mutter] insgeheim den Vorwurf, nicht attraktiv genug für Vater Bruce gewesen zu sein.«6 An der Überidealisierung des Männlichen beteiligt sich auch die Mutter, deren »berüchtigten Übertreibungen zufolge der Vater groß, kräftig und Pilot der amerikanischen Luftwaffe gewesen sein soll«7.
Es soll an dieser Stelle daran erinnert werden – vor allem weil Frischmuth sich gegen hierarchische Strukturen zur Wehr setzt –, dass über Jahrhunderte hinweg – und auch heute noch – die Frau durch ihre Fähigkeit zu »muttern« als Stütze der Gesellschaft betrachtet wurde. Sie wurde und wird in ihrem Wesen als diejenige angesehen, die sich für den reibungslosen Tagesablauf, sei es nun durch Hausarbeit, durch Kindererziehung oder durch eigene Bedürfnislosigkeit, verantwortlich zeichnet und dem Mann durch das »Nicht-Betreten« seines Weges (also dem der gesellschaftlichen Anerkennung) eben diesen frei hält. Die Geringschätzung von außen und die eigene Abwertung ihrer Person (»Gigi hat sich die Vaterlosigkeit ihrer beiden Töchter nie ganz verziehen«8) dürfen also nicht verwundern – sind sie es doch, die den Fortbestand der androzentrischen Kultur gewährleisten, ebenso wie die daraus resultierende berufliche Zuwendung Annas zu allem Mächtigen, allem Männlichen, das zwar nicht immer greifbar und wirklich ist und eine Identifikation mit der Mutter und somit mit dem eigenen Geschlecht vorerst verhindert, aber die Verletzung des Selbst kontrollierbar, ja sogar beherrschbar scheinen lässt.
Zudem muss in die Betrachtung miteinbezogen werden, dass – speziell im Fall allein erziehender Mütter, aber mit Abstrichen auch in einer traditionellen Familienstruktur – die Mutter für die Entwicklung des Kindes und des möglichen Scheiterns ihrer Erziehung verantwortlich zeichnet. Sie stimmt das Kind auf seine Rolle in der Gesellschaft ein, verbündet sich mit dem die Dyade bedrohenden (symbolischen) Vater, löst das Kind aus der Abhängigkeit, indem sie diese aufzeigt.
Bereits als Kind wehrt Anna sich gegen die mütterliche Sozialisierung, die Eingliederung in das gesellschaftliche Regelwerk durch die Hand von Gigi:
Schon als Kind hat Anna unter dem regelmäßigen Appetit von Mutter und Schwester gelitten, die sie an fixe Essenszeiten gewöhnen wollten. Angeblich hat sie sich aber, schon als sie noch gestillt wurde, dagegen gewehrt.9
Es muss miteinbezogen werden, dass der Säugling den Körper seiner Mutter nicht von Beginn an als anderes-konstantes Objekt begreifen kann,10 sondern ihn vielmehr als zu seinem zugehörig betrachtet und erst nach gelungener Identitätsentfaltung die nährenden Brüste der primären Bezugsperson als nicht ständig verfügbar interpretiert. Das Kind steht also zu Beginn in einem völligen Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Bezugspersonen, wobei die primäre Figur, die für seine Versorgung zuständig ist, zumeist weiblichen Geschlechts ist. Ingrid Spörk spricht in Liebe und Verfall 11 vom Mutterkindkörper und meint damit eben diese symbiotische Beziehung, die das infans mit dem Ursprung seines Lebens eingeht. Die Mutter wird zu diesem Zeitpunkt idealisiert, ihr Körper vom Kleinkind als zum eigenen zugehörig betrachtet, ehe es sich aus dieser engen Bindung zu lösen beginnt.
Im Fall von Anna Margotti ist sie es aber, die schon als infans über die erwähnte Verfügbarkeit entscheidet, indem sie den Vorgang des Stillens bis zu einem gewissen Grad mit Selbstbestimmung assoziiert. Sie verwehrt sich dem Wunsch nach dem ursprünglich dyadischen Zustand, in dem das Gesetz des Vaters bzw. der Gesellschaft machtlos war, und nimmt der Mutter die von ihr benötigte Abwesenheit vorweg. Indem sie das Bild des auf Wunsch verfügbaren Mutterkörpers aufrechterhält, ihn aber nicht einfordert, indem sie bestreitet, die Brust, wie auch die Mutter selbst jemals als Teil des Körpers empfunden zu haben, schützt sie sich vor der Konfrontation mit der durchlebten Abspaltung.
Bevor dieses Trugbild aber zerbrechen kann und muss, entzieht sich Anna dem mütterlichen Zugriff. »Nicht nur ihre Arbeitszeit ist mit einem Mal gleitend geworden, auch ihre Verfügbarkeit. Gigi und Bonny [ihre Schwester] werden nicht mehr automatisch Zugriff auf ihre Wochenenden haben.«12
Zudem erscheint ihr die Mutter hilflos und ihre bevorstehende Wiederverheiratung als Erlösung von ihren Pflichten.
›Ist doch toll.‹ Teresas Gesicht wird ganz hell und durchsichtig. ›Ihr tut es gut, und du brauchst dich nicht dauernd um sie zu kümmern.‹ Mit einem Mal kann Anna es auch so sehen. ›Eigentlich wahr.‹13
Das Bild der allein stehenden, unzufriedenen Mutter speist sich auch durch eben diese selbst, denn trotz schlechter Erfahrungen mit Männern will sie den Wunsch nach einer harmonischen Beziehung nicht aufgeben, will Rückhalt, persönliche Stärkung. Anna hingegen muss sich differenzieren. »Ich bin erwachsen, ich erhalte mich selbst, und ich bin nicht verheiratet. Und was ich in meiner Freizeit mache, geht weder euch noch Haugsdorff [Annas Liebhaber] etwas an.«14 Die ausgesprochene Differenzierung erscheint notwendig, da Anna sich ihrer Eigenständigkeit vergewissern muss, um sich nicht als parasitär – im Sinne von: die Matrix des Mutterlebens als ihre eigene zu benutzen – zu begreifen.
VERHUNGERTE MUTTERSCHAFT
»Nicht was sie wählt, bestimmt, ob ihre Entscheidung androzentrisch ist, sondern warum«15, schreibt Susan Spieler und verweist auf möglichen Verrat des eigenen Geschlechts, des Selbst durch Entscheidungsgrundlagen, die eine Körperlosigkeit vorzutäuschen versuchen. Anna Margotti wählt, wählt in der Schulzeit, als sie von einem Kollegen, »der Sex auch nur aus dem Fernsehen kannte, […] beim zweiten oder dritten Mal schwanger w[ird]«16. Sie beschließt den Embryo auszuhungern. »Die Angst vor der Entscheidung, entweder abzutreiben oder ein Leben wie Gigi, ihre Mutter, zu führen, hat sie dazu gebracht, mit dem Essen aufzuhören.«17
Ganz scheint es so, als hätte sie sich in die anale Phase eines Kleinkindes zurückversetzt, das die Aufnahme in den Körper und das Ausscheiden aus dem Körper als bewusst gesetzte Handlungen vollzieht, denn als ihre Mutter sie gemeinsam mit der Schwester in die Klinik bringt, »um sie künstlich ernähren zu lassen, [ist] der Embryo von alleine abgegangen«18. Obwohl es sich in diesem Fall um keine...