[17]1. Grundlegende Gedanken
Basale Stimulation® als Konzept ist seit nunmehr über 35 Jahren das, was man einen «jungen Erwachsenen» nennen darf. Es ist noch lange nicht «alt». Seine entscheidenden Entwicklungsimpulse bekommt es weiterhin von den geistigen Eltern. Professor Dr. Andreas Fröhlich, Bildhauer, Maler und emeritierter Professor für Heilpädagogik und heilpädagogischer Psychologe der Universität Koblenz/Landau hat es auf der Suche nach elementaren Fördermöglichkeiten für schwerstmehrfachbehinderte Kinder begründet und Prof. Christel Bienstein, Leiterin des Instituts für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke, hat es vor mehr als 25 Jahren für die Pflege entdeckt. Gemeinsam haben sie es in die Pflege eingepasst und weiterentwickelt. Alle Bereiche der Pflege – von der Frühgeborenen- bis zur Altenpflege, von der Intensiv- bis zur Hospizpflege – haben davon profitiert. Während sich in der Praxis durch inzwischen weit über 1000 ausgebildete Multiplikatoren, Kursleiter sowie Praxisbegleiter und -begleiterinnen für Basale Stimulation® in der Pflege immer neue Umsetzungsmöglichkeiten auftun, wird das Konzept von den Begründern weiterentwickelt.
Ganz zu Anfang zogen die Kollegen mit «Sensi-Eimern» los, in denen sich Igelbälle, Felle, Schaumflaschen und Vibratoren befanden, um bei den «Schützlingen» Reize in den basalen Wahrnehmungsbereichen zu setzen. Später wurden «Angebote» in den einzelnen Wahrnehmungsbereichen mit dem Ziel gemacht, die Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Kommunikationsmöglichkeiten der Betroffenen zu fördern. Vor ein paar Jahren kam mit den zentralen Zielen der Basalen Stimulation® in der Pflege ein neuer großer Entwicklungsimpuls hinzu (Bienstein, 2003). Diese wurden zum besseren Verständnis in «Aktuelle Lebensthemen» umbenannt und um das Thema «Die Welt entdecken und sich entwickeln» ergänzt.
Inzwischen soll zudem durch die drei Elemente der Basalen Stimulation® in der Pflege – Technik, Kompetenz und Haltung – deutlich gemacht werden, dass für sich allein genommen weder die richtige Technik noch die Kompetenz der Pflegenden und die gute Haltung den schwerstbeeinträchtigten Menschen gegenüber eine entsprechende Pflegehandlung zur Basalen Stimulation® in der Pflege werden lässt. Erst die Verbindung dieser drei Elemente im Kontext pflegerischen Handelns macht Pflege zur «basal stimulierenden Pflege».
[18]Die ebenfalls neu beschriebenen Orientierungsräume bieten nun bessere Möglichkeiten, um dem Menschen in seiner spezifischen Situation und Befindlichkeit zu begegnen.
Im «Kindesalter» des Konzepts standen Förderung und Spielen im Mittelpunkt, in der «Pubertät» war es der Protest gegen die Institutionen. Die Bedürfnisbefriedigung des Patienten wurde an oberste Stelle gesetzt. Danach versuchten die Pflegekräfte, die Betreuten zu «mündigen Patienten» zu machen, indem der Kommunikationsaspekt stark hervorgehoben wurde.
Inzwischen ist es keine Schande mehr, sich mit den Realitäten zu arrangieren und sich weitsichtig um Lebensqualität zu kümmern, weil man nun «Teil des Systems» ist. Akute, lebensbedrohliche Situationen und der natürliche Tod werden zu Themen, mit denen man sich auseinandersetzt, statt sie zu verdrängen.
Mit solchen Ansichten und Erfahrungen ist das Konzept schon sehr reif für sein Alter. Doch wer so alt wie wir (und älter) ist, weiß, dass auch in den Jahren danach noch viele interessante Entwicklungen zu erwarten sind. Wir jedenfalls freuen uns schon darauf, mit dem Konzept alt zu werden. Vorher aber würden wir uns freuen, wenn Sie dieses Wissen der lebens- und berufserfahrenen Kollegin namens «Basale Stimulation® in der Pflege» als Mitarbeiterin in Ihr Team einarbeiten und wünschen Ihnen eine höchst befruchtende Zusammenarbeit und viel Spaß miteinander.
1.1 Die drei Elemente der Basalen Stimulation®
Das Konzept der Basalen Stimulation® in der Pflege, um das es hier geht, wurde aus dem Konzept «Basale Stimulation®» entwickelt und ist weiterhin vielfältig und fest mit ihm verknüpft. Es soll hier aus dem besonderen Blickwinkel alter Menschen in den verschiedensten Pflegeeinrichtungen, einschließlich der häuslichen Pflege, betrachtet werden.
1.1.1 Haltung
Jeder Mensch lebt aus einer gewissen Haltung heraus, die von der Kultur, der Familie und seinen Erfahrungen bestimmt wird. Eine Haltung entwickelt und verändert sich als Folge zum Teil selbst initiierter oder zufälliger Erfahrungen, der Auseinandersetzung mit anderen Menschen und durch die Umwelt.
Der Basalen Stimulation® liegt ein spezifisches Menschenbild zugrunde. Durch dessen Sichtweise und Grundannahmen wird dem pflegebedürftigen Menschen von vornherein in einer besonderen Weise begegnet, die auch (Pflege-)Handeln prägt.
Der Mensch wird als Akteur seiner eigenen Entwicklung gesehen. Auch schwersteingeschränkte, verwirrte, ja selbst komatöse Menschen verstehen wir als eigenständige, kommunikationsfähige Persönlichkeiten. Als soziales Wesen [19]suchen und brauchen auch diese Personen Austausch und Gestaltungsmöglichkeiten, die in einfachsten pflegerischen Begegnungen zu verwirklichen sind.
Basale Stimulation® wendet sich an Personen, die durch Krankheit, Alter oder Behinderung stark in ihrer Wahrnehmung, Bewegung und Kommunikation beeinträchtigt sind. Wir betrachten jede Art elementarer Lebendigkeit, unabhängig vom Grad der Behinderung oder dem körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand als berechtigte menschliche Lebensform. Auch bei Menschen mit Demenz geht es nicht um Heilung, sondern um palliative Versorgung. Bei allen geht es darum, «das Leben in der Behinderung [bzw. Beeinträchtigung] auszudifferenzieren, Möglichkeiten zu erschließen, Kompetenzen zu entwickeln [und zu erhalten] und zusätzliche Beeinträchtigungen zu vermeiden» (Fröhlich, 2012a: 10).
1.1.2 Kompetenz
Um basal stimulierend pflegen zu können, müssen verschiedene Kompetenzen mitgebracht, entwickelt oder erarbeitet werden. Im Vordergrund steht die soziale Kompetenz, die Fähigkeit und Bereitschaft zu menschlicher Begegnung. Diese wiederum umfasst weitere Fähigkeiten bezüglich des Umgangs mit sich selbst und anderen Menschen. Auf sich selbst bezogen erfordert es Selbstbeobachtung und -reflexion, Verantwortlichkeit und Selbstwirksamkeit. Auf Andere bezogen brauchen wir unter anderem Menschenkenntnis, Achtung, Toleranz, Respekt, menschliche Wärme und Empathie. Man könnte allgemein sagen: emotionale Intelligenz.
Da Basale Stimulation® in der Pflege alltägliche Pflegesituationen nutzen will, um Orientierung und Kommunikation, meist über körperbezogene Kanäle zu unterstützen, werden hier verschiedene Besonderheiten nötig. Fröhlich nennt hier z. B. begleitende differenzierte Beobachtung und Planung von Angeboten auf der Grundlage solcher Beobachtungen (Fröhlich, 2012: 13).
Pflegende müssen außerdem den betroffenen alten Menschen Verlässlichkeit im Sinne einer Antwortsicherheit vermitteln können. Sie machen ihre Offenheit und Zugewandtheit innerhalb der Pflegeangebote durch eine erwartungsfreie Absicht erfahrbar.
Eine weitere Fähigkeit besteht darin, die erarbeiteten oder angenommenen Ziele, Wünsche und Lebensthemen des Pensionärs zur Leitlinie ihres pflegerischen Handelns zu machen. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn sich die betroffene Person selbst akut nicht eindeutig und differenziert äußern kann. Leider wird bei solchen Menschen viel zu oft so gepflegt, wie die Pflegenden es sich selber wünschen. Eine sanfte, diffuse «Kuschelpflege», die den «armen Bewohner» falsch verstanden schont und «ihn in Ruhe lässt», wäre ein mögliches Ergebnis. Unter Umständen ist dieses «Ruhebedürfnis» jedoch nicht selbst gewählt, sondern ein Zeichen von Über- oder auch Unterforderung. Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst, lautet die Maxime, aber pflege Deinen [20]Nächsten so, wie es seinen eigenen aktuellen Bedürfnissen und Gewohnheiten entspricht.
Pflege soll gebrechlichen alten Menschen ein ausgewogenes, personenbezogenes Verhältnis zwischen Fördern und Fordern schaffen. «Ein ausschließliches Akzeptieren kann nicht genügen, ebenso wenig wie ausschließliches Fordern» (Fröhlich, 2012: 11). Unter «Fördern» fallen übrigens nicht nur rehabilitative Aspekte, sondern oft auch Pflegeaktivitäten zur Förderung der Orientierung durch Reizreduktion, des geregelten Tag-Nacht-Rhythmus, der kommunikativen Möglichkeiten durch basale Kommunikationsangebote oder auch der Teilhabe durch passende Positionierungen und Begleitung durch Pflegende an Alltags- und Kulturaktivitäten.
Eine weitere Kompetenz ist die Fähigkeit des vorausschauenden Planens der Angebote. Weil die Pflege zunächst einmal die Aktivitäten des täglichen Lebens bzw. die ABEDL unterstützen will, geht es darum, in der individuellen Pflegeplanung zunächst die einzelnen Aktivitäten als Fördersituationen zu verstehen.
Ausgerichtet an den aktuellen Lebensthemen werden Angebote, z. B. mithilfe der erweiterten Sensobiografie, geplant und mit allen an der Pflege Beteiligten koordiniert. Die Kompetenz, andere Menschen im Pflegeprozess zu «lesen», d. h. ihre Mitteilungen zu beobachten, zu erkennen, zu deuten und Schlüsse daraus zu ziehen, sowie sie zu führen und zu begleiten, kommt also hinzu. Eine gute Planung mit klar festgelegten Abläufen unbedacht umgesetzt, bewirkt u. U. eine Pflege, die an dem gepflegten Menschen vorbeigeht.
Nicht immer ist ein wohlüberlegtes, geplantes Vorgehen auf der Grundlage von Vorwissen über die Person möglich. Hin und wieder fehlen Informationen, vor allem, wenn Angehörige nicht...