[15]Vorwort
Praxis vor Theorie
Das Herzstück dieses Buches ist die Pflegepraxis, und zwar die erfahrungsbasierte Pflege älterer Menschen, die sich und ihren Haushalt vernachlässigen. Dieser betont erfahrungsbasierte Ansatz mag im Zeitalter evidenzbasierter Pflege erstaunen. Dahinter steht vor allem die Absicht, Praktikerinnen und Praktiker anzusprechen und mit vertrautem Praxisgeschehen zum Lesen zu verführen.
Die beschriebene Pflegepraxis wurde bewusst vor den Theorieteil gesetzt, und zwar aus der Überzeugung heraus, dass sie auf jeden Fall existiert und stattfindet und ihre Berechtigung nicht erst über die Theorie erhält oder nur gut genug ist, um die Theorie zu stützen und zu illustrieren. Zwar kann gute Theorie der Praxis durchaus unter die Arme greifen, jedoch lässt sich Theorie ohne Praxis mit einem König ohne Land und Leute vergleichen, dessen Existenz als absurd empfunden werden kann.
In der Pflege steht der Mensch am Anfang des Pflegeprozesses, daher werden die Pflegekapitel dieses Buches mit den individuellen Lebenssituationen der sich selbst vernachlässigenden Menschen eröffnet. Bei allen dargestellten Pflegeprozessen bestimmen ausdrücklich die Praxisprobleme alle verwendete Theorie. Die klinischen Beispiele dienen also nicht der Veranschaulichung und Vertiefung von Theorien, sondern sind Ausgangspunkt theoretischer Anlehnungen. Theorien und Forschungsergebnisse werden nur herangezogen, wo sie die beschriebene Pflegepraxis erhellen können.
Zu Teil 1 des Buches
Die neun Falldarstellungen beginnen bei den Phänomenen der Selbstvernachlässigung und führen bis zum Pflegehandeln. Ausgangspunkt ist das, was vorgefunden wird: Die Erscheinung der Vernachlässigung, also das Bild, die Gerüche, die Geräusche, die Atmosphäre dieses Zustands. Sie werden ausgeleuchtet aus der Perspektive des Patienten, der Umgebung und der Pflegeperson. Anschließend wird dieses Unverwechselbare des Einzelfalls, das Individuelle und Besondere hingeführt zum Allgemeinen: Theorie und Forschungsergebnisse dienen dazu, das Phänomen zu vergleichen, zu erklären und so verstehbarer zu machen.
Die wichtigste Frage in Zusammenhang mit Leiden und Krankheit lautet aber auch bei den sich selbst vernachlässigenden Personen: Was braucht das Individuum in seiner Situation und was muss die Pflege daher in die Wege leiten? Diese für die Betroffenen entscheidende Frage nach dem Pflegebedarf wird vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Geschichte, Ressourcen und Lebensziele geklärt. Handlungen zur Behebung der Selbstvernachlässigung erfolgen unter besonderer Beachtung der pflegerischen Interaktion sowie der Kooperation mit dem Klienten und der Umgebung. Die Auswertung der geleisteten Pflege orientiert sich am Befinden des Klienten. Was ist aus dem Betroffenen geworden und welcher Anteil daran ist der Pflege zuzuschreiben? Zu jedem Fallbeispiel gehört überdies eine persönliche Reflexion darüber, was die Probleme, Erfolge und Misserfolge mit der Person der Pflegenden gemacht haben.
[16]Selbstvernachlässigung als unbedingtes Pflegeproblem
Selbstvernachlässigung ist kein Lieblingsproblem der Pflegepraxis und nicht selten leugnet die Pflege ihre Zuständigkeit, vor allem, wenn die Selbstvernachlässigung mit ablehnenden und anderen herausfordernden Verhaltensweisen der Betroffenen einhergeht.
Daher soll dieses Buch dazu beitragen, dass die Selbstvernachlässigung älterer Menschen infolge von Gesundheitsproblemen und Lebensprozessen vorbehaltlos als Pflegeproblem anerkannt wird. Die Selbstvernachlässigung als Folge von Krankheit oder Behinderung verfügt über alle Merkmale einer Pflegediagnose par excellence und fällt damit unbedingt in die Zuständigkeit der Pflege. Sehr problematisch sind indessen die vielen weißen Flecken auf der Landkarte wirkungsvoller Interventionen. Eine treffsichere Diagnose ist zwar eine Basis, aber entscheidend für die Betroffenen ist, in den Genuss wirkungsvoller Interventionen zu kommen. Daher wird die direkte Pflege ausführlich beschrieben. Es werden verschiedene Wege gezeigt, welche die Pflegenden, die sich selbst vernachlässigenden Patienten und ihre Angehörigen gemeinsam nehmen können.
Zu Teil 2 des Buches
In Teil 2 werden Konzepte, die in den Fallbeispielen eine große Rolle spielen, wieder aufgegriffen und vertieft dargestellt. Von Fallvignetten ausgehend werden die Themen Kontakt und Beziehung, Körperbild und gewohnte Umgebung sowie Hygiene genauer betrachtet. Gerade Hygieneprobleme komplizieren ja die Vernachlässigung der eigenen Person und des Haushalts und nehmen dem Chaos, dem Schmutz und der Verleugnung die Unschuld. Mit einem unkonventionellen, aber aussagekräftigen Hygienekapitel wird versucht, hygienische und menschliche Aspekte der Vernachlässigung der eigenen Person und des Haushalts miteinander zu verbinden.
Zu Teil 3 des Buches
Der Mensch bleibt immer Mensch, auch wenn er in Schmutz, Gestank und Abfall lebt. Während des Pflegeprozesses in solchen Situationen gilt es, sich diese Erkenntnis und die damit verbundenen Rechte der Betroffenen immer wieder vor Augen zu halten. Denn bei dieser Gruppe zugleich widerständiger und hilfloser Personen besteht Gefahr, dass das verständliche Anliegen der Umgebung, den Schmutz, die Unordnung und den Gestank möglichst schnell zu beseitigen, so übermächtig wird, dass die Betroffenen in ihrer Würde und Verletzlichkeit nicht mehr ausreichend wahrgenommen werden.
Jede Pflegeperson, die sich selbst vernachlässigende Menschen pflegt, spürt die gegensätzlichen Bestrebungen in solchen Situationen, die ein Spannungsfeld bilden. Dabei komplizieren die bestehenden Gesetze, Bestimmungen und berufsspezifischen Codizes in ihrer Vielfalt und Abstraktion erst einmal jede Entscheidung und es bedarf gründlicher Analyse und sorgfältigen Abwägens, um richtig zu entscheiden. In zwei Kapiteln aus Österreich und der Schweiz werden die bestehenden Gesetze und Bestimmungen dargestellt und trotz unterschiedlicher Perspektiven ergeben sich ganz ähnliche Folgerungen für das Pflegehandeln: Die Pflege sich selbst vernachlässigender älterer Personen ist auf eine verständnisvolle Begegnung angewiesen.
«Wer vernachlässigt wen?», hinterfragt ein sozialphilosophischer Beitrag, der den Mut hat, die übliche Sicht auf den Kopf zu stellen.
Zu Teil 4 des Buches
Selbstvernachlässigung und Haushaltsvernachlässigung bei älteren Menschen sind im spitalexternen Raum in unterschiedlichsten Schattierungen und Zusammenhängen allgegenwärtig. Diesen Phänomenen ist innewohnend, dass sie Pflegesituationen produzieren, deren Komplexität sich nicht einfach reduzieren lässt. Sie erfordern anspruchsvolle Pflegeinterventionen wie «Zeit geben», «Aktiv Zuhören», einfühlsames [17]Aushalten (vom schwierigen Verhaltensweisen), aber auch herausfordernde handwerkliche Tätigkeiten, wie etwa eine Ratte aus der verstopften Toilette herauszuholen, um eine Überschwemmung zu verhindern, wie im Kapitel über die Selbstvernachlässigung am Lebensende dargestellt. Von den Institutionen wird daher verlangt, solchen Gegebenheiten mit entsprechenden organisatorischen Bedingungen Rechnung zu tragen.
Im ersten Kapitel werden Praxis und Theorie des Case Managements ohne Triage beschrieben. Am Beispiel eines alten Ehepaars, das infolge mehrerer gesundheitlicher Probleme seine Wohnung vernachlässigt, werden praktisches Vorgehen und zugrunde liegende Theorien aufgezeigt.
Das zweite Kapitel befasst sich mit den Strukturen, auf die die Pflegenden angewiesen sind, um die Betroffenen professionell und menschlich pflegen zu können, ohne an dieser Herausforderung persönlich Schaden zu nehmen.
Das dritte Kapitel ist ein Nachdruck des Artikels «Die Rucksack- oder Barfußpflege: Das Modell einer spitalexternen Pflege wider Willen des Patienten/der Patientin». Dieser Artikel erschien 1998 in dem Buch «Spitex im Trend – Trends in der Spitex», das leider vergriffen ist. Weil er aber immer wieder verlangt wird, wurde er in dieses Buch aufgenommen.
Der vierte und abschließende Beitrag verortet die Pflegediagnose «Selbstvernachlässigung» in der NANDA-Taxonomie 2, ordnet sie den Pflegemodellen von ABEDL von Krohwinkel und den funktionellen Gesundheitsverhaltensmustern von Gordon zu. Der Beitrag definiert Selbstvernachlässigung (SVN) aus pflegediagnostischer Sicht, differenziert die Formen der absichtlichen und unabsichtlichen SVN und stellt ausführlich die beeinflussenden Faktoren sowie die Merkmale/Symptome einer Selbstvernachlässigung vor. Mögliche Pflegeziele und -interventionen werden beschrieben und Möglichkeiten der Verknüpfung mit den Klassifikationen für Pflegeinterventionen (NIC) und Pflegeergebnisse (NOC) werden aufgezeigt. Der Beitrag visualisiert die Stellung des Pflegephänomens Selbstvernachlässigung im Rahmen taxonomischer Modelle und eines Concep-Web.
Gewollt und ungewollt Fehlendes in diesem Buch
Gewollt Fehlendes
Auf die Kosten und Finanzierung der beschriebenen Pflege wird nicht näher eingegangen. In einer Zeit, in der das Monetäre sich zum absoluten Herrscher der Welt aufschwingen konnte, weigert sich diese Publikation, dem Ökonomismus seine Reverenz zu erweisen. Einige Erfahrungen und Gedanken zu diesem Thema seien jedoch hier angeführt. Es klingt zynisch: Sich selbst vernachlässigende, ältere Personen kosten der Gesellschaft am wenigsten, solange sie jede Hilfeleistung zurückweisen. Mit Beginn der Pflege und Behandlung, die sich – wie bei vielen anderen Störungen und Krankheiten auch – vor allem zu Anfang personalintensiv gestalten, entstehen hohe Kosten. Dabei ist jedoch zu bedenken: Bei allen gesundheitlichen Störungen oder Krankheiten, die mit...