Kapitel 1:
Kindheit und Jugend
Beate Köstlin wurde als drittes Kind des Landwirts Otto Köstlin (1871–1945) und der Ärztin Margarete Köstlin-Räntsch (1880–1945) am 25. Oktober 1919 in Wargenau bei Cranz im damaligen Ostpreußen geboren.
Sie war eine kleine Nachzüglerin nach ihrem zwölf Jahre älteren Bruder Ulrich und der zehn Jahre älteren Elisabeth. Doch das hat Beate stets als großen Vorteil empfunden. Wer als Eltern schon zwei Kinder großgezogen hat, den kann so schnell nichts mehr aus der Fassung bringen. »Sie waren gelassen geworden«, schrieb Beate in ihrer Autobiografie1, »sie ließen sich nicht mehr verrückt machen und mich ziemlich wild aufwachsen.«
Otto Köstlin war ein Landwirt aus Schwaben, dem das Gut des Vaters nicht vergönnt gewesen war, da dies traditionell an den erstgeborenen Sohn zu gehen hatte. Otto jedoch war der drittjüngste. Dennoch wollte er gern den Beruf des Vaters ergreifen. Er studierte Landwirtschaft, wurde landwirtschaftlicher Assistent und schließlich Pächter einiger Höfe und Güter, zuletzt in Quarnbek bei Kiel. Als 1917 der Besitzer dieses Gutes Eigenbedarf anmeldete, beschlossen die Köstlins, dass es Zeit war, ein eigenes Gut zu kaufen und zu bewirtschaften. Wargenau in Ostpreußen war für die junge Familie genau richtig, denn es war trotz seiner Größe durchaus erschwinglich, was vor allem daran gelegen haben dürfte, dass es auf der Landkarte wirklich weitab vom Schuss – eben in Ostpreußen, nahe Cranz (das heute Selenogradsk heißt) – lag und ein Badeort an der russischen Samlandküste ist. In Cranz sollte Beate später, wenigstens kurz, die Schule besuchen. Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Patrick White schrieb einst über Cranz, das er in den 1930er Jahren besucht hatte: »Ich erinnere mich an das kleine Ostseebad Cranz, am Rande der Stadt bis zu den Knöcheln in den schweren weißen Sand einsinkend, genauso wie in den Straßen mit den weißgekalkten Holzhäusern, auf denen das Licht dicht und golden wie der Bernstein lag, der entlang der Küste gefunden wurde. (…) es war aus der Zeit gefallen und hatte keine Verbindung zu irgendeinem Land, das ich besucht hatte.«
Margarete Köstlin-Räntsch, Beates Mutter, war nun nicht irgendjemand. 1880 als Tochter des Brauereidirektors Friedrich Carl Leopold Räntsch in Berlin geboren, ist sie in großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen – dabei mangelte es nicht an Bildung und Ausbildung: Sie besuchte eine Höhere-Töchter-Schule, wo sie Latein und Altgriechisch lernte. Und sie hatte das Glück, eine wichtige Persönlichkeit der deutschen Frauenbewegung nicht nur kennenzulernen, sondern auch von ihr unterrichtet zu werden: Helene Lange. Als Margarete Räntsch zur Schule ging, war für Mädchen das Abitur nicht vorgesehen – etwas, wogegen Helene Lange sich entschieden stellte. Nicht nur schrieb sie Brandbriefe gegen die Bildungsungerechtigkeit, der Mädchen damals ausgesetzt waren, sie gründete auch eigene Kurse, die es Mädchen ermöglichen sollten, das Abitur ganz genau wie die Jungen zu machen. 1896 konnten dank dieses Engagements zum ersten Mal sechs Schülerinnen am Königlichen Luisengymnasium in Berlin das Abitur machen und so, 15 Jahre später, auch Margarete Räntsch – die Nummer 30 auf der Liste aller dokumentierten Mädchen, die auf diese Weise doch zum Abitur gelangten. Beates Mutter war damit eine der Pionierinnen der deutschen Frauenemanzipation. Und sie setzte noch eins drauf: An der Universität Würzburg war sie eine von drei Frauen, die als erste dort studieren durften, und die erste überhaupt, die einen Doktor der »Hohen Medizinischen Fakultät« erlangte. In einem späteren Briefwechsel mit der Berliner Gesellschaft für Geschichte der Medizin schrieb Beate Rotermund:
»Wieso Margarete Medizin studierte weiss ich nicht – hat sie nie von gesprochen. Ich denke: – sie wollte es einfach.«2
Sie wollte es und sie wurde eine der ersten Ärztinnen in ganz Deutschland. Was ebenso wichtig und durchaus damals nicht selbstverständlich war: Auch nach der Ehe praktizierte Margarete weiter als Ärztin. Das hatte sie gegenüber ihrem Ehemann, Otto Köstlin, den sie 1907 kurz nach ihrem Examen heiratete, als Bedingung für die Ehe durchgesetzt. Und so wurde sie Kinderärztin in Kiel, während sich Otto um das gepachtete Gut in Quarnbek kümmerte.
Auch Otto war nach Beates Berichten in ihrer Autobiografie ein überaus moderner Mann: Auf dem Gut Wargenau gab es Elektrizität, was damals noch überhaupt nicht üblich war, alle anderen in der Gegend machten sich weiterhin mit Petroleum Licht. Und weil Otto Köstlin den Fortschritt mochte, schaffte er auch eine Wasserleitung und ein Spülklo an, »was Luxus hoch drei war«, wie Beate schrieb. Später gab es sogar ein Telefon, was vor dem Zweiten Weltkrieg eine Seltenheit war, die Nummer: 225. Doch nicht nur die modernen technischen Errungenschaften waren Otto Köstlin eine Freude, auch in der Landwirtschaft experimentierte und probierte er gerne, züchtete Pflanzensorten, die besonders ertragreich oder wetterfest waren, und machte sich damit einen Namen in seinem Metier. »Köstlins Sommergerste« tauchte sogar in einem landwirtschaftlichen Forschungsbericht der Universität Bonn auf, der sich der »Erhaltung der genetischen Diversität bei Getreide« widmete.
Die Jahre 1914 bis 1918 waren aber auch in Wargenau vom Krieg geprägt. Diese Episode beschreibt Beate Rotermund nicht sehr ausführlich, vermutlich, weil sie nie mehr die Gelegenheit bekam, ihren Vater nach dieser Zeit zu befragen. Sie erwähnt nur, dass Otto Köstlin im Krieg verwundet wurde, im Lazarett landete und wohl auch in Kriegsgefangenschaft gewesen sei. Zu ihrer Geburt jedoch, im Oktober 1919, war er – zu ihrem Glück – da. Beate kam nämlich mit der Nabelschnur um den Hals auf die Welt, sie war aufgrund des Sauerstoffmangels bereits blau angelaufen. Der Vater konnte sie aus dieser misslichen Lage erlösen, Geburten kannte er immerhin von seinen Kühen. So zumindest schildert es Beate Jahrzehnte später.
An eine andere Episode aus dieser Kriegs- und Nachkriegszeit erinnert sie sich jedoch, eine Geschichte, die ihre Mutter Margarete ihr berichtete: Beate sei erst ein paar Monate alt gewesen, als die »Roten Matrosen«, über die Klaus Kordon viele, viele Jahre später sein berühmtes Buch schreiben sollte, nach Cranz und auch Wargenau kamen. »Meine Mutter behauptete, ich hätte sie einmal gerettet, da war ich gerade ein paar Monate alt. Es war, als die roten Matrosen, marodierende Horden kommandoloser Kommunisten, die der Krieg ausgespuckt hatte, Russland verließen und Ostpreußen unsicher machten.« So ganz stimmt das mit den roten Matrosen allerdings nicht. Der Historiker Wolfgang Niess ordnet diese Passage aus Rotermunds Erinnerung etwas anders ein:
»Nach meiner Einschätzung dürfte es sich eher um rechtsgerichtete Freikorps gehandelt haben, die im Baltikum gegen die revolutionären Truppen der Bolschewiki gekämpft haben. Diese Einheiten wurden in dieser Zeit aus dem Baltikum abgezogen.«
Von einer Horde deutscher kommunistischer Matrosen, die auf Seiten der Bolschewiki gekämpft haben und zu diesem Zeitpunkt nach Ostpreußen gekommen sein sollen, hat er noch nie gehört.
Beates Kindheit
Das große Gut Wargenau war eine perfekte Spielwiese für ein neugieriges Kind wie Beate. Der Vater hielt über 100 Milchkühe, es gab einen Hund und bereits mit drei Jahren lernte die kleine Beate auf einem der über 30 Pferde reiten – sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, die das keine so gute Idee fand und sich große Sorgen machte. Doch Otto Köstlin, der selbst viel und gerne ritt, fand seine Tochter alt genug dafür und setzte sie kurzerhand auf das friedliche und treue Pferd der Mutter, von dem Beate nach eigenen Angaben nie herabgefallen ist. Das Gute war, dass Beate ihren Vater nun bei dessen Ausritten auf dem großen Gelände des Guts begleiten konnte. Bei diesen Streifzügen erklärte er ihr alles, was er selbst über die Tiere und Pflanzen wusste, und verankerte damit eine große Liebe zur Natur und Landwirtschaft in seiner Tochter, die diese bis ins hohe Alter in sich trug, wie Angehörige und Bekannte bestätigen können, die ihren stets gut bestückten und vorbildlich gepflegten Garten kannten. Aber das war viel später erst, lange nach dem Krieg und weit, weit weg von Wargenau.
Auch die Sexualaufklärung des Kindes fand an praktischen Beispielen auf dem Gut statt: Da waren zum Beispiel ein besonders kräftiger Bulle und eine Milchkuh, die besonders viele Liter jeden Tag gab. Diese beiden wurden ausgewählt, miteinander Nachwuchs zu zeugen, und Beate konnte zuschauen, wie der Bulle die Kuh deckte. Dieser praktischen Erfahrung, der sie beiwohnen durfte, folgte dann die theoretische Einordnung durch die Mutter, die ihr genau erklärte, wie der Samen des Bullen das Ei der Kuh...