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Bedeutung und Funktion der Mythen im Film Indiens

Analyse ausgewählter Beispiele

AutorCornelia Wurzinger
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl139 Seiten
ISBN9783638465380
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Medien / Kommunikation - Film und Fernsehen, Note: sehr gut, Universität Wien (Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften), 70 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: In der vorliegenden Arbeit sollen zwei Themengebiete vereint werden, die einen wichtigen Bestandteil der Kultur Indiens ausmachen: Auf der einen Seite die uralten Mythen des Landes, die vor allem aus dem Ramayana und Mahabharata stammen und fest im Kulturgut verankert sind, und auf der anderen Seite die populären Hindifilme, deren Stoffe mitunter bereits einen ganz ähnlichen Status besitzen und deren Helden und Geschichten selbst zu einer neuen Art der Mythologie geworden sind und bisweilen ins allgemeine Gedankengut übergehen. Der Kult um die Filmstars ist in Indien derart übermächtig und allgegenwärtig, dass dieser Vergleich durchaus gerechtfertigt scheint. Die Götter der Leinwand sind omnipräsent und überlebensgroß blicken sie den Menschen auf Indiens Straßen von riesigen Plakatwänden entgegen. Die Mythologie Indiens soll als omnipräsente kulturelle Konstante gezeigt werden, die in der Gedankenwelt Indiens fest verankert ist. Im Film gibt es eine Reihe von Charakteristika, deren Einfluss aus der Welt der indischen Mythologie stammt. Diese Einflüsse sollen in Folge erläutert und an Filmbeispielen analysiert werden. Obwohl das Genre des mythologischen Films in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts praktisch ausgestorben ist, wurden viele Merkmale des mythologischen Filmes in das populäre Kino übernommen. Das mythologische Material soll als Einfluss auf die Geschichten, die Erzählweise, die Figurenzeichnung und als Schlüssel zum Verständnis und zur Interpretation gezeigt werden. Auch der Film Indiens, seine Stars und Sternchen als ganz neue Mythologie, sollen nicht unerwähnt bleiben. Schlussendlich wird am Beispiel der 1990er Jahre aufgezeigt, wie mythologisches Material durch ideologische Manipulation politisch verwendet werden kann. Dies soll an der populären Filmlandschaft Indiens jener Zeit erläutert werden.

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Leseprobe

2. Der Hindi Film


 

„Kitsch als Kunst, Klischee als Katharsis, Kommerzkino in Unkenntnis von Kompromissen.“[39]

 

Der populäre Hindi Film ist für den westlichen Zuschauer, der an eine völlig andere Filmästhetik gewöhnt ist, in gewisser Weise sicher schwerer zugänglich als die Art Movies Indiens, die sich mit sozialen und gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzen und die Realität der Menschen und des Landes zeigen. „Maximum escapism and minimum reality“[40] kann man als Motto der populären Filme verstehen, denn ein Bollywoodfilm hat einzig die Aufgabe, den Zuschauer in eine Traumwelt zu entführen, die alles andere als logisch und nachvollziehbar ist und in keinem Fall Realität vorspielen will.

 

“Can playback dance numbers under starry, starry skies really have this much power? They can and they do. The modern Indian audience is bemused by the Western obsession with cinéma-vérité and our fascination with what they see as the squalor of daily life. India´s population is now over a billion and nearly everyone is fighting for space or even just a place to breathe. The oppressive and omnipresent poverty of southern Asia gives every Indian more than his or her daily bellyful of the harshness of reality. They have little desire or need to see it on the big silver screen when they have to live so literally in it all the time.”[41]

 

Genau dieser Punkt ist es jedoch, der dem westlichen Publikum sehr oft Probleme bereitet, da hier die Szenarien zum Teil fast lächerlich anmuten und die Ästhetik viel zu überladen und kitschig zu sein scheint. Dies erkennt man an der Reaktion der Zuschauer, sieht man solche Filme in Ländern, die mit indischer Filmkultur normalerweise wenig oder überhaupt nicht in Berührung kommen. Scheinbar kann der Zuschauer hier nur schwer einen Zugang zu diesen Filmen finden und weiß teilweise nicht viel damit anzufangen, da seine Erwartungshaltung zunächst einmal enttäuscht wird. Die populäre Filmkultur Indiens wird vor allem als fantastische Gegenwelt zur Realität rezipiert, die für das Publikum des Westens einer näheren Betrachtung nicht wirklich standhalten kann. Damit erkläre ich mir auch die Tatsache, dass der „Bollywoodboom“ in Österreich und Deutschland, der im Jahr 2003 kurzzeitig durch die Medien geisterte, eigentlich nur wenige Wochen angehalten hat. Die Filme wurden im Prinzip nur als ein Trend wahrgenommen, der für kurze Zeit unterhaltsam und vor allem exotisch war. Sie wurden jedoch scheinbar nicht als ein ernstzunehmender Teil einer multikulturellen Filmkultur gesehen.[42]

 

Dabei entfaltet diese Filmlandschaft ihre Faszination erst, nachdem man mehrere Filme gesehen und sich wirklich darauf eingelassen hat. Der populäre Hindifilm hat eine einzigartige Ästhetik und Sprache und kann durch seine enorm große Reichweite und Popularität die Gesellschaft in extremer Weise beeinflussen. Einerseits ein Medium, welches Einflüsse aus den unterschiedlichsten Bereichen aufsaugt[43], besitzt der Hindifilm andererseits eine völlig eigene und unnachahmliche Ausdrucksweise, die ihn unvergleichbar macht. In einer Rezension zum Film Kabhi Khushi Kabhie Gham schreibt Maya McKechneay in der Wochenzeitung Falter über die unterschiedliche Position, die der Zuschauer im Bollywoodkino einnimmt, folgendes:

 

„Während wir in US-Tränendrückern nach dem Muster von 'A Beautiful Mind' die Rolle eines zufällig anwesenden Voyeurs einnehmen, sitzen wir hier in der Königsloge: Jeder Raumentwurf, jede Tanzchoreographie ist zentralperspektivisch auf uns ausgerichtet. Nur für uns wirbelt das junge Liebespaar in buntseidenenen Fantasiegewändern über ein Ballparkett. Und nur für uns findet ein ausgelassener Tanz auf einem indischen Marktplatz seine Fortsetzung vor den Pyramiden von Giseh, wo sich das Paar plötzlich (wider jeder Handlungslogik) vor glutrot untergehender Sonne umarmt. So werden unsere Emotionen nicht – wie von Hollywood – möglichst unmerklich manipuliert, sondern ganz offen dirigiert.“[44]

 

Das Kino als billigste und zugänglichste Form der Unterhaltung Indiens wirkt auf den Rezipienten und seine Denkweise, sein Agieren, wobei die Helden des Filmes als Vorbilder, als nachahmenswerte Idole fungieren. Der Subkontinent Indien, der durch die unterschiedlichsten Religionen, Kasten, Sprachen und Kulturen in sich sehr gespalten ist, hat einige solcher „Bindeglieder“ zur Verfügung, die über jegliche Differenzierung hinaus eine gemeinsame Basis bereitstellen. Der Hindifilm muss sich, um erfolgreich zu sein, über Grenzen erheben, um die Bevölkerung über alle sozialen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinweg anzusprechen.

 

„Cinema seems to have transcended class and even linguistic difference by emphatically stressing 'the myths on which the Indian social order survives in spite of changes' (Raina 1983: 131). The structure of the film is therefore designed to accommodate deep fantasies belonging to an extraordinarily varied group of people, from illiterate workers to sophisticated urbanites. A key binary that has been detected by almost all commentators of this form is the modernity/tradition binary. Modernity is disavowed even as it is endorsed, tradition is avowed even as it is rejected.”[45]

 

2.1 Erzähltechnik/Narration


 

“A strong story with a moral at the end is necessary in a Bollywood film. Indian cinema has largely survived on the support of the rural and semi-urban masses. Studies show that most Indian audiences do not like major shifts in narrative. They appear to prefer simple good versus evil scenarios, often drawn from the ancient epic of pan-Indian influence, the Ramayana. Glorification of the family, individual sacrifice for the sake of others, respect for age and authority, and the longterm futility of crime are themes found in Indian cultural forms throughout history. It is not in the least surprising, then, to see them forming the basis for plots in modern cinema.”[46]

 

Im Gegensatz zu Produktionen Hollywoods steht in den Mainstream Filmen Indiens die Narration nicht unbedingt im Vordergrund. Der Zuschauer, der sich einen Film ansieht, weiß bereits im Vorhinein, was ihn erwartet. Das hat mit einer bestimmten Formel zu tun, die in Bollywood angewendet wird, um den Film mit möglichst großer Wahrscheinlichkeit zu einem Erfolg zu machen:

 

“A hero´s rise through a film reassures audiences in an insecure world. A good film induces a catharsis through a careful mix of comedy and tears combined with an element of hope in the narrative.”[47]

 

Der Film des Westens beinhaltet zumeist eine Figur, die psychologisch motiviert ist und die Handlung linear durch Aktion vorantreibt. Das bedeutet somit, dass im Laufe des Filmes durch die Narrationslinie ein Spannungsbogen erzeugt wird, an dessen Ende die erfolgreiche Durchführung der Mission des „Helden“ steht. Die Reihenfolge wäre hier: Exposition – Konflikt – Krise – Aufklärung. All dies charakterisiert jedoch nicht unbedingt  den Hindi-Film, da es hier kein continuity editing gibt:

 

„Unlike Hollywood cinema that is linear, Hindi cinema is circular – the narrative explodes into waves and then settles down into throughs, as extreme are compromised into moderation and mutually opposed cognitive categories are united in equilibrium. The sublime of the Hindi film does not lie in a grand reaching out of what lies beyond, but in discovering renewed possibilities from within the existing situation. This is why the Hindi film always 'returns' to its basic premises. The form of Hindi commercial cinema is that of a mathematical solution – the problem starts from a premise and the solution too lies in it. The essence of Hindi cinema lies in the discovery of the 'rules of problem-solving'.[48]

 

Innerhalb der Haupthandlung gibt es zum Teil lose Nebenhandlungen - das bedeutet in der Praxis, dass während der Geschichte eine Abweichung erfolgt, in der temporär eine andere Handlung verfolgt wird, bevor man wieder in die eigentliche Geschichte des Filmes zurückkehrt.

 

“Here again the influence of the Ramayana and the Mahabharata is very clear. Instead of the linear and direct narratives realistically conceived found in Hollywood films, Indian popular cinema offers us a structure of narrative which can most productively be understood in terms of the art of story-telling characteristic of the two venerated epics.”[49]

 

2.1.2 Einschub: Zur Erzähltechnik im Ramayana


 

Das Ramayana Valmikis beginnt zunächst mit der Schilderung, wie es überhaupt zur Entstehung eben dieses Werkes kam: der Weise Valmiki bekam von Gott Vishnu die Inspiration, die Geschichte Ramas in einer bestimmten Sloka[50] als Gedicht zu dichten. Als dies geschehen war, musste das Gedicht weiter gegeben und unter den Menschen verbreitet werden. Valmiki...

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