Begegnung mit einer Unternehmenspersönlichkeit
Tradition spiegelt sich in der Architektur
Bei Bayer stehen sich Vergangenheit und Gegenwart architektonisch exakt gegenüber: Auf der einen Seite der Kaiser-Wilhelm-Allee am Rande Leverkusens befindet sich die heutige, gläserne Firmenzentrale von Bayer, auf der anderen die ehemalige, neobarocke Firmenzentrale Q 26. Was Fremden als abstrakte Chiffre erscheint, signalisiert den Bayer-Menschen seit über 100 Jahren Autorität und den Gästen Selbstbewusstsein. Aus der kleinen, 1863 gegründeten Farbstofffabrikation aus Barmen war innerhalb von 50 Jahren ein erfolgreiches, weltweit tätiges Unternehmen geworden – und das sollte der Architekt auch ausdrücken. Die 1912 eröffnete, 150 Meter breite ehemalige Hauptverwaltung Q 26 beeindruckt schon von außen mit hohen Geschossen und einem stolzen Mittelbau. Sieben Stufen geht es hinauf bis zum ersten Portal, innen weitere zehn Stufen, bevor der Gast die Pförtnerloge erreicht. Heute öffnet sich die drei Meter hohe, in Bronze gefasste Glastür mit einem dezenten Sirren und gibt wie damals den Weg frei in eine eigene Welt.
Eher liebenswürdig präsentiert sich nur wenige Schritte entfernt das Kasino. Weiche Formen, große Fenster, luftige Säle, dezente Nebenräume: hier strömen die Mitarbeiter seit 1913 zum Mittagessen zusammen, hier bewirtet das Unternehmen auch heute noch seine Gäste. Ungezählt sind die Feierlichkeiten und Veranstaltungen, die hier mit der unternehmenseigenen höflichen Präzision ausgerichtet wurden; ungeahnt die Weichen, die hier im kleinen Kreis zu später Stunde gestellt wurden.
Freundlicher Empfang bei Bayer HealthCare
Doch die Architektur von Bayer kann auch streng sein. Die Adresse Q 30 am Kopf der Kaiser-Wilhelm-Allee signalisiert dem Insider Pharma. Es ist die Hauptverwaltung von Bayer HealthCare und steht für das, was der Volksmund gerne den Pharmariesen nennt. Hinter der nüchternen Fassade – dreißiger Jahre, repräsentativ, dabei schlicht, eckig und funktional – begrüßt den Gast eine helle und freundliche Eingangshalle, bevor er die Büros erreicht.
Bei Bayer hat vieles die Zeit überdauert, einiges aber auch nicht. Zum Beispiel das ehemalige Wohnhaus des früheren Generaldirektors Carl Duisberg von 1912, die sogenannte Duisberg-Villa. Sie stand ungefähr dort, wo jetzt die gläserne Zentrale steht. Seinen Nachfolgern war sie vielleicht etwas zu personengebunden gewesen. Aber dass das 1963 bezogene Bayer-Hochhaus, im Firmenjargon W1 genannt, heute nicht mehr steht, ist in erster Linie den gestiegenen Anforderungen des Brandschutzes geschuldet. 31 Stockwerke hoch, weiß, schlank: die zweite Firmenzentrale war ein architektonisches Statement, signalisierte Selbstbewusstsein, Internationalität und die Modernität der sechziger Jahre.
Offen und umweltbewusst: BayKomm
Und dann kamen die Siebziger und brachten Deutschland eine intensive Auseinandersetzung über die Definition von Technik und Fortschritt, von Umwelt und Sicherheit, von Wohlstand und Lebensqualität. Dafür steht das Bayer-Kommunikationszentrum „BayKomm“, das anlässlich des 125-jährigen Firmenjubiläums 1988 im Schatten von W1 erbaut wurde. Es liegt unmittelbar neben dem Japanischen Garten und ist so homogen in die Landschaft eingebettet, dass Erstbesucher mitunter Mühe haben, es zu finden. Hier werden Annäherung und Einklang gesucht: in einer architektonischen Mischung aus Zweckmäßigkeit, Transparenz, Eleganz und umweltschutztechnischer Vorbildlichkeit, in einer permanenten Ausstellung hinter gläserner Fassade und in täglichen Führungen und Veranstaltungen.
Damit schließt sich der Kreis zur heutigen Firmenzentrale: gläsern und offen, nach neuesten ökologischen Gesichtspunkten konzipiert und geschmeidig geformt – elegant und doch dezent. Markant ist die geradezu kompromisslose Öffnung nach außen, die von einigen Mitarbeitern anfangs als gewöhnungsbedürftig, bald aber auch als durchaus erfrischend empfunden wurde. Heute ist sie schon fast selbstverständlich.
Allgegenwärtige Vergangenheit
Unternehmen mit Charakter
Es hat symbolische Kraft, dass die Portale der heutigen Firmenzentrale W11 und der Vor-Vorgängerin Q 26 exakt gegenüberliegen. Denn die eigene Vergangenheit, die vielfältige Geschichte mit ihren Helden und Erfolgen, mit ihren Phasen scheinbarer Beschaulichkeit, aber auch mit Auseinandersetzungen und Krisen, ist bei Bayer allgegenwärtig. Vor einigen Jahren arbeiteten viele noch einfach „beim“ Bayer – was keineswegs als späte Hommage an den Firmengründer zu verstehen war. Für Außenseiter mag dieses Unternehmen ein Chemie- und Pharmakonzern sein, ein geschätzter Lieferant, ein interessanter Kunde oder einfach nur ein attraktives Anlageobjekt. Für die Mitarbeiter dagegen ist Bayer eine Persönlichkeit, mit Ecken und Kanten, so wohltuend in der Kontinuität wie schillernd im ständigen Wandel.
Mit dem Hinweis, etwas sei „historisch begründet“, blickt man bei Bayer gelegentlich über jene kleinen Anachronismen hinweg, die dem Unternehmensalltag Charakter und Farbe verleihen. Dazu gehört zum Beispiel die Tatsache, dass Bayer bis in die jüngste Vergangenheit im Werk Leverkusen eine eigene Fahrradwerkstatt unterhielt.
Wurzeln in Wuppertal-Barmen
Die Wurzeln von Bayer liegen im heutigen Wuppertal, wo den Menschen Bodenständigkeit und Fleiß zugeschrieben werden. Hier, in einer Tallage, wie sie enger kaum sein kann, entwickelt sich das Unternehmen in nur wenigen Jahren vom Produzenten am heimischen Herd1 in der damals noch selbständigen Stadt Barmen zu einem weltweit agierenden Farbstoff- und Pharmakonzern in der Stadt Elberfeld, heute beides Ortsteile von Wuppertal.
Die Welt bekommt mehr Farbe
Auch seinerzeit galt es, die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu haben. Die neuen Möglichkeiten, leuchtende Textilfarben zu erschwinglichen Preisen herzustellen, lösten Mitte des 19. Jahrhunderts Begeisterung in der Bekleidungsbranche und bei den Kunden aus. Für die Modewelt signalisierten sie einen Quantensprung und brachten wortwörtlich Farbe in den Alltag von Reich und Arm, Jung und Alt.
Gleichzeitig brachte die Farbstoffherstellung von Bayer industrielle Produktion mitten in die Stadt. Ein Schraubenhersteller draußen vor den Toren mag ein unauffälliges Produzentenleben führen. Eine chemische Fabrik mitten im Wohngebiet ist nicht nur optisch auffällig, sondern macht auch gelegentlich durch strengen Geruch oder im schlimmsten Fall durch unkontrollierte chemische Reaktionen auf sich aufmerksam. Im Winter erlaubten die Fußspuren der Arbeiter im Wuppertaler Schnee Rückschlüsse darüber, welcher Farbton gerade „beim Bayer“ produziert wurde.2
Was hinter den Mauern und Zäunen passiert, wurde und wird noch am selben Abend an den Stammtischen diskutiert. Was da aber genau gemacht wird und vor allem wie – das war den meisten Mitbürgern außerhalb der Werke schon damals ein Rätsel. Die Mitarbeiter wissen, dass in diesen Räumen und Hallen, in Rohren und Kesseln nichts Mysteriöses ist. Es ist hier aber auch nichts selbstverständlich, und selbst kleine Fortschritte werden mühsam erkämpft. Die Chemie ist zwar eine faszinierende Wissenschaft, aber auch eine anspruchsvolle und mitunter kapriziöse Geliebte. Diese Janusköpfigkeit ihres Arbeitsgebiets, die Zwiespältigkeit der Möglichkeiten und Risiken, verlangte den Mitarbeitern der chemischen Industrie schon immer ein gewisses Selbstbewusstsein ab.
Umgeben von Wiesen und Weiden
Auf der grünen Wiese entsteht eine neue Stadt
Leverkusen: Damit verbindet man heute vielerlei, zumindest ein Autobahnkreuz, einen Fußballverein und einen großen Pharma- und Chemiekonzern. Um 1900 gab es in der Keimzelle Leverkusens – zwischen Köln im Süden und Düsseldorf im Norden – neben der Gemeinde Wiesdorf ein paar idyllische Fischerdörfer und letztlich viele Wiesen und Weiden. Da stand am Rhein aber auch eine kleine Farbenfabrik, Dr. Carl Leverkus & Söhne, und darum herum war jede Menge Platz. Hier, direkt am Rheinufer, fand Bayer 1891 das ideale Gelände für die Ausweitung der Produktion und kaufte die kleine Fabrik.
Allerdings gab es dort einen ernstzunehmenden Mangel: an Wohnraum, Einkaufsmöglichkeiten, Sport- oder Freizeitangebot. Die nächstgelegenen Dörfer Wiesdorf und Bürrig hatten damals zusammen 3.396 Einwohner, und der Weg nach Köln oder Düsseldorf war eine kleine Reise. Öffentliche Verkehrsmittel gab es nicht. Die ersten Bayer-Mitarbeiter am Standort Leverkusen – 1900 waren es bereits mehr als 4.0003 – hatten es wahrlich nicht leicht, und die Wuppertaler Kollegen hatten gut lästern: „Kann er einen nicht verknusen, schickt er ihn nach Leverkusen. Und an diesem End’ der Welt, ist man auf ewig kaltgestellt.“4 Es sollte allerdings nicht lange dauern, bis sich das Kräfteverhältnis komplett veränderte.
Mit dem Werk entsteht die Infrastruktur
Normalerweise gibt es zunächst eine Stadt und dann ein Werk – in Leverkusen war es umgekehrt. Bayer baute für seine Mitarbeiter Häuser und Wohnungen, Kaufhäuser und Kindertagesstätten. Ob Arbeiter oder Angestellter: mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war der Nachbar damals ein naher oder entfernter Kollege, und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ist das auch heute noch so. Zwar hat das Unternehmen den Großteil seines Bestands an Privatwohnraum Anfang 2000 an eine externe Verwaltungsgesellschaft verkauft.5 Doch auch heute noch sind ganze Wohngegenden fest in Bayer-Hand, und die roten Bayer-Fahrräder...