I. Streifzüge
Ansichten und Einsichten
Es war Freitagabend, und die Metropol-Party begann in wenigen Stunden. Ein großer Saal gefüllt mit jeder Menge hübscher Mädchen. Die eigentliche Herausforderung bestand darin, die Richtige herauszufischen. Es war noch immer warm, und ich entschied mich für ein kurzärmliges Hemd aus Leinen – falls es nötig sein würde, zu tanzen –, außerdem bestäubte ich meinen Körper mit einem Puder, das die Transpiration verhindern sollte. Im Radio sang Rod Stewart »Do You Think I’m Sexy?« Was für eine Frage, dachte ich amüsiert. In den vergangenen 20 Jahren hatte ich darauf stets dieselbe, befriedigende Antwort bekommen. Ich zweifelte schon lange nicht mehr.
»Du tanzt umwerfend!«, brüllte ich. Sie riss die Augen auf und schaute mich verständnislos an. Ich verfluchte die Bassrhythmen, die durch den Saal dröhnten, und versuchte es noch einmal.
»Umwerfend!« Deutlich formte ich jede Silbe mit den Lippen und zeigte mit dem Finger auf sie. Jetzt lächelte sie und strich sich eine Strähne aus der schweißnassen Stirn.
»Möchtest du was trinken?« Ich kletterte von meinem Barhocker und stand nun dicht neben ihr. Sie atmete schnell und tanzte selbst im Stehen weiter.
»Martini, mit viel Eis!«, rief sie.
Sie stürzte das Glas hinunter und mengte sich wieder unter die Tanzenden. Ab und an sah ich ihre Arme, die sie nach oben warf, oder ihren Kopf, den sie so heftig herumschwang, dass ihr langer blonder Zopf sich auflöste und ihre Haare einen eigenen Rhythmus entwickelten. Ich verharrte auf meinem Platz und wartete ab. Das Tempo konnte sie unmöglich noch lange durchhalten. Sie trug eine hautenge, hellblaue Satinhose, ein bauchfreies Top und eindeutig keinen BH darunter. Kurzer Blickkontakt. Ich hatte mich nicht geirrt. Ein junger Mann schob sich in ihren Radius und wackelte mit den Hüften, als ginge es um sein Leben. Meine Schöne sprang an und balzte mit. Ich war jetzt sicher, sie würde meine Miss Freitagabend werden. Vera sang »Baby Won‘t You Dance With Me«, und die Menge sang mit. Die Anvisierte hüpfte auf mich zu und rief in den Lärm: »Na, komm schon, tanz mit mir!«
Ich hatte zwar kein Wort verstanden, deutete aber ihre Lippenbewegungen richtig. Denn als ich lächelnd den Kopf schüttelte, schob sie schmollend ihre Unterlippe vor.
»Das ist ’ne Disco. Hier kommt man zum Tanzen her!«
Fast hätten ihre Lippen mein Ohr berührt, ich konnte sie riechen, ihren Körper, trotz des Parfüms. Das war der Moment. Niemals zögern, immer alles auf eine Karte.
»Ich nicht! Ich bin geschäftlich hier«, schrie ich.
»Ach was, bist wohl Regisseur und schlägst mir jetzt eine Rolle in deinem Film vor, ja?«
»Können wir uns nicht dahinten weiter unterhalten? Ich bin schon heiser!«
Ich zeigte ihr die Richtung, und sie folgte mir. In der Ecke standen ein paar dunkelgrüne Clubsessel und kleine runde Tische. Ich lagerte ein paar Jacken um, bot ihr einen Platz an, und sie setzte sich dankbar, streckte ihre langen Beine aus und streifte sich die Pumps von den Füßen. Ich hatte vorgesorgt und reichte ihr den Martini, den ich für sie bestellt hatte.
»Oh, sehr aufmerksam von dir.« Sie trank. »Was willst du eigentlich von mir?«
»Dir ein Angebot machen!«
»Ich spiel aber nur die Hauptrolle!«
Ich ignorierte ihren schnippischen Tonfall, beugte mich vor – ohne dabei den gebührenden Abstand zu unterschreiten – und sagte sehr ernsthaft:
»Es gibt nichts, was eine so schöne Frau wie du von einem Mann nicht bekommen könnte. Wusstest du das?«
Sie sah mich irritiert an und stellte das leere Glas auf dem Tisch ab.
»Und?«
»Hat dir schon mal ein Mann ein Geschenk gemacht?«
»Zum Geburtstag?«
Ich hatte sie aus dem Konzept gebracht, aber noch nicht an der Angel. Jetzt nachlegen.
»Ich meine einen Diamanten, ein Auto. Hat dir noch nie jemand eine Reise auf die Malediven geschenkt?«
Ihre Augen wurden größer. Angebissen.
»Das ist, als hätte Da Vinci seine Bilder aus der Hand gegeben, ohne dafür ein Honorar zu verlangen! Du bist mit einer Schönheit gesegnet, die ihresgleichen sucht, und du verschenkst sie an Typen, die sich wahrscheinlich auch noch aus deinem Kühlschrank bedienen.«
Da musste ich ins Schwarze getroffen haben. Sie zuckte zusammen und begann, auf ihrer Lippe zu kauen.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Julia!«
»Schöner Name. Passt zu dir. Ich bin Detlef. Detlef Uhlmann, und mir gehört das Bel Ami. Das ist ein Nachtclub. Ein sehr exklusiver!«
Sie zuckte zusammen. Jetzt vorsichtig sein, Vertrauen wecken, Zeit gewinnen.
»Warte! Bevor du antwortest, denk erst mal nach. Du bist Studentin, oder?«
Sie nickte.
»Du bist also nicht nur schön, sondern auch klug. Bevor man sich eine Meinung bildet, sollte man sich die Dinge genauer ansehen. Und mehr will ich gar nicht von dir!«
Ich setzte ein gewinnendes Lächeln auf und schob ihr meine Visitenkarte über den Tisch.
»Komm einfach mal vorbei und schau es dir an. Ein bisschen Neugierde hat noch niemandem geschadet. Frag einfach nach Detlef, und dann entschädige ich dich für dein Kommen mit einem Glas Champagner oder Martini – und wesentlich besserem als diesem hier.«
Damit stand ich auf und reichte ihr meine Hand.
»Julia, es hat mich sehr gefreut, dich getroffen zu haben.«
Auf keinen Fall wollte ich ihr die Zeit für eine spontane Entscheidung lassen. Sobald sie ihr schönes Bein erst einmal in meine Villa gesetzt hätte, würde sie mir die richtige Antwort geben, da war ich mir sicher.
Und ich behielt recht. Schon am nächsten Abend sah ich sie wieder. Julia, schöne Julia. Studentin der Germanistik, Geschichte und Literaturwissenschaft. Aus dem Stegreif zitierte sie Goethe oder auch Brecht, und sie lernte sehr schnell, wann der eine besser zog als der andere.
Die Sommernacht, in der mir meine Überzeugungskraft erstmals bewusst wurde, war so heiß, dass auch der Einbruch der Dunkelheit kaum Abkühlung brachte. Damals war ich 14 und lebte noch in der DDR, einem Land, in dem es eher wenige Berufe gab, in denen man seiner Reiselust uneingeschränkt nachgehen konnte. Ich wollte Seemann werden, hatte eine Ausbildung in der Berufsschule für Seefahrt bei Magdeburg begonnen und wohnte seit einigen Monaten im Internat. Bei unserer Ankunft war ich zum Stubensteuermann gewählt worden, was mich nicht wirklich überraschte. Ich war groß, meine Stimme tief, mein Auftreten selbstbewusst, und wahrscheinlich deshalb hatten die anderen drei Jungen auf dem Zimmer sofort Vertrauen zu mir gefasst. Außerdem war ich der Einzige, der schon Erfahrungen mit Mädchen gemacht hatte. Sie anzusprechen und zu einem Date zu überreden, war mir nie schwer gefallen. Waren es mein selbstsicheres Auftreten, mein Lächeln, das unschuldig und erfahren zugleich wirkte? Oder die Komplimente, die ich grundsätzlich ernst meinte?
Ich hatte zu Beginn des Abends groß aufgeschnitten und behauptet, dass ich es schaffen würde, noch in derselben Nacht ein Mädchen auf das Internatsgelände und zu einem Stelldichein mit uns vieren in den Bootsschuppen zu locken. Die anderen Jungen sahen mich aus großen Augen an, mein alter Freund Lupo, der weinerliche Joschi, der picklige Udo, und mir selbst wurde ein bisschen mulmig. War ich zu weit gegangen? Aber ich war jung, ich hatte nicht vor, mir eine derartige Blöße zu geben. Also verließ ich mich einfach auf mein gutes Aussehen und mein Glück, kletterte auf den Sims in unserem Zimmer – und sprang. Die Mülltonne unten vor dem Fenster kippelte, fiel aber dann doch nicht um.
Ohne mich umzublicken, eilte ich los, hechtete über den eher symbolischen Zaun und rannte den kleinen Waldweg entlang, der unseren frühmorgendlichen Ausdauerläufen diente und mir daher vertraut war. Zehn Minuten später erreichte ich die Straße, die nach Schönebeck führte. Ich schnaufte noch, als ich hinter mir das Knattern eines Zweitakters hörte. Ich war überrascht, da ich wusste, dass um diese Zeit die Landstraße sonst kaum befahren war. Ein Typ, nicht viel älter als ich, hielt sein Moped an und wollte mich bis Schönebeck mitnehmen. Die Disco dort kannte er auch, die Hintertür anscheinend nicht. Elvis füllte gerade schmachtend die Pause zwischen der Livemusik, als ich das Tanzlokal betrat. Und dann sah ich sie, das Mädchen am Ende der Bar. Sie lächelte mich an und schien auf mich gewartet zu haben. Eine Einladung zum Bier – mehr ließ das Taschengeld nicht zu – eine kurze Unterhaltung über ihre Ausbildung, ein Blick auf die Uhr – wir hatten den kompletten Rückweg vor uns, und ein bisschen Zeit im Bootsschuppen sollte ja auch noch bleiben – und dann wagte ich den Satz, der selbst mir zu früh und zu dreist erschien:
»Hast du Lust, mit mir und meinen Freunden noch ein bisschen Spaß zu haben?«
»Du bist verrückt! Warum sollte ich das tun?«
»Weil du auch verrückt bist, Marlies.« Und dann nahm ich den ganzen Mut meiner vierzehn Jahre zusammen, rückte näher an sie heran und schaute ihr direkt in die Augen: »Und weil du dich hier doch ganz mächtig langweilst.«
Sie warf ihren Kopf zurück und lachte...