Vorwort
Unsere erste Route führt uns 57 Stufen durch das Stiegenhaus einer berühmten Wiener Adresse. Mariannengasse 1, neunter Bezirk: Hier wird der geistige Nachlass einer wissenschaftlichen Weltkarriere verwaltet, die ein halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einer der Altbauwohnungen begann. Damals hausten 28 Menschen – Ausgebombte, Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge – in den Zimmern und blickten durch zerborstene Fenster mit Scheiben aus Pappkarton in das Antlitz einer zerbombten Stadt. Eine Frau wohnt noch immer hier: Es ist Elli Frankl, 94, die Witwe des großen Österreichers, an den eine Gedenktafel am Eingang erinnert. Das »Viktor-Frankl-Zentrum« und das »Viktor-Frankl-Museum« sind im ersten Stock des Hauses untergebracht und bewahren dem geistigen Vermächtnis ihres Namensgebers ein sinnvolles Andenken.
Heute sind wir der Besuch der alten Dame. Elli Frankl erwartet uns an der Wohnungstür: »Hereinspaziert, meine Herren! Bitte, schauen Sie sich gern überall um.«
»Frau Frankl, sollen wir die Schuhe …?« »… anlassen, bitte. Ich tu heute noch staubsaugen«, winkt sie ab und freut sich über die Blumen. Diese Verschmitztheit in ihrem Lächeln, diese Leichtigkeit in ihren Bewegungen, die Festigkeit ihrer Stimme lässt die Frau um gut zwei Jahrzehnte jünger wirken. Als sie uns durch all die Räume der weitläufigen Mietwohnung führt, erfasst uns diese besondere Schwingung, die man an geschichtsträchtigen Plätzen spürt: Man ist zum ersten Mal hier und trotzdem kommt einem alles vertraut vor. Andächtig stehen wir in Viktor Frankls Arbeitszimmer mit dem Erker, den er gelegentlich »Halbkreissaal« nannte, weil er hier so viele Gedanken, große Gedanken, zur Welt gebracht hat. Der Schreibtisch, die Wand mit den 29 Ehrendoktoraten renommierter Universitäten, das volle Bücherregal – hier ist noch immer alles so wie immer, das Ambiente, das wir von Fotos kennen, die vom Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten von Wien aus um die Welt gingen.
Elli Frankl bittet uns ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch hat sie Brötchen und Orangenlimonade als »kleinen Imbiss« schön drapiert. Der Philodendron neben der offenen Flügeltür im angrenzenden Durchgangszimmer hat über die Jahrzehnte den Plafond erreicht: »Unser einziges Hochzeitsgeschenk, in einem ganz kleinen Blumentopf«, sagt Frau Frankl über das immergrüne Symbol einer Liebe, die nie zu wachsen aufgehört hat. »Uns hat man hier im Haus ja nicht die Frankls genannt, sondern die siamesischen Zwillinge. Viktor und ich haben alles gemeinsam gemacht. Es war eine wunderbare Ehe, getragen von einer großen Liebe. Eh unglaublich eigentlich, weil bei uns ja alles auf verschiedenen Ebenen war. Angefangen vom Altersunterschied, über die Bildung – Liebe hat ja keinen Intelligenzquotienten.« Ein großer Satz. Frau Frankl bringt die Dinge auf den Punkt, genauso wie ihr Mann es konnte.
Ein bettelarmes Kind aus Wien-Kaisermühlen sei sie gewesen, das ab dem zehnten Lebensjahr immer mehrere Jobs gleichzeitig hatte. »Ich war Klofrau am Wiener Trabrennplatz, habe Taschen geflochten, bis die Finger blutig waren, und in der Mariahilfer Straße Fenster geputzt. Das mach ich heute noch, Fensterputzen, warum auch nicht, wenn ich mich sicher fühle?« »Sie putzen Ihre Fenster auch von außen?« »Sicher, wer denn sonst? Ich steig aufs Fensterbrett und putze. Früher habe ich bei anderen geputzt, jetzt putz ich meinen eigenen Dreck!« Wieder dieses erfrischende Kichern. »Sind Sie gesichert?« »Geh! Ich hätte zwar noch irgendwo ein Seil vom Klettern, aber es ist ja nur der erste Stock, früher war ich auch nie angebunden …«
KLETTERN. Jetzt ist das Stichwort gefallen, dessentwegen wir hier sind und warum uns Elli Frankls Schwiegersohn Franz Vesely den Besuch bei der alten Dame ermöglicht hat. »Ich glaube, ohne das Klettern wäre Viktor nicht am Leben geblieben. Er hat das gebraucht, nach allem, was er erlebt hatte. Es war schön zu sehen, dass er wieder lachen, sich wieder freuen kann. In den Bergen war er ein anderer Mensch. Dort war er glücklich und einfach nur der Viktor. Sonst war er ein gehetzter Mann, der den ganzen Tag hier hinter seinem Schreibtisch gesessen ist und gearbeitet hat«, erzählt sie. Dass sie auch sehr viel gemeinsam geklettert sind, war Teil ihrer Seelenseilschaft. Und ein Geschenk aus Liebe: »Allein wäre ich nie auf die Idee gekommen. Ich konnte mir unter Klettern gar nix vorstellen, ich war nie auf einem Berg, bevor ich ihn kennenlernte. Ich bin ja an der Alten Donau aufgewachsen und war immer nur im Wasser.«
Diese Frau verströmt mit ihren 94 Jahren noch immer den mädchenhaften Charme von wild, frech und wunderbar. »Ihr Mann war Bergführer: Hat er Ihnen erklärt, worauf es beim Klettern ankommt?« »Ja, ja, alles ganz genau. ›Elli, das musst du so machen und das so.‹ Ich war sehr frech und hab gesagt: ›Halt den Mund!‹ Und auch in der Wand habe ich gekeppelt wie nur, die ganze Zeit. Er hat nie in einen Zirkus gehen müssen, den hat er mit mir gehabt. Aber wenn ich oben war – dann war ich jedes Mal stolz. Es war eine schöne Zeit. Kletterer sind besondere Menschen.« Viktor und Elli Frankl haben gemeinsam die Welt gesehen, und die Berge natürlich, die in der Nähe der Metropolen waren, in denen er Vorträge hielt.
Die weise Welt des Viktor Frankl bestand nicht nur aus hoher Geistigkeit. »Es ist schon ein Geschenk, mit einem Mann beisammen zu sein, der nicht nur ein Hirn hat, sondern auch ein Herz«, sagt Elli Frankl, macht eine Pause und fügt hinzu: »Und das hatte Viktor.« Hirn und Herz: Er dozierte an der Eliteuniversität in Harvard und scherzte derb mit Kletterkumpanen nach einer gelungenen Tour. Er dinierte mit Staatschefs und servierte Getränke in der Neuen Seehütte auf der Rax. Er war ein Wissenschaftler von Weltruf und liebte doch die Einfachheit in den Bergen am allermeisten. Viktor Frankl kannte das Leben in all seinen Facetten. Es war ein volles Leben, dessen Zeitlinie sich über mehr als neun Jahrzehnte durch das 20. Jahrhundert und über alle Kontinente der Erde erstreckte. »Der größte noch lebende Österreicher«, hatte Rudolf Kirchschläger, der einstige österreichische Bundespräsident einmal über ihn gesagt – und das war er wohl auch, gemessen an seiner Erfahrung, seiner Lebensleistung und dem, was davon geblieben ist. Die Monarchie, zwei Weltkriege und den Holocaust hat Frankl überlebt, und über die Freiheit des Willens und den Willen zum Sinn für Millionen Menschen Wege zum Sinn des Lebens aufgezeigt.
Dem publizistischen Gesamtwerk mit zahllosen Titeln, die Viktor Frankl gewidmet sind, möchte dieses Buch eine Nahaufnahme aus einer neuen Perspektive hinzufügen. Es geht um seine große Liebe zu den Bergen und zum Klettern – nicht um wissenschaftliche oder therapeutische Interpretationen. Dazu ist schon viel geschrieben worden und dafür gibt es auch Berufenere, wie Professor Elisabeth Lukas, seine berühmte Schülerin, die freundlicherweise einen Beitrag für unser Buch verfasst hat. Dieses Buch ist auch keine Biografie im engeren Sinne, vielmehr haben wir mehrere Stränge miteinander verknüpft, um einen neuen Bezugsrahmen für Viktor Frankls große Passion zu schaffen.
Plateauwanderung: Elli und Viktor Frankl auf ihrem Lieblingsberg, der Rax, 1976.
In den folgenden sieben Kapiteln binden wir uns in eine Seilschaft mit ihm ein, überbrücken Zeit und Raum, steigen durch Felslinien, die er vor vierzig, sechzig oder neunzig Jahren geklettert ist. Wir folgen seinen Spuren in sieben Destinationen – von der Mizzi-Langer-Wand, einem mittlerweile verwaisten Klettergarten im Süden Wiens, bis auf die Große Zinne, dem Herzstück der Dolomiten. Über den gemeinsam berührten Fels, ein denkbar archaisches Speichermedium, und bei langen Wanderungen etwa über sein geliebtes Rax-Plateau haben sich seine Erlebnisse mit unseren verwoben. Große Themen seines Lebens, die verblüffend eng mit den alpinen Orten verbunden sind, haben wir nach Jahren intensiver Beschäftigung mit seinem Werk und Wirken neu erkannt, verstanden und in den sieben Kapiteln zusammengeführt. In seinem biografisch-alpinistischen Nachstieg haben wir Touren gewählt, die ihm wichtig und – jede auf ihre Art – für ihn charakteristisch waren. Im Anhang zu jedem Kapitel gibt es einen kurzen Steckbrief von diesen und weiteren Routen, die zu Frankls Zeit passen.
Über das Klettern sind wir ihm sehr nahe gekommen. Denn die Berge scheinen die Inspiration seiner Besucher über die Äonen zu bewahren und sie jederzeit abrufbereit zu halten für jeden, der sich ihrer Resonanz öffnen will. In dieser gemeinsamen Seilschaft sind wir tiefer in Frankls Leben und Lehre eingestiegen und seinen Sehnsüchten und Träumen gefolgt. Gespräche mit Zeitzeugen, mit seiner Witwe Elli Frankl, mit seinem Freund Giselher Guttmann, mit seinem Enkel Alexander Vesely waren ein wertvoller Beitrag, um das Kolorit seiner Persönlichkeit und seines...