Nach der Matura 1973 stand im Raum, in die Handelsfirma meines 15 Jahre älteren Bruders einzusteigen. Ihm schwebte vor, dass wir zusammen einen Familienbetrieb bilden könnten; er war promovierter Ökonom, daher wäre als Ergänzung von meiner Seite ein Jurastudium passend gewesen. Nach kurzem Abwägen verwarf ich diese in finanzieller Hinsicht verlockende Karriereplanung jedoch: Eine Ausbildung, die in erster Linie einen Bürojob in Aussicht stellte, passte einfach nicht zu mir. Trotz aller Liebe zur Wissenschaft und zur Forschung: Als Jurist, Ökonom oder auch Soziologe würde ich in meinem Leben nicht glücklich werden. Zudem wollte ich mich nicht einfach in ein gemachtes Nest legen. Meine Berufung sah ich vielmehr darin, direkt mit Menschen zu arbeiten, draussen in der Natur – und ebenso wichtig: Etwas Abenteuer sollte mein Arbeitsalltag auch mit sich bringen. Diese Aspekte sah ich am ehesten in einem Medizinstudium erfüllt, das ich mit grossem Enthusiasmus im Wintersemester 1973 an der Universität Zürich begann.
Die Firma meines Bruders spielte für mich trotzdem eine wichtige Rolle, denn hier konnte ich während des Studiums meinen Lebensunterhalt verdienen. Und noch wichtiger: Hier lernte ich schon bald meine spätere Ehefrau Susanne kennen, eine ausgebildete Medizinische Praxisassistentin, die nach einem längeren Italienaufenthalt vorübergehend bei meinem Bruder arbeitete. Hätte ich sie nicht kennengelernt, wäre vieles in meinem Leben anders verlaufen, denn fortan fällte ich alle meine Entscheide in meinem Leben immer gemeinsam mit ihr.
Auf welche Fachrichtung ich mich als angehender Arzt spezialisieren wollte, stand für mich von Beginn des Studiums an fest. Als leidenschaftlicher Kletterer und Berggänger interessierte ich mich dafür, Risiken abzuwägen, Gefahren zu kontrollieren und in Extremsituationen den richtigen Weg zu finden. Daher war mir vom ersten Semester an klar, dass mein medizinisches Terrain nicht der Operationstisch oder das Patientenbett sein würde, sondern die freie Wildbahn.
Die sich damals erst gerade etablierende Notfallmedizin schien mir am ehesten auf den Leib geschnitten: in äusserst kritischen Momenten lebensrettende Entscheide zu fällen und Menschen mit schweren, ja tödlichen Traumata, deren Leben nur noch an einem Faden hängt, mit der richtigen medizinischen Versorgung zurück auf einen stabilen Pfad zu bringen. Das war es, wofür ich mich interessierte. Dazu kam, dass in den 1970er-Jahren dieses medizinische Fachgebiet in einer Pionierphase steckte – und ich das Glück hatte, von wichtigen Wegbereitern der Notfall- und Rettungsmedizin am Universitätsspital Zürich begleitet und gefördert zu werden.
Wegweisend für mich war Professor Georg Hossli (1921–2014), der erste Ordinarius für Anästhesiologie an der Universität Zürich. Der Fricktaler war nicht nur eine Koryphäe auf seinem Gebiet, sondern auch ein ausgezeichneter Lehrer und Instruktor – und als Mensch faszinierend. Seine erste ärztliche Tätigkeit hatte er auf einem schwedischen Frachter als Schiffsarzt ausgeübt. Zurück am Spital erkannte er die Unzulänglichkeiten der Anästhesie und somit auch das Entwicklungspotenzial der Notfallmedizin. Dass heute auf den Dächern von Spitälern Helikopter mit Notfallpatienten landen, ist mitunter sein Verdienst. In harter Aufbauarbeit erkämpfte er sich am Universitätsspital Stellenprozente in diesem Bereich und war dafür verantwortlich, dass Anästhesiologie und Wiederbelebung obligatorische Vorlesungs- und Prüfungsfächer für Medizinstudenten wurden. Schwerpunkte seines Schaffens waren Katastrophenmedizin, Wiederbelebung, Primärversorgung und Transport von Schwerverletzten und akut lebensbedrohlich Erkrankten.
Professor Hossli war während meines Studiums ein wichtiger Motivator und Förderer für mich. Noch vor dem Staatsexamen begann ich 1977 bei ihm am Universitätsspital Zürich (USZ) mit meiner Doktorarbeit über Helikoptereinsätze bei Verkehrsunfällen. Darin begleitete ich eine von ihm initiierte zweijährige Versuchsphase im Kanton Zürich, um das Ambulanzwesen neu zu gestalten. Meine Dissertation war dann die Grundlage für den Entscheid der Gesundheitsdirektorenkonferenz aller Schweizer Kantone, Helikopter auch bei Strassenunfällen einzusetzen.
Wir müssen uns vor Augen halten, dass in dieser Zeit Rettungsmedizin in erster Linie darin bestand, den Verletzten vorsichtig aufzuladen und so schnell als möglich in das nächstliegende Spital zu bringen. Eine Erstversorgung am Unfallort gab es kaum. Das Personal im Ambulanzwagen war für diese Aufgabe nicht speziell geschult. Ausgerückt wurde in der Regel mit jenen Leuten, die gerade Zeit hatten – und war es auch der Spitalgärtner. Das Schicksal der Verunglückten hing also stark von der Kompetenz der ausgerückten Truppe ab. Glücklich durfte sich schätzen, wer eine Krankenschwester im Rettungsteam vorfand, die wenigstens eine Infusion mit schmerzlindernden Mitteln legen konnte. Und was man sich heute kaum noch vorstellen kann: Ärzte waren im Sanitätswagen nicht vorgesehen.
Der Einsatz von Helikoptern bei Verkehrsunfällen, wie er heute Standard ist, brachte nicht nur den Vorteil, auch einen Arzt an die Unfallstelle zu fliegen, sondern den Verletzten sehr schnell in die bestmögliche Intensivstation zu transportieren. Zudem bauchte man mit dem Verunfallten nicht gleich in das nächstgelegene Spital zu fahren, das für das entsprechende Leiden vielleicht gar nicht ausreichend spezialisiert war. Somit konnte die Überlebenschance von Verletzten bei Verkehrsunfällen natürlich erheblich erhöht werden.
Nach dem Staatsexamen 1979 verbrachte ich meine erste Zeit als Assistenzarzt auf der Anästhesieabteilung von Professor Hossli, wo ich mich an diversen Aufbauarbeiten dieses neuen Fachgebiets der Notfallmedizin beteiligen konnte. Der Zufall wollte es, dass sich in unserem Team am USZ eine Reihe bergverrückter Mediziner befand. Dazu gehörte mein Oberarzt Pietro Segantini aus Maloja – ein Enkel des bekannten Malers Giovanni Segantini –, der nicht nur ein leidenschaftlicher Bergler, sondern auch exzellenter Jäger war. Das führte zur unvergesslichen Episode, dass er im Gipszimmer des Universitätsspitals auch einmal einen halben Steinbock zerlegte, um das Fleisch an seine Assistenten zu verteilen. Anfang der 1990er-Jahre baute ich mit Segantini den gebirgsmedizinischen Ärztekurs auf. Sein plötzlicher Tod 1995 war ein grosser Schock für mich, denn er war ein Mann mit guten Ideen, auch wenn andere diese verwirklichen mussten.
Eine andere für mich wichtige Person war Oswald Oelz, der seit 1978 als Oberarzt, später als stellvertretender Klinikdirektor am Universitätsspital war, bevor er als Chefarzt ans Zürcher Stadtspital Triemli wechselte. Seine Spezialität war die Höhenmedizin. Als Extrembergsteiger begleitete er zahlreiche Expeditionen im Himalayagebiet. So war er 1978 bei der Erstbesteigung des Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff als Expeditionsarzt dabei.
Die Spezialisierung der Medizin, die sich damals in vielen Bereichen noch am Anfang befand, betraf nicht nur die Notfallmedizin, sondern ganz besonders auch die Gebirgsmedizin, die im Grunde nichts als eine Verkettung von verschiedenen Fachgebieten ist. Internisten, Physiologen und Sportmediziner waren zuständig für Höhe, Ernährung und Training, Chirurgen und Anästhesisten für Kälte und Versorgung, Ophtalmologen und Dermatologen für Strahlung und ihre Auswirkungen auf die Haut; Allgemeinpraktiker in den Bergtälern waren für praktische Fragen zuständig, Orthopäden für die Verletzungen; Psychiater für Stressbewältigung und Tropenmediziner für Reise- und Expeditionsmedizin. Dazu kamen auch nicht medizinische Gebiete wie die Rettungstechnik. Die Bündelung dieser Fachrichtungen zu einer neuen Disziplin – der Gebirgsmedizin – hatte einen massgeblichen Fortschritt in der Unfallprävention und auch der Betreuung von Bergsteigern zur Folge.
Dass ich mich an der Entwicklung dieses neuen Gebiets zusammen mit erfahrenen Experten am gleichen Spital beteiligen konnte, war für mich eine ideale und sehr spannende Konstellation. Wir erkannten den grossen Bedarf, gebirgsmedizinisches Wissen besser zu vermitteln – schweizweit, aber auch international. Uns schwebte eine Serviceorganisation vor, die den Bergsteigern respektive den Mitgliedern des SAC mit Weiterbildungen und Beratungen zur Verfügung stehen konnte.
Pietro Segantini erhielt vom SAC dann den Auftrag, für den weltweiten Dachverband aller Alpinistenverbände UIAA (Union Internationale des Associations d’Alpinisme) die Gebirgsmedizin zu institutionalisieren. Daraus entstand 1980 die medizinische Kommission aller Alpinistenverbände, die UIAA MedCom. Segantini band mich von Beginn weg in diese Institutionalisierung mit ein. Das war eine grossartige Chance für mich. Wir organisierten internationale Kongresse, die auf weites Echo stiessen. Einer der ersten gebirgsmedizinischen Kongresse fand 1981 in Lugano statt. Die Vorträge dieser...