TECHNISCHE KENNTNISSE UND FERTIGKEITEN • KÖRPERLICHE VORBEREITUNG • MENTALE VORBEREITUNG • URTEILSVERMÖGEN UND ERFAHRUNG • BEWUSSTER UMGANG MIT DER NATUR • NATURSCHUTZ • BERGSTEIGERCODE • DIE FREIHEIT IN DEN BERGEN
Bergsteigen ist vielerlei: das Ersteigen eines Berges, atemberaubende Fernsicht und das unmittelbare Erleben der Natur. Es kann die Erfüllung eines Kindheitstraums sein oder eine Gelegenheit, um an Schwierigkeiten zu wachsen. Berge bieten Abenteuer und Rätsel gleichermaßen. Die Herausforderung des Bergsteigens gibt uns die Möglichkeit, mehr über uns selbst zu lernen, indem wir die Grenzen der modernen Zivilisation hinter uns lassen und mit unseren Kletterpartnern oft lebenslange Beziehungen eingehen.
Der britische Bergsteiger George Leigh Mallory sagte dazu: »Was wir bei diesem Abenteuer gewinnen, ist nichts als Freude.« Natürlich werden Sie auch Risiken und Mühen begegnen, aber trotz der Schwierigkeiten, auf die jeder Bergsteiger irgendwann trifft – oder vielleicht gerade deswegen –, kann das Bergsteigen ein Gefühl der Ruhe und spirituellen Verbundenheit wie sonst kaum eine Tätigkeit vermitteln. Bevor wir allerdings Freude oder Freiheit in den Bergen finden, müssen wir uns auf die Berge vorbereiten, indem wir die notwendigen technischen, körperlichen, mentalen und emotionalen Fertigkeiten erlernen. So, wie das Bergsteigen selbst einen ersten Schritt erfordert, muss jeder auch erste Schritte unternehmen, um ein Bergsteiger zu werden. Und auch wenn man immer weiterlernen kann, solange man in die Berge geht, ist es doch nötig, irgendwo konkret anzufangen. Dieses Buch kann als Leitfaden und Nachschlagewerk dienen, um die nötigen Voraussetzungen zu erwerben – also eine Art Wegweiser zur Freiheit in den Bergen.
TECHNISCHE KENNTNISSE UND FERTIGKEITEN
Um in den Bergen sicher und mit Freude unterwegs sein zu können, brauchen Sie gewisse Fertigkeiten. Sie müssen wissen, welches die beste Kleidung ist, welche Ausrüstung und welche Nahrungsmittel Sie benötigen und wie Sie eine Nacht im Freien heil überstehen. Sie müssen wissen, wie Sie lange Strecken mit dem, was Sie bei sich haben, bewältigen können und wie Sie sich ohne Wege und Wegweiser im Gelände orientieren. Sie benötigen technische Fähigkeiten wie das Sichern (die Handhabung des Seils, um einen Sturz des Seilpartners zu halten) und das Abseilen (die Handhabung des Seils, um vom Berg herunter zu kommen) und Sie müssen die Berge, die Sie besteigen wollen, richtig einschätzen können. Außerdem brauchen Sie je nach Gelände – Fels, Schnee, Eis oder Gletscher – weitere Fertigkeiten. Bergsteiger sind bemüht, das Risiko zu minimieren, keine Bergtour ist je komplett vorhersehbar. Jeder Bergsteiger sollte daher mit Maßnahmen zur Ersten Hilfe im Gelände vertraut sein und eine Bergung durchführen können, um unabhängig zu sein.
KÖRPERLICHE VORBEREITUNG
Bergsteigen ist eine körperlich anspruchsvolle Aktivität. Fast jede Form des Kletterns ist zunehmend athletisch geworden, vor allem in den höheren Schwierigkeitsgraden. Bergsteiger bewältigen heutzutage Dinge, die einst als unmöglich galten. Im Felsklettern, Eisklettern und beim Höhenbergsteigen werden regelmäßig neue Standards gesetzt. Die Grenzen werden dabei nicht nur nach oben, sondern auch nach unten verschoben: Steilste Bergflanken werden heute mit Ski oder Snowboards bewältigt. Beim Klettern sind vor allem die Fortschritte im Eis- und Mixedklettern bemerkenswert (eine Kombination aus Fels und Eis), die sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Auch wenn die meisten Menschen solche Höchstleistungen nur als Zuschauer erleben, führen solche Leistungsentwicklungen doch dazu, dass auch das allgemeine Niveau steigt.
Unabhängig von Ihrem Leistungsniveau und Ihren Ambitionen ist eine gute körperliche Verfassung von entscheidender Bedeutung. Je stärker und fitter Sie sind, desto besser sind Sie für die Herausforderungen des Bergsteigens gewappnet, egal, ob Ihre Tour wie geplant verläuft oder unerwartete Schwierigkeiten auftreten. Sie haben dann auch eine größere Auswahl an möglichen Zielen, und die Chance, dass Sie eine Unternehmung genießen, anstatt sie nur zu ertragen, steigt ebenfalls. Wichtiger noch: Die Sicherheit der gesamten Tour kann von der Stärke – oder Schwäche – eines einzelnen Mitglieds abhängen.
MENTALE VORBEREITUNG
Genauso wichtig wie das körperliche Training ist die mentale Vorbereitung, die häufig über Erfolg oder Scheitern einer Bergtour entscheidet. Die Fähigkeit, einen kühlen, klaren Kopf zu bewahren, hilft bei jeder Entscheidung – sei es, ob man zu Hause bleibt, weil die Wettervorhersage zu schlecht ist, bei einer schwierigen Kletterbewegung oder der Rettung eines verunglückten Seilpartners aus einer Spalte. Bergsteiger müssen positiv, realistisch und ehrlich sich selbst gegenüber sein. Eine »Wird schon werden«-Einstellung kann indes zu gefährlicher Selbstüberschätzung führen, wenn sie nicht mit einer vernünftigen Einschätzung der Situation und der Gegebenheiten einhergeht.
Zahlreiche altgediente Bergsteiger sagen, dass die größten Herausforderungen die Psyche betreffen. Vielleicht macht auch gerade das das Bergsteigen so attraktiv: Während wir die Freiheit in den Bergen suchen, begegnen wir uns selbst.
URTEILSVERMÖGEN UND ERFAHRUNG
Für das Bergsteigen unerlässlich ist die Fähigkeit, Probleme zu lösen und gute Entscheidungen zu treffen. Gesundes Urteilsvermögen – die vielleicht wertvollste Fähigkeit – wird durch die Verbindung von Wissen und Erfahrung gewonnen. Das vorliegende Buch behandelt die Ausrüstung und die technischen Anforderungen vom Anfänger- bis Fortgeschrittenenniveau, aber das Ziel jedes Bergsteigers ist es, das Gelernte einzusetzen, um die oft unvorhersehbaren Situationen im Gebirge zu meistern. Dazu benötigen Bergsteiger vor allem Handlungskompetenz und Problemlösungsfähigkeiten, um mit äußeren Faktoren wie widrigem Wetter, langen Marschstrecken und Bergunfällen ebenso fertigzuwerden wie mit internen Faktoren wie Angst, Erschöpfung und Euphorie. Indem sie mit fordernden Situationen umgehen, lernen Bergsteiger, bessere Entscheidungen zu treffen, ihr Urteilsvermögen zu schärfen und ihren Erfahrungsschatz zu erweitern, was ihnen in der Zukunft weiterhilft. Beim Bergsteigen treten jedenfalls viele ungewohnte Situationen auf, die eine sorgfältige Einschätzung und keine routinemäßigen Standardreaktionen erfordern. Auch wenn wir frühere Erfahrungen als Basis für künftige Entscheidungen nutzen können, werden wir doch nie zweimal die exakt gleiche Situation in den Bergen erleben. Diese Ungewissheit kann selbstverständlich Angst machen; sie macht aber auch den Reiz und die Herausforderung des Bergsteigens aus.
In vielen Situationen geht es um Risiko, Herausforderung und Leistung. Schon 1957 schrieb Helen Keller in ihrem Buch The Open Door sinngemäß: »Sicherheit ist meist ein Aberglaube. Weder gibt es Sicherheit in der Natur noch erleben die Menschen sie insgesamt. Gefahr zu vermeiden, ist langfristig nicht sicherer, als sich der Gefahr gut vorbereitet auszusetzen. Das ganze Leben ist entweder ein großartiges Abenteuer – oder nichts.«
BEWUSSTER UMGANG MIT DER NATUR
Die in diesem Buch vorgestellten bergsteigerischen Fertigkeiten sind Werkzeuge, die es Ihnen erlauben, abgelegene Regionen der Welt aufzusuchen und zu genießen. Aber denken Sie daran, dass die Schönheit der Wildnis durch immer mehr Besucher an Reiz verliert – indem die Landschaft von Menschen geprägt und damit immer weniger natürlich wird. Die Menschen konsumieren die Natur regelrecht, und das beängstigend schnell; sie nutzen, verwalten und verändern sie nachhaltig. Aus diesem Grund haben viele Outdoor-Gruppen, zum Beispiel The Mountaineers, eine Reihe von Grundsätzen und ethischen Richtlinien aufgestellt, die als Leave No Trace (hinterlasse keine Spuren) bekannt sind.
Berge schulden den Bergsteigern nichts und sie können auch gut auf sie verzichten. Hudson Stuck, ein Teilnehmer des Erstbesteigerteams des Denali (früher Mount McKinley), schilderte diese Einstellung eindringlich in seinem Buch The Ascent of Denali: Die Gipfelmannschaft hatte das Gefühl, »eine privilegierte Verbindung mit den höchsten Höhen der Welt« zu genießen. Alle Bergsteiger, die in der Natur unterwegs sind, sollten es als Ausgleich für dieses Privileg als ihre Mindestaufgabe ansehen, die Berge so zurückzulassen, wie sie sie vorgefunden haben; ohne Spuren zu hinterlassen.
NATURSCHUTZ
Die Vorzüge, die Bergsteigern in der Natur zuteilwerden, bringen die Verantwortung mit sich, nicht nur keine Spuren zu hinterlassen, sondern auch dabei zu helfen, die von ihnen geliebte Umgebung zu erhalten. Zum Bergsteigen gehören heutzutage zum Beispiel Berechtigungsscheine, die den Andrang auf einen bestimmten Gipfel oder eine Region beschränken; dazu gehören ebenfalls Renaturierungsprojekte, gesetzliche Vorschriften, Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, die Sperrung von Straßen, Wegen und sogar kompletten Bergregionen. Zusätzlich zur Notwendigkeit, im Gebirge wachsam zu sein und sich umweltschonend zu verhalten, sollten Bergsteiger sich stark machen für den Naturschutz sowie den sinnvollen Zugang zu und Umgang mit unerforschten Landschaften....