Kapitel 2.3, Religiosität
„Als Christen stehen Polen und Deutsche angesichts neuer gesellschaftlicher Entwicklungen insbesondere im Hinblick auf den Schutz des Lebens, der Ehe und der Familie vor großen Herausforderungen“ (Gemeinsame Erklärung der deutschen Bischofskonferenz und der polnischen Bischofskonferenz aus Anlass des 40. Jahrestages des Briefswechsels von 1965, Karl Kardinal Lehmann Erzbischof, Bischof von Mainz, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Josef Michalik, Metropolit von Przemyoel, Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz).
Um festzustellen, ob und in welchem Maße die Lebensplanung von jungen Frauen in Deutschland und Polen von ihren religiösen Einstellungen beeinflusst wird, ist es notwendig, in einem ersten Schritt die unterschiedlichen Dimensionen von Religiosität herauszuarbeiten. Drei Dimensionen, erarbeitet durch Pickel, erscheinen in diesem Zusammenhang relevant: Annerkennung der Institution Kirche, die kirchliche Integration der Einzelpersonen und die subjektive Religiosität. Zusätzlich wird zur Dimension der Annerkennung der Kirche die Rolle des Papstes betrachtet. Mit diesen Dimensionen soll versucht werden, eine Verbindung zwischen dem institutionalisierten Bereich, den die Institution Kirche darstellt und dem individualisierten Bereich, welcher die persönliche Gestaltung von Religion beschreibt, herzustellen, um Religiosität im Ganzen betrachten zu können. Diese Dimensionen werden auch in Kapitel 4.2. übernommen, um die Aussagen zur Religiosität auszuwerten.
Anerkennung der Institution Kirche:
Die Institution Kirche hat in Polen in der Vergangenheit häufig die Bedeutung von Religion und Glauben in der Bevölkerung beeinflusst. Gerade durch positive Erfahrungen mit der Kirche zu Zeiten des Umbruchs 1989 war das Vertrauen zu ihr sehr hoch. Mittlerweile unterliegen allerdings die Religion und der Glaube einer Individualisierung, gerade wenn es sich um die Akzeptanz moralischer Werte handelt. Aufgrund der Individualisierung der Religion sinkt das Vertrauen in die Institution Kirche, die noch immer an traditionellen Ansichten festhält. Während in der Zeit des Umbruchs 1989 das Vertrauen seinen Höhepunkt von ca. 88% hatte, sank es 1994 auf ca. 40%.
Auch wenn in Deutschland, Ost- sowie Westdeutschland, kirchliche Feste, wie zum Beispiel die Kommunion oder Konfirmation, weiterhin bei der Mehrheit der Bevölkerung gefeiert werden, ist das Verhältnis zu der Kirche distanziert.
Als Indikator für die Anerkennung der Institution Kirche kann ebenfalls die Bedeutung des Papstes für die polnische und deutsche katholische Bevölkerung herangezogen werden. In Bezug auf Polen ist es elementar, auf die Rolle des Papstes einzugehen. Gerade die starke emotionale Verehrung Papst Johannes Paul II. durch die Bevölkerung in Polen muss beachtet werden. Brandys, ein polnischer Schriftsteller und Essayist, publizierte zum 1. Besuch des Papstes in Polen 1979 folgendes: „(…) Der Heilige Vater im Himmel über Warschau schwebend, ein polnischer Papst, der aus den Wolken herabsteigt direkt ins Herz der Hauptstadt (…)“. Lenschen gibt die Haltung der Bevölkerung wieder, indem er anmerkt, dass Papst Johannes Paul II. den Menschen in Polen neues Selbstbewusstsein und Mut eingab. Unter dem Aspekt, dass er der erste polnische Papst in der Geschichte war, sorgte er Lenschens Ansicht nach für eine Aufwertung Polens (ebd.). Gerade die Rolle von Johannes Paul II. als Mittler zwischen Regierung und Gesellschaft während der Zeit des Umbruchs 1989 förderte die Treue zum Papst und ist auch der jüngeren Generation noch im Gedächtnis geblieben. Der Tod des polnischen Papstes im Jahr 2005 war für die Mehrheit der polnischen Bevölkerung ein furchtbares Ereignis. Die Einflussnahme des Pontifikats des deutschen Papstes Benedikt XVI. in Hinblick auf die Religiosität in Deutschland, aber auch in Polen, bleibt abzuwarten.
Die kirchliche Integration der Einzelpersonen:
Wird der Kirchgang als Indikator für religiöse Integration betrachtet, kann man erkennen, dass in Polen, wo der Katholizismus stark ausgeprägt ist und die Tradition der katholischen Kirche eine starke Bindung an Religion und Kirche fördert, die kirchliche Integration weitaus höher ist als in Deutschland. Dies lässt sich auch auf den stärker verpflichtenden Charakter der katholischen Kirchenregularien zurückführen. 1998 gingen 54% der Bevölkerung regelmäßig in die Kirche. Jopek sieht das Bekenntnis zum Glauben und zu religiösen Praktiken als stabil an (ebd.). Gerade wenn es um gesellschaftspolitische Fragen geht, hat die Religion auch heute noch Einfluss auf die Bevölkerung. Durch den Besuch des Papstes 1987 in Polen wurde der Glaube der Bevölkerung gestärkt und die kirchliche Integration nahm nach einem Abwärtstrend wieder zu. Gerade in der Zeit des Umbruchs gewann die Kirche an Vertrauen und die Zahlen der Gottesdienstbesucher stiegen an.
Pickel beschreibt für Deutschland, West- sowie Ostdeutschland, einen Trend zum Rückgang der kirchlichen Integration. Der Kirchgang wird nur noch sporadisch ausgeführt. 26% der katholischen und 7% der evangelischen Gläubigen besuchen regelmäßig die Kirche. Dennoch ist das Verhältnis der Mehrheit der Kirchenmitglieder zu kirchlichen Riten wie Taufe oder kirchliche Bestattung positiv.
Die kirchliche Integration ist in einem eher gemischt konfessionellen Land wie Westdeutschland durchschnittlich ausgeprägt. Der Anteil der evangelischen Christen ist in etwa so hoch wie der der katholischen Christen. Meulemann führt aus, dass 2002 32% der westdeutschen Bevölkerung nie den Gottesdienst besuchten und dass der Anteil in Ostdeutschland 65% beträgt. Die gering ausgeprägte kirchliche Integration im Osten Deutschlands lässt sich ebenso durch die erzwungene Säkularisierung in der Zeit des Sozialismus erklären, wie durch das Unvermögen der Kirchen, die Mitglieder zu einer höheren Beteiligung am gottesdienstlichen Leben zu motivieren und sie dadurch enger an zentrale Inhalte des christlichen Glaubens zu binden.
Die subjektive Religiosität:
Wird der Glaube und die persönliche Religiosität betrachtet, erkennt man in Polen eine überwiegend gläubige Bevölkerung. Laut Untersuchungen von Zulehner/Deutz schätzen sich 95% der Polen als religiös ein. Mittlerweile ist in Polen eine Individualisierung von Religion zu beobachten. Auch wenn die Anzahl des sonntäglichen Kirchgangs weiterhin stabil ist, werden die Gebote der Kirche nicht unbedingt angenommen. Die Akzeptanz für christliche Moralvorstellungen ist gesunken. Die traditionellen Einstellungen der Kirche gegenüber modernen Entwicklungen werden von den Bürgern eher kritisch wahrgenommen. Eine Untersuchung im Jahr 1990/91 zeigt, dass die Mehrheit der polnischen Bevölkerung die Ansicht vertritt, dass die Kirche Antwort geben kann (und soll) auf Fragen bezüglich des Lebenssinns (ca. 80%), der Familie (ca. 70%) und der Moral (ca. 76%). Doch eine Studie aus dem Jahr 1994 belegt durch die Meinungsmehrheit der befragten Personen, dass der Mensch seine Entscheidungen selbständig treffen und sich nicht zu sehr von den Geboten der Kirche leiten lassen sollte. In Fragen der Moral, wie Abtreibung oder Scheidung, und in religiösen Fragen, wie die Art der Glaubensausübung, wird eine Verschiebung und Individualisierung deutlich.
Untersuchungen von Pickel zur Gläubigkeit in Deutschland ergaben, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik innerhalb Gesamteuropas durchschnittlich gläubig zu nennen ist. 65% der Bevölkerung Westdeutschlands schätzt sich als „subjektiv religiös“ ein In Ostdeutschland ist die subjektive Religiosität nur schwach ausgeprägt, der Anteil liegt hier bei 37%.
Zusammenfassend ist für Deutschland zu sagen, dass die Dimension der subjektiven Religiosität höher ist als die der kirchlichen Religiosität.