2. Die Systemtheorie der Gesellschaft
2.1 Kosmos oder Phrase - der Romananfang und die Begriffe Selektion,
Komplexitätsreduktion und Kontingenz
Um ein grundlegendes Verständnis der theoretischen Prämissen dieser Arbeit zu vermitteln, müssen bei der Breite und Verwobenheit der systemtheoretischen Begrifflichkeit auf sehr abstraktem Niveau sehr umfassende Zusammenhänge dargestellt und sehr voraussetzungsvolle Begriffe erklärt werden. Hinzu kommt, daß im Rahmen dieser Arbeit nur sehr wenig Raum zur Erörterung der Systemtheorie vorhanden ist. Die Abstraktheit und die stark verkürzte Form der Darstellung tragen in sich die Gefahr, wenn auch nicht den Leser zu überfordern, so zumindest seine Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Gegenstand dieser Arbeit zu entfernen - Musils Roman. Aus diesen Gründen wird die Darstellung der Theorie von zwei ausschnitthaften Interpretationen des ersten Kapitels des MoE eingerahmt. Methodisch soll so in einem ersten, der nachfolgenden Analyse vorgreifenden Schritt eine Bespiegelung zwischen Aspekten des Romans und der Theorie vorgenommen werden. Die Interpretation des ersten Absatzes des Romans führt dabei über die Problematisierung der Wirklichkeitsdarstellung im Roman in den Wirklichkeitsbegriff der Systemtheorie ein. Von hier ausgehend kann darauf die Systemtheorie der modernen Gesellschaft vorgestellt werden. Die Probleme der Semantik, die sowohl die Gesellschaft als Ganzes, als auch das Individuum betreffen, können anschließend mit Überlegungen zum Schluß des ersten Kapitels den Blick zurück auf Musils Roman lenken.
Musils Roman beginnt in einer paradoxen Form - am Anfang des Romans wird die Unmöglichkeit abgebildet, den Roman zu beginnen, eine eindeutige romanimmanente Wirklichkeit zu entwerfen. Am Anfang des in Endlosigkeit mündenden Romanfragments steht seine Anfangslosigkeit. Bedingt wird die Anfangslosigkeit durch das Einströmen scheinbar unendlicher Komplexität.
Ein ironischer, pseudo-metereologischer Diskurs zu Beginn des ersten Kapitels versucht in kosmologischer Dimension zu erschließen, was in der traditionellen Erzählweise mit „Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913“ immerhin „recht gut bezeichnet“(9) wird. Diese einleitende Passage ist eine wechselseitige Bespiegelung sowohl eines wissenschaftlichen, als auch eines literarischen Diskurses. Zum einen zeigt sie, daß die unproblematische „etwas altmodische“ Erzählweise immer eine bewußte Ausschaltung von Umständen bedeutet, die bei der Darstellung von Wirklichkeit aber - besonders unter Berücksichtigung des der modernen Gesellschaft zur Verfügung stehenden Wissens - nicht fehlen dürften. In dieser Perspektive ist ein „schöner Tag“ nicht nur in einer vagen, auf die Empfindung und das Alltagsverständnis des Lesers anspielenden Phrase abzubilden, sondern in einer zusammengesetzten Form aus wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Faktoren, die einen schönen Tag erst zu einem schönen Tag machen. Der wissenschaftliche Diskurs wird, so scheint es zunächst, in seiner auf Erklärung der Erscheinungen abzielenden Funktion der Komplexität der Realität eher gerecht als das naive Erzählen.
Zum anderen wird aber dieser Anspruch des wissenschaftlichen Diskurses gerade in der Konfrontation mit dem einfachen, konventionellen Satzmuster relativiert. Der Erzähler subjektiviert die physikalischen Wetterbestimmungen und behandelt sie wie Akteure - „ein barometrisches Minimum (...) wanderte ostwärts (...) und verriet noch nicht die Neigung, (einem Maximum) auszuweichen.“ (9) Der wissenschaftliche Diskurs wird so ironisch gebrochen und erscheint bei genauem Lesen als bloßes Ausfüllen der gewöhnlichen Erzählform mit ungewöhnlichem Inhalt. Der Versuch, die Geschehnisse des Romans vor dem Hintergrund kosmologischer Faktoren - „Auf - und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturns und viele andere bedeutsame Erscheinungen“(9) - in eine erzählerische Ordnung zu bringen, offenbart in der Form der Selbstironie seine Vergeblichkeit. Die Einbeziehung kosmologischen Wissens kann nur zur grenzenlosen und daher unbestimmten Reflexion über die äußeren Umstände einer Romanhandlung führen. Die Komplexität, die der wissenschaftliche Diskurs zur Anschauung bringen möchte, entgleitet ihm. Einigen konkreten Angaben über die Gestirne des Alls folgt der Ausblick auf „viele andere bedeutsame Erscheinungen“, die von der Darstellung nicht mehr eingeholt werden können. „Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913“ ist in dieser Hinsicht nicht eine Schrumpfform des Erzählens, sondern in ihrer Beschränktheit und Selektivität die Bedingung der Möglichkeit eines Anfangs.
Für den MoE ergibt sich aus der Konfrontation dieser Diskurse keine für die Fiktion verbindliche Realität; zwischen „Isothermen und Isotheren“(9) und dem schönen Augusttag wird einzig die formale Problematik literarischer Wirklichkeitskonstruktion sichtbar.
Musil hat mit seinem Romananfang in der Form ironischer literarischer Selbstreflexion dabei genau jenen Mechanismus problematisiert, der in Luhmanns Theorie sozialer Systeme eine zentrale Stellung einnimmt - die Reduktion von Komplexität durch Selektion. Der Vorgang des Erzählens bedeutet immer eine Auswahl aus dem zu Erzählenden, eine Reduktion des Geschehens, um einen eigenen Zusammenhang des Textes zu etablieren[6].
Wirklichkeit erschließt sich auf diese Weise jeweils nur in einer bestimmten Perspektive, die nicht alles, was der Fall ist, berücksichtigen kann, sondern sich für Bestimmtes entscheidet und anderes ausschließt. Durch die Vervielfachung der Perspektiven kann dieses Grundprinzip nicht aufgehoben werden. Das „dekonstruierende Spiel mit den Konstruktionen des Sinns“(BÖHME 1986: 23) führt zu der Einsicht in die Perspektivität der Wirklichkeit. Das, was als Wirklichkeit erscheint, ist nicht substantielle Realität, sondern Wirklichkeit unter der Bedingung der Selektion und damit der Kontingenz.
„Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (...) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist.“ (LUHMANN 1993: 152)
2.2 Die Differenz von System und Umwelt und der Wirklichkeitsbegriff der
2.3 Systemtheorie
Reduktion von Komplexität und Selektion sind die Vorgänge, die nach Luhmann bei der Konstitution und beim Erhalt von Systemen wirksam sind. Systeme bilden sich immer in einer Umwelt, deren Komplexität prinzipiell größer ist, als die des Systems. Zum Aufbau systemeigener Komplexität muß das System die Komplexität der Umwelt durch Selektion seiner eigenen Elemente reduzieren (Vgl. LUHMANN 1993: 43f.)[7]. Das System bildet einen Selektionskontext, d.h. daß unter den Bedingungen seiner reduzierten Komplexität innerhalb seiner Grenze nur noch bestimmte Selektionen möglich sind (Vgl. BARALDI 1998: 171). Selektionen sind hierbei immer kontingent und mit Risiko verbunden. Hierin liegt ein Verweis auf die immer mitpräsente „Möglichkeit des Verfehlens der günstigsten Formung“ (LUHMANN 1993: 47).
Die Umwelt, aus der das System seine Elemente selektiert, ist dabei immer nur Umwelt für ein bestimmtes System. Systeme sind emergente Ordnungen[8], die unvorherbestimmt entstehen und mit ihrem „Auftauchen“ gleichzeitig ihre Umwelt „mitproduzieren“. Die Differenz zwischen System und Umwelt ist konstitutiv sowohl für das System, als auch für seine Umwelt[9]. Das System erhält seine Identität nur in Form dieser Differenz.
Diese Spezifik der Systemkonstitution führt dazu, daß das, was als Welt oder Wirklichkeit zu bezeichnen wäre, für jedes System etwas anderes ist, da für jedes System sich die Wirklichkeit jeweils als Differenz zwischen System und Umwelt darstellt - als der Gesamtheit alles Bestehenden, ausgenommen es selbst. Welt wird in der Theorie Luhmanns zum Horizont, in dem sich das, was vom System aus sich als Welt zeigt, nur als Differenz zeigt. Welt wird nur durch das Setzen der Differenz sichtbar und bleibt dadurch gleichzeitig unsichtbar. Jede Beobachtung zerteilt die Welt in einen bestimmten und einen unbestimmten Teil[10]. In der Systemtheorie wird der Perspektivismus, der stilistisch den Romananfang prägt, als ein grundlegendes, theoretisches Wirklichkeitsverständnis etabliert, das sich an der Differenz von System und Umwelt orientiert. Ein einheitliches Realitätskonzept wird von der Systemtheorie durch die Annahme aufgegeben, daß sich den einzelnen Systemen Wirklichkeit nur unter den Maßgaben ihrer eigenen Systemoperationen erschließt - so wie sich dem Auge verschiedene Lichtwellen der Umwelt nur in der Form unterschiedlich starker Nervenreize mitteilen. Der Anfang des MoE problematisiert die Möglichkeit mimetischer Abbildung der Wirklichkeit in der Form des Textes und zeigt einen Prozeß des Ver-Wirklichens, des Sichtbarmachens der Realitätskostruktion im Akt des Schreibens. Für die konstruktivistische Systemtheorie ist dieser Zusammenhang nicht ein...