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Besinnung in flexiblen Zeiten

Leibliche Perspektiven auf postmoderne Arbeit

AutorJörg Schröder
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl278 Seiten
ISBN9783531918662
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,99 EUR
Merkmale und Beweggründe eines 'flexiblen Menschen' herauszufinden hatte von Beginn meines Entschlusses, darüber zu promovieren, (anfangs unbewusst, später bewusster) auch mit mir selbst zu tun, mit meinem eigenen nomadischen Lebensweg über viele Städte und Dörfer der Bundesrepublik. Eingeflossen sind Wertvorstellungen und Erfahrungen meiner Eltern, Margot und Wolfgang Schröder, aus ihrer eigenen Geschichte als aktive Mitstreiter in der Arbeiter- wegung in beiden deutschen Staaten, ebenso wie Denkanstöße von Wolf und Frigga Haug, sich die herrschende Wirklichkeit über die 'Philosophie der Praxis' von Marx zu erschließen. In Projekten zur Humanisierung des Arbeitslebens bei der IG Metall und als gewerkschaftlicher Technologieberater lernte ich, wie die Arbeitenden zwar die Herausforderungen moderner Technik souverän bewält- ten, gleichzeitig aber mit sich selbst mehr oder weniger unachtsam umgingen. Einer wichtigen Voraussetzung für einen anderen Umgang mit sich selbst konnte ich dann im Studium der Motologie in der Begegnung mit der Leibphänome- logie 'am eigenen Leibe' auf die Spur kommen: über die subjektive Wahrn- mung und über das Erleben meiner selbst, über die Wertschätzung des eigenen Empfindens und der eigenen Lebensgeschichte. Jürgen Seewald als Leiter des Aufbaustudiengangs Motologie in Erfurt, als Kollege im dortigen Lehrteam Motologie und als 'Doktorvater' der Dissertation sowie Fritz Reheis als Wissenschaftler und guter Freund, der mir mindestens 5 mal sein Haus in Rödental als Klausurstätte in der intensiven Schlussphase der Arbeit zur Verfügung stellte und mich wissenschaftlich 'coachte', waren e- scheidende Wegbereiter für den erfolgreichen Abschluss der Arbeit.

Jörg Schröder, Dr. phil., Diplom-Motologe, ist im Leitungsteam der Kooperationsstelle Wissenschaft & Arbeitswelt Darmstadt und selbständiger Dozent für Psychomotorik und Bewegungspädagogik.

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Leseprobe
Einleitung (S. 13)

0.1 Problemstellung

Ökonomie und Arbeit befinden sich gegenwärtig in einem tief greifenden Umbruchprozess. „Flexibilität“ scheint das Zauberwort und Allheilmittel zu sein, das helfen soll, die ökonomischen Probleme unserer Zeit zu bewältigen. Flexibilität gilt heute als die Schlüsselqualifikation schlechthin und gehört zum Anforderungsprofil von Individuen ebenso wie von Organisationen und Institutionen.

Zu beobachten ist, dass durch dynamische und offene Formen der Betriebs- und Arbeitsorganisation im Produktions- und Dienstleistungsbereich Arbeit und mit ihr die menschliche Arbeitskraft zunehmend flexibilisiert und entgrenzt wird. Für die Arbeitskräfte wird Flexibilität als Subjektqualität gefordert, die im „flexiblen Menschen“ (Sennett) ihren Ausdruck findet.

Die mit neuen betrieblichen Strategien verbundene Tendenz, Arbeitsprozesse "autonomer" gestalten zu lassen, und die komplementär dazu wachsende "Subjektivierung" von Arbeit erweisen sich als paradoxe Prozesse mit höchst ambivalenten Folgen für die Arbeitskräfte: Von den Mitarbeiter/inne/n wird erwartet, zeitlich und örtlich disponibel und mobil zu sein, „eigensinnig und zugleich anpassungsfähig, freigeistig und zugleich höchst loyal, grenzenlos kreativ und zugleich an maximaler Effizienz orientiert" (Engelmann 2001, 42).

Gilt für den klassischen Lohnarbeiter noch die strikte Trennung von Arbeitszeit und Freizeit, von Arbeitsplatz und privatem Raum, so ist der flexible Berufstätige immer und überall „auf Arbeit“: Arbeit und Existenz werden deckungsgleich, und zwar im Sinne einer „Verbetrieblichung der Lebensführung“ (vgl. Jurczyk, Voß, 2000, 185).

Mit der Übertragung unternehmerischer Funktionen auf die Arbeitnehmer manifestieren sich verschiedene widersprüchliche Entwicklungen: die neuen Managementstrategien scheinen dem im Gefolge der 68er Bewegung des vergangenen Jahrhunderts gewachsenen Anspruch der Subjekte nach Selbstverwirklichung entgegenzukommen: es bestehen mehr Möglichkeiten als je zuvor, die eigene Berufstätigkeit autonom zu gestalten, über die eigene Zeit zu verfügen, um Kontext und Bedeutung der eigenen Tätigkeit zu wissen und seine Persönlichkeit in der Arbeit zu entwickeln.

Allerdings erzeugen diese Strategien gleichzeitig einen paradoxen Druck: „Ansprüche, die die Subjekte zuvor herausgebildet hatten, als sie ihr Leben als einen experimentellen Prozess der Selbstfindung zu interpretieren begannen, kehren nun in diffuser Weise als äußere Anforderungen an sie zurück, so dass sie verdeckt oder offen zu einem steten Offenhalten ihrer biografischen Entscheidungen und Ziele angehalten werden“ (Honneth 2002, 155).

Auch die arbeitswissenschaftliche These „je größer Handlungsspielraum und Autonomie, desto größer Arbeitszufriedenheit und Gesundheit“ (Karasek / Theorell 1990) scheint sich bezogen auf Gesundheit in ihr Gegenteil zu verkehren: so sind die involvierten Berufstätigen zwar zufriedener und haben mehr Spaß an der Arbeit als im „Kommandosystem“ (Glissmann), gleichzeitig belastet sie die Arbeit gesundheitlich mehr als vorher, oft in Formen des sozialen Leidens unterhalb der sichtbaren Schwelle.

Mit dem Flexibilisierungsgebot unter der Prämisse der schnellstmöglichen Marktanpassung werden Traditionen und Routinen entwertet und eigenes Handeln auf kurze Zeithorizonte bezogen. Beharrungsvermögen und Erfahrungswissen gelten als unnötiger Ballast. Es ist eher rational, sich nicht festzulegen und langfristige Bindungen und Verpflichtungen möglichst zu vermeiden. Die Entwicklungsaufgabe des Einzelnen besteht nicht mehr darin, eine stabile, sondern eine flexible Identität auszubilden, die zukünftige Optionen offen hält.

Die zu schaffende Arbeit wird intensiver und beansprucht darüber hinaus immer mehr von der (Frei-)Zeit, die (zumindest unter traditionellen Arbeitsbedingungen) der eigenen Reproduktion vorbehalten war. Indem Privates in die betriebliche Sphäre und Betriebliches in die private Sphäre einfließt, werden paradoxe Erfahrungen gemacht. Gegensätzliche Wertvorstellungen wie z.B. "Kurzfristigkeit" vs. "Zeit für Beziehungen" können von vielen Erwerbstätigen oft nur schwer miteinander in Einklang gebracht werden.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis5
Vorwort11
Einleitung13
0.1 Problemstellung13
0.2 Erkenntnisinteresse und Aufbau15
I. Die Flexibilisierung von Arbeit20
I.1 Typisierung20
I.2 Vom geregelten zum flexiblen Menschen22
I.2.1 Veränderte Produktionskonzepte22
I.2.2 Flexibilität25
I.2.3 Neue Arbeitsverhältnisse30
I.2.4 „Indirekte Steuerung“31
I.2.5 Ein neuer Leittypus: unternehmerisch denkende Arbeitnehmer32
I.2.6 Das prekäre Ziel der Balance von Arbeit und Leben35
I.2.7 Gesundheitsrisiken der Beschäftigten37
1.2.8 Fazit38
I.3 Sinnhorizonte menschlicher Arbeit39
I.3.1 Arbeit als Umgestaltung der Natur39
I.3.2 Menschliche Arbeitskraft als Ware42
I.3.3 Der arbeitende Mensch als Warenverkäufer43
I.3.4 Arbeit und zweckrationales Handeln45
I.3.5 Arbeit und die Instrumentalisierung des Körpers46
I.3.6 Subjektivierung von Arbeit48
I.3.7 Arbeit und Sinn58
I.3.8 Modelle „guter Arbeit“62
I.3.9 Fazit64
I.4 Fremdbestimmung und Autonomie in der Arbeit65
I.4.1 Unterdrückung, Unterwerfung und Entfaltung67
1.4.2 Subjektivierende Unterwerfung68
1.4.3 Macht, Unterwerfung und Entfaltung im Arbeitsprozess69
1.4.5 Macht als Vielfalt von Kräfteverhältnissen73
1.5 Selbstoptimierung und Selbstsorge als Selbsttechnologien75
1.5.1 Körper als Medium der Selbsterfahrung: Body Consciousness77
1.5.2 Körper als Medium der Selbstführung: Fitness79
1.5.3 Körper als Medium der Selbstsorge: Wellness80
1.5.4 Fazit82
II. Der "flexible Mensch": Sozialcharakter und Persönlichkeit85
II.1 Gewöhnung als Einverleibung85
II.1.1 Das Konzept des „Habitus“86
II.1.2 Der soziale Sinn88
II.1.3 Die Einleibung des Außen89
II.1.4 Veränderung des Habitus92
II.1.5 Fazit94
II.2 Der beschleunigte Mensch94
II.2.1 Zeitlichkeit und Charakter95
II.2.2 Der Akzelerationszirkel und das situative Ich97
II.2.3 Vom „Rasenden Stillstand“ zur Fortsetzung der Evolution101
II.2.4 Fazit102
II.3 Zum Selbstverständnis postmoderner Menschen103
II.3.1 Der „Gesellschaftscharakter" von Individuen104
II.3.2 Das Menschenbild bei Fromm104
II.3.3 Die postmoderne Ich-Orientierung106
II.3.4 Fazit115
II.4 Die aktuelle Identitätsdebatte117
II.4.1Das Kernselbst117
II.4.2 Ich-Identität als steuerndes Zentrum120
II.4.3Die traditionelle Identität in der Krise121
II.4.4 Persönlichkeit ohne Kern123
II.4.5 Identität als "leeres Selbst"124
II.4.6 Multiple Identitäten125
II.4.7 Identität als Netzknoten - das relationale Selbst126
II.4.8 Identität als Patchwork128
II.4.9 Fazit129
III. Flexibilität und Gesundheit131
III.1 Gesundheit und Krankheit131
III.1.1 Zur Geschichte der Diskurse132
III.1.2 Personenbezogene Ansätze136
III.1.3 Gesellschafts- und kulturbezogene Ansätze144
III.1.4 Integrative Ansätze147
III.1.5 Fazit161
III.2 Postmoderne Arbeitswelt und Depression162
III.2.1 Das Phänomen Depression163
III.2.2 Erklärungsansätze164
III.2.3 Fazit172
III.3 Gesundheitsschutz und -förderung des flexiblen Menschen173
III.3.1 Arbeitsbelastung/ Arbeitsbeanspruchung173
III.3.2 Der Workability-Index (WAI)175
II.3.3 Arbeitsschutz177
III.3.4 Betriebliche Gesundheitsförderung178
III.3.5 Neue Herausforderungen betrieblicher Gesundheitspolitik181
III.3.6 Lebensweltorientierte Primärprävention182
III.3.6 Fazit187
IV. Zu einem leiborientierten Umgang mit Flexibilität189
IV.1 Leibphänomenologische Zugänge189
IV.1.1 Die phänomenologische Haltung190
IV.1.2 Leiblichkeit als Basis des Weltbezugs191
IV.1.3 Zwischenleiblichkeit - Medium der Sozialität194
IV.1.4 Leib und Zeit204
IV.1.5 Leibsubjekt und Identität212
IV.1.6 Macht und Handlungsfreiheit224
IV.1.7 Fazit234
IV.2 Umrisse eines Konzepts zur Besinnung in flexiblen Zeiten236
IV.2.1 Leibliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit237
IV.2.2 Bedingungen einer gesundheitsförderlichen Arbeitskultur241
IV.2.3 Situationen leiborientierter Interventionen241
Literatur260

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