Einleitung
Bibliodrama ist ein gemeinschaftlich inszenierter, spielerischer Zugang zu biblischen Texten. Vor gut dreißig Jahren ist das Bibliodrama vorwiegend im evangelischen Bereich in Deutschland entstanden. Zu dieser Zeit – Anfang der 1980er Jahre – experimentierten an unterschiedlichen Orten Frauen und Männer mit Formen der Dramaturgie, bei denen mittels Rollenidentifikationen und wechselseitiger Interaktionsformen biblische Inhalte in Szene gesetzt wurden. Im Rahmen dieser Experimente entdeckte man, dass solche Inszenierungsvarianten einerseits den Teilnehmenden Selbsterfahrungsprozesse ermöglichen andererseits dabei die biblischen Texte eine neue Form der Auslegung erfahren. Diese experimentellen Varianten der Anfänge waren methodenplural angelegt und erforderten unterschiedliche Expertisen. Bibliodrama wurde so zunehmend auch zu einer disziplinübergreifenden Bewegung, die exegetische, pädagogische, psychologische und ästhetische Kenntnisse integrierte und deshalb nicht nur die Theologie berührte, sondern auch in die Felder der Psychologie, Pädagogik und des Theaters hineinreichte.
Das Faktum, dass in diesen Anfängen an unterschiedlichen Orten zugleich Ähnliches in Bewegung gekommen war, hatte bei den AkteurInnen Interesse und Neugier geweckt sich zu vernetzen und auszutauschen. Diese Vernetzungs- und Austauschprozesse geschahen häufig über persönliche Kontakte, relativ rasch aber auch über gegenseitige Einladungen zu Veranstaltungen an Akademien und in Tagungshäusern. Im Jahr 1994 kam es in Deutschland zur Gründung der „Gesellschaft für Bibliodrama“1, eine strukturelle Organisationsform und ein Versuch, die Bewegung zu institutionalisieren. Mittlerweile hat sich Bibliodrama aber auch interkonfessionell auf europäischer Ebene als vernetzte Bewegung etabliert, deren VertreterInnen regelmäßig mit anderen Religionen, Szenen und Kulturen in experimentelle Inszenierungen treten und auch Kontakte in andere Länder pflegen. 2004 kam es zur Gründung des „Europäischen Bibliodrama-Netzwerkes“ (EBN)2.
Die Bibliodramabewegung integriert in sich eine überaus große Bandbreite an unterschiedlichen Ansätzen und Richtungen. Bibliodrama wird an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Kontexten praktiziert und verfolgt je nach methodischer Ausrichtung variabel eine eher exegetische, psychodramatische oder ästhetische Variante. In diese methodenplurale Vielfalt hatte sich bei einem Kongress in Deutschland 1998 auch die vom US-Amerikaner Peter Pitzele entwickelte Variante des „Bibliodrama als Midrasch“ eingereiht. Innerhalb der Bibliodramaszene war man in der Folge von dieser „kleinen Form des Bibliodramas“, die sich durch eine stärkere LeiterInnenzentriertheit und eine klarere Struktur auszeichnete, streckenweise überaus fasziniert. An anderen Orten wurden auch Kritik und Skepsis laut, vor allem, weil einige durch diesen Ansatz die Gefahr einer zu starken Leitungsdominanz witterten, bzw. weil in dieser Form die imaginierten Rollenphantasien nicht – wie beim Bibliodrama üblich – körperlich auf der Bühne ausgetragen wurden, sondern nur verbal zum Ausdruck kamen. Dennoch verfolgte eine Gruppe von deutschen BibliodramatikerInnen diese spezifische Form weiter. Ausgehend von Peter Pitzeles Ansatz entwickelte sich in der Folge der „Bibliolog“ und mit diesem neuen Begriff auch eine neue, sich vom Bibliodrama in einigen wesentlichen Punkten unterscheidende Bewegung, die sich 2006 auch als europäisches Netzwerk formierte.3
Was aber haben nun Bibliodrama und Bibliolog mit Kirche, Pastoral und Theologie zu tun und inwiefern stellen diese sehr spezifischen Bewegungen ein interessantes Handlungsfeld pastoraltheologischer Forschung dar? Bleiben diese sehr faszinierenden, aber auch herausfordernden Ansätze pastoral und wissenschaftlich-theologisch gesehen ein kirchlicher Sonderzustand und Ausnahmefall in der Nische, oder lassen sich gerade an diesen Orten wesentliche Merkmale erkennen, die darauf hinweisen, welchen Herausforderungen die Kirche angesichts der allgegenwärtigen Brüchigkeit im Verhältnis von Kultur und Religion gegenübersteht?
Die folgenden Ausführungen gehen davon aus, dass es sich bei bibliodramatischen und bibliologischen Prozessen um spezifische Entdeckungspraktiken handelt, an denen sich für pastorale Handlungsfelder relevante Hinweise finden lassen, wie sich die Kirche gegenwärtig ihrem Wesen nach verwirklichen kann. In bibliodramatischen und bibliologischen Prozessen kommt es in einer sehr spezifischen Art und Weise zu einer inszenierten Form der Konfrontation zwischen Existenz und Tradition. Eine Gruppe von Menschen folgt der szenischen Struktur eines biblischen Textes, die Teilnehmenden treten in Rollenimaginationen ein und inszenieren ein Spiel in Interaktion, bei dem sich Lebensgeschichte und Text wechselseitig auslegen. Das Erleben wird gemeinschaftlich reflektiert und im wechselseitigen Austausch hermeneutisch genutzt. Die Anwesenden erleben durch diese spezifische Anbindung an die christlich-jüdische Tradition eine Form der Realisierung des Evangeliums, der explizit Bedeutung für ihr Leben und ihren Glauben zukommt. Für die Pastoraltheologie ist interessant, warum solche Erlebnisse und Erfahrungen genau dort geschehen und welche Kriteriologie eine solche Realisierung des Evangeliums begünstigt.
Das zu untersuchende Feld der Bibliodrama- und Bibliologbewegung ist äußerst komplex. Um einigermaßen Zugang zu den spezifischen Dynamiken, Beziehungskonstellationen und Prozessabläufen zu erhalten, wurde eine empirische Studie erstellt, in der ProtagonistInnen der Szene befragt wurden. Bibliodrama und Bibliolog sind zwar methodisch planbare, in ihren Abläufen jedoch unkontrollierbare, ereignisreiche Phänomene. Die qualitative Untersuchung intendiert einerseits diesen Phänomenen genauer auf die Spur zu kommen, andererseits in ihnen relevante Hinweise für die gegenwärtige Kirchenbildungsproblematik herauszuarbeiten.
Um in diesen Untersuchungsgegenstand eintauchen zu können, ist zum einen ein bestimmtes Wissen über die psychodynamischen Prozessabläufe und die spezifischen methodischen Implikationen, die mit bibliodramatischen und bibliologischen Abläufen einhergehen, erforderlich. Zum anderen benötigen LeserInnen eine bestimmte Kenntnis über die Entstehungsgeschichte und den Verlauf dieser Bewegungen. Aus diesem Grunde werden der empirischen Studie Ausführungen vorangestellt, die in die Szene einführen, ihre spezifischen Merkmale aufzeigen und erzählerisch unmittelbar wahrnehmbar vermitteln, was einen Bibliodramaprozess eigentlich auszeichnet.
Sowohl im Bibliodrama als auch im Bibliolog stellt der Prozessverlauf ein ganz wesentliches Merkmal dar. Dieser muss von der Leitung umsichtig begleitet werden, beteiligt alle Anwesenden, ermöglicht den Subjekten direkte Erfahrungserlebnisse und führt zu weiterführenden Erkenntnissen. In Anlehnung daran folgt auch die vorliegende Arbeit einem Prozess, in den die Leserin/der Leser hineingenommen wird. Die Arbeit beginnt demnach mit dem ersten Interview, das als Einstieg in das zu untersuchende Feld vorgenommen wurde. An diesem ersten Gespräch mit einem Protagonisten der Bibliodramaszene wird exemplarisch deutlich, welche Themen das Feld hinsichtlich der gegenwärtigen Kirchenbildungsproblematik generiert. Das Interview vermittelt anhand einer konkreten Biografie erste Eindrücke darüber, welche Spuren eine gut dreißigjährige Bibliodramapraxis lebensgeschichtlich wie theologisch hinterlässt und inwiefern diese Spuren relevante Themenbereiche der Kirchenkonstitutionsproblematik sichtbar werden lassen.
In einem zweiten Schritt widmet sich die Arbeit der Vielschichtigkeit konkreter Bibliodramaprozesse, die intensiver in die Dynamiken bibliodramatischer Praxis einführen sollen. Um auch jenen LeserInnen einen Zugang zu verschaffen, die bislang weder mit Bibliodrama noch mit Bibliolog in irgendeiner Form in Berührung gekommen sind, skizzieren Protokollnotizen, verschriftlichte Erlebnisberichte, Tagebucheintragungen u.Ä. in erzählerischer Form, was im Bibliodrama erlebt wird und in welchen Bildern und Figuren sich diese Erlebnisse präsentieren. Diesen weniger wissenschaftlich als ästhetisch vermittelten Erzählvarianten der ersten beiden Kapitel folgt in einem dritten Kapitel ein geschichtlicher Abriss, der den Entwicklungsverlauf der Szene im Spannungsfeld von Theologie und Kirche thematisiert.
Die qualitative Studie selbst, die im darauffolgenden vierten Kapitel dargestellt wird, präsentiert eine Grounded Theory, die im Forschungsverlauf Parallelstrukturen zu bibliodramatischen Prozessverläufen herstellt. Ihre zentralen Ergebnisse entstanden im kreativen Zueinander strenger Forschungsdisziplin und -struktur, wie sie das Vorgehen einer Grounded Theory Methodology vorsieht, und dem offenen freien Feld prozessualer Entwicklungen, wie sie auch das Bibliodrama kennt. Die daraus gewonnenen zentralen Ergebnisse und Erkenntnisse werden aus der Distanz heraus in einem letzten Schritt aufgegriffen, der zu zeigen versucht, was Kirche und...