1 Einleitung: Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland
Schon 1968 wurde weltweit ein „Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit“ (Steffani 1968: 4) konstatiert, der bis zur Gegenwart anhält. Es gehört zu den faszinierendsten Merkmalen der meisten demokratischen Regierungssysteme, dass sich in ihnen die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit durchgesetzt hat – entweder in Form speziell eingerichteter Verfassungsgerichtshöfe oder aber durch das jedem Richter prinzipiell zugesprochene Mandat, Akte der Legislative und Exekutive auf ihre Recht- und Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Die Akzeptanz dieser Idee stellt zum einen eine wesentliche historische Voraussetzung für die Durchsetzung einer machtvollen Verfassungsgerichtsbarkeit in modernen Demokratien dar. Die normative Kraft dieser Idee erschwert zum anderen aber auch in der Gegenwart politisch motivierte Versuche, das richterliche Prüfungsrecht eines Gerichts wieder einzuschränken, nachdem es ein solches Mandat erst einmal erhalten und ausgeübt hat. Derartige Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz sind für politische Akteure – zumindest für westliche Demokratien lässt sich dies konstatieren – offensichtlich mit zu hohen Kosten und Risiken verbunden, da die das Gericht in seiner Tätigkeit legitimierende Idee des richterlichen Prüfungsrechts nicht mit guten und normativ überzeugenden Argumenten wieder außer Kraft gesetzt werden kann.
Für die weltweite Expansion der Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit wird häufig eine weitere klassische Begründung angeführt: Der Gerichtsbarkeit (Judikative) wird gemeinhin nachgesagt, sie sei die ungefährlichste Gewalt im Staat (Bickel 1962). Tatsächlich sind Gerichte nur selten verantwortlich für Kriege nach außen und Menschenrechtsverletzungen nach innen. Diesbezüglich sind es eher die beiden anderen staatlichen Gewalten, die Exekutive und die Legislative, von denen die meiste Gefahr ausgeht. Doch Gerichte sind nicht ohne Macht und Einfluss, wenn es darum geht, über das „gesellschaftlich Allgemeine“ (Immanuel Kant) zu bestimmen. Das gilt vor allem für die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) veranlasst manche Beobachter gar dazu, von der „Karlsruher Republik“ zu sprechen. Man mag dies für übertrieben halten – es macht jedoch zumindest deutlich, dass das Gericht in Karlsruhe eine wichtige politische Rolle spielt. Wird dies anerkannt, rückt das Verfassungsgericht in das Zentrum der Fragestellungen der Politikwissenschaft (von Beyme 2001).
Auch in diesem Buch, das sich als eine Einführung in die Thematik versteht, ist der analytische Blick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland vor allem von einem politikwissenschaftlichen Interesse geleitet. Es sind aus dieser Perspektive vor allem vier Aspekte von Relevanz:
Erstens ist es aus politikwissenschaftlicher Sicht interessant zu erfahren, wann, warum und wie sich die Idee des richterlichen Prüfungsrechts in Deutschland historisch entwickelt und schließlich vollumfänglich durchgesetzt hat. Die Demokratie als Konzept der Herrschaftslegitimation setzt die Existenz eines Verfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung“ jedenfalls keineswegs zwingend voraus. Begibt man sich auf die Suche nach historischen Gründen und Begründungen der Verfassungsgerichtsbarkeit, muss, im Gegensatz zu manchen anderen Darstellungen zum Thema, die ideengeschichtliche Durchsetzung des richterlichen Prüfungsrechts und der Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA untersucht werden, da die zentralen Begründungen, aber auch Problemstellungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit dort ihren Ursprung haben. Welche Argumente lassen sich für die Idee des Vorrangs der Verfassung überhaupt vorbringen und warum sollte die Gerichtsbarkeit, ob die allgemeine oder eine speziell hierfür eingerichtete, damit betraut werden, diesen Verfassungsvorrang gegenüber den politischen Gewalten der Exekutive und Legislative zu schützen? Das Konzept der Verfassungsgerichtsbarkeit ist in den Federalist Papers von Alexander Hamilton mustergültig begründet worden, was den politischen und juristischen Eliten im damaligen Deutschland nicht entgangen sein dürfte. Dennoch hat sich die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit hierzulande erst sehr zögerlich, dann aber umso konsequenter durchgesetzt und ihren institutionellen Ausdruck in der Etablierung des vielleicht mächtigsten Verfassungsgerichts der Welt gefunden. Auf welche Erfahrungen konnten die (West-)Deutschen bei der Gründung der zweiten deutschen Demokratie zurückblicken, als sie sich für die Einrichtung eines Bundesverfassungsgerichts entschieden? Betrachtet man die institutionellen Vorläufer der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, relativiert sich jedenfalls schnell die verbreitete These, mit dem BVerfG habe Deutschland nach Gründung der Bundesrepublik komplettes Neuland betreten. Wer schließlich erfahren und auch verstehen will, warum sich die Bundesrepublik Deutschland zu einem mustergültigen demokratischen Verfassungsstaat entwickelt hat, muss zumindest einige bahnbrechende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als Wegmarken der Verfassungsrechtsprechung kennen. Erst diese wichtigen Urteile lassen ersichtlich werden, wie das BVerfG zu jenem einflussreichen Akteur werden konnte, der die politische und soziokulturelle Entwicklung der Bundesrepublik maßgeblich mitbestimmt hat. Einen besonderen Stellenwert haben dabei drei Fälle, die auf sehr unterschiedliche Weise die Stellung und Autorität des BVerfG festigten und ausbauten: Die Statusfrage um das Gericht selbst, die Wiederbewaffnung Deutschlands und schließlich das Lüth-Urteil. Der Fall „Lüth“ ist von diesen drei „Fällen“ der einzige, an dessen Ende tatsächlich ein Urteil des BVerfG steht. Mit ihm hatte sich das BVerfG die Grundlage seiner gesamten späteren Rechtsprechung und damit auch für seine eigene mächtige Stellung im Regierungssystem geschaffen. Nach der dort entwickelten Doktrin lässt sich aus den Grundrechten eine objektive Wertordnung als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts ableiten und zugleich der Status des BVerfG als „Instanz des letzten Wortes“ (Kielmansegg 2005) hervorragend begründen.
Zweitens stellt sich vor dem Hintergrund des starken Einflusses, den die Verfassungsgerichtsbarkeit auf die deutsche Politik hat, die enger ansetzende und spezifischere Frage nach ihrer Organisation. Dabei interessiert vor allem die Organisation des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, dessen Einrichtung zuweilen als „Krönung des Rechtsstaats“ (Säcker 2003: 19) bezeichnet wird: Warum hat man sich in Deutschland hinsichtlich der Organisation der Verfassungsgerichtsbarkeit ursprünglich für das „österreichische Modell“ eines isolierten und konzentrierten, auf Verfassungsfragen spezialisierten Gerichtshofs entschieden – um dann doch erfahren zu müssen, wie sich das BVerfG im Zuge seiner Rechtsprechung in Richtung einer „Superrevisionsinstanz“ bewegte, wie sie das US-amerikanische Modell der Bundeshöchstgerichtsbarkeit auszeichnet? Inwiefern ist in dieser Organisationsentscheidung für ein „isoliertes“ Spezialgericht für Verfassungsfragen die entscheidende Weichenstellung für die spätere Machtentfaltung des BVerfG zu erblicken? Und warum ist das Gericht in Karlsruhe eine doppelte Organisation in zweifacher Hinsicht? Denn es ist nicht nur ein mit zwei gleich starken Senaten ausgestattetes Zwillingsgericht. Seine zweite Doppelnatur verdankt es der Tatsache, zugleich Gericht und Verfassungsorgan zu sein. Wie ist es zu erklären, dass es den anderen deutschen Verfassungsorganen, insbesondere dem Bundestag und der Bundesregierung, gleichberechtigt begegnet, aber diesen eben auch zuweilen machtvoll entgegentritt und sie in die verfassunsgrechtlichen Schranken weist? Schon diese wenigen Anmerkungen und Fragen sollten deutlich machen, dass Organisationsfragen auch Machtfragen sind. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts, man sollte sich nicht scheuen, diesen Begriff auch bei einem Gericht zu verwenden, zumal wenn es so viel Einfluss hat wie jenes in Karlsruhe (Kneip 2013), hing und hängt noch immer von seiner organisatorischen Ausrichtung und Grundausstattung ab. Diese wurden jedoch nicht alleine von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes bestimmt, sondern in einem Akt der „Selbstautorisierung“ (Höreth 2008a) vom Gericht selbst beansprucht und angenommen. Ganz offensichtlich wird der Zusammenhang von Organisations- und Machtfragen bei der demokratietheoretisch vielleicht wichtigsten Frage zur Organisation der Verfassungsgerichtsbarkeit: Wie werden die Richterinnen und Richter in Karlsruhe bestellt und welche Rolle spielen dabei die Institutionen und Akteure im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik?
Drittens ist es auch aus politikwissenschaftlicher Sicht wichtig zu ergründen, welche Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland zugedacht sind, ohne sich dabei alleine auf entsprechende juristische Lehrbücher zu verlassen. Zwar ist es zunächst durchaus angebracht, sich mit den im engeren Sinne juristischen Funktionen des Gerichts als Streitschlichter gründlich auseinanderzusetzen. Der Hinweis auf seine zentrale Funktion als „Hüter der Verfassung“ bleibt zu wenig anschaulich, wenn man sich nicht mit den konkreten Aufgaben des Gerichts, insbesondere mit den verschiedenen Formen der Normenkontrolle, im Einzelnen beschäftigt. Doch sind darüber hinaus funktionale Aspekte von Interesse, die verfassungspolitisch von besonderer Bedeutung für die Gesamtentwicklung des demokratischen Verfassungsstaats sind und die erst in jüngerer Zeit auch von der Politikwissenschaft entdeckt worden sind. Hierzu zählt zum einen die...