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Die beiden Grundmuster von Beratung oder: Drei Gründe, den Klienten als Experten zu sehen
Ich weiß zwar auch keine Lösung,
aber ich bewundere Ihr Problem!
Es gibt zahlreiche Konzepte für das Verständnis, die Organisation und die Durchführung von Beratungsgesprächen, allerdings lassen sie sich alle zurückführen auf zwei fundamentale Grundmuster (vgl. hierzu etwa Barthelmess, 2010).
Im ersten Beratungsansatz versteht sich der Berater als der Experte für die Lösung der Probleme seiner Klienten. Diese Form von Beratung besteht aus zwei Schritten. In einem ersten Schritt sammelt der Berater Informationen von seinen Klienten ein, indem er sie nach den Sachverhalten fragt, die für ihn für das Finden einer Lösung von Belang sind. Er erstellt eine Diagnose oder Anamnese. Aus diesen Daten leitet er – aufgrund seines Expertentums in der Sache – Lösungen ab, die er in einem zweiten Schritt seinen Klienten anbietet oder verschreibt. Diese Form von Beratung ist überall da erfolgreich, wo der Berater über ein Fachwissen zu einem bestimmten Themenbereich verfügt, das die Klienten nicht besitzen, etwa beim Rechtsberater oder beim Steuerberater. Die Klienten übertragen dem Berater die Verantwortung für die Lösung ihres Problems („Lohnsteuerjahresausgleich“) und dieser übernimmt diese Verantwortung auch, weil alle Beteiligten – auch die Klienten selbst – von deren nicht hinreichender Kompetenz in den anstehenden Sachverhalten ausgehen.
Diese Vorgehensweise wird in aller Regel auch von Medizinern angewandt, aber hier funktioniert sie sehr häufig nicht mehr so reibungslos, wie bei den beiden obigen Beispielen. Der Grund liegt wohl darin, dass viele Patienten sich in Bezug auf sich selbst und auf ihre Krankheiten durchaus auch als kompetent und eigenverantwortlich definieren, jedenfalls hält sich die Mehrzahl von ihnen nicht an die genaue Verschreibung des Arztes, sondern nimmt verordnete Medikamente (außerhalb der Zugriffsmöglichkeit des Arztes) nach eigener Lesart, häufig auch gar nicht. „Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums werden jährlich rund 4000 Tonnen verschriebene Arzneimittel im Wert von etwa 500 Millionen Euro weggeworfen. 31 % der zurückgegebenen Packungen waren unangebrochen, 34 % der zurückgegebenen Packungen waren nur zur Hälfte verbraucht“ (http://www.medizin-richtig-einnehmen.detherapietreue.php, S. 4f.). Hier kollidiert das Expertentum des Arztes mit der Eigenverantwortung der Patienten.
Noch schwieriger wird diese Haltung und dieser Anspruch des Beraters, wenn es um psychosoziale Themen geht. Aus der Sicht der Betroffenen kann er einfach nicht besser über einen Konflikt und seine möglichen Lösungen Bescheid wissen als die Beteiligten selbst, sie haben ihren Prozess schließlich in allen seinen Nuancen selbst erlebt. (Dass sie dabei die Fähigkeit, eine Außenperspektive einzunehmen, verloren haben, dürfte ihnen wohl nur sehr selten bewusst sein!) Deswegen erscheint es in Beratungen, in denen es um psychische, soziale oder Beziehungsthemen geht, sinnvoller, die Eigenverantwortung für die Thematik bei den Klienten zu lassen und sich auf den Aspekt der Moderation des Gespräches zu begrenzen. In diesem, zweiten Beratungsansatz versteht sich der Berater als Experte für die Organisation des Gespräches, die Moderation, die Fragen, die er stellt. Die Verantwortung für den Inhalt, der zu verhandeln ist, bleibt bei den Klienten, sie entscheiden, worüber gesprochen wird und worüber nicht. Da der Inhalt in der Zuständigkeit der Klienten bleibt, braucht der Berater auch keine Anamnese oder Diagnose, er muss über das Thema der Klienten überhaupt nichts wissen, und je unvoreingenommener er fragen kann (da ihn keine Vorinformationen beengen), desto weniger wird er sich bei seinen Fragen selbst begrenzen.
Die zentrale Aufgabe des Beraters besteht in diesem Konzept darin, durch die Art seiner Fragen bei den Klienten neue oder andere Sichtweisen, Ideen und Bewertungen zu erzeugen. Tom Andersen (1990, 34) hat diese Fragen als „angemessen ungewöhnliche“ bezeichnet. Während „angemessene Fragen“ bei den Klienten keine neue Information erzeugen, weil sie die Antworten kennen, und zu „ungewöhnliche Fragen“ von den Klienten zurückgewiesen oder nicht beantwortet werden (können), sind „angemessen ungewöhnliche Fragen“ solche, die die Klienten sich selbst kaum stellen, auf die sie aber eine Antwort formulieren können, wenn der Berater sie ihnen vorlegt. Auf diese Weise können relativ schnell zahlreiche neue Denkanstöße und Sichtweisen erzeugt werden, die dazu beitragen können, die Geschichte, die die Klienten als ihr Thema mitgebracht haben, positiv zu verändern. In Kapitel 4 habe ich viele Beispiele für angemessen ungewöhnliche Fragen zusammengestellt.
Für dieses Konzept von systemischer Beratung gibt es mindestens drei fundamentale Begründungen, die ich im Folgenden vorstellen werde. (Eine weitere Möglichkeit, die ich hier nur erwähnen möchte, könnte die sein, dass die Klienten gar keine Lösung wollen, weil diese das Ende ihres Themas wäre: „Geh mir weg mit deiner Lösung, sie wär der Tod für mein Problem“, lautet etwa der Refrain eines Liedes von Annett Louisan. Wenn ein solches Thema nämlich identitätsstiftend oder systemstabilisierend ist, dann gibt es gute und plausible Gründe, Lösungsansätzen sorgfältig auszuweichen. Eine Vorgehensweise des Beraters wäre in einer solchen paradoxen Situation die, genau dies – metakommunikativ – anzusprechen.)
2.1 Die Sach- und die Beziehungsebene
Seit Paul Watzlawick und seine Kollegen im Jahre 1967 ihre „Menschliche Kommunikation“ veröffentlichten, wissen wir, dass jede Kommunikation einen Sach- und einen Beziehungsaspekt enthält, die so einander zugeordnet sind, dass der Beziehungsaspekt immer der wichtigere ist. Die Aussagen auf der Beziehungsebene entscheiden darüber, wie eine Kommunikation sich entwickeln wird. Welche Bedeutung wir den Aussagen des anderen (zum Beispiel des Nachrichtensprechers im Radio) geben, entscheiden wir auf der Beziehungsebene, etwa dadurch, dass wir uns entscheiden, dem anderen zu vertrauen, dass er „die Wahrheit“ sagt oder eben nicht, um ihm dann entsprechend zu misstrauen und seine Aussagen zu bezweifeln. Deshalb entwickelt man im Rahmen einer Beraterausbildung (wenn sie gut ist) auch die Fähigkeit wahrzunehmen, was sich in einem Gespräch auf der Beziehungsebene ereignet oder ereignen kann. Wenn der Berater seine Rolle als die des Experten für Lösungsvorschläge sieht, heißt das auf der Beziehungsebene, dass er glaubt, besser zu wissen, was die Klienten tun sollen, als diese selbst und damit wertet er sie ab. „Jede Botschaft von der Art ‚Ich weiß besser als du, was mit dir los ist’ schadet der Kommunikation und grenzt an Psychoterror“, schreibt Friedemann Schulz von Thun (1988, 78).
Dagegen wehren sich Klienten sehr erfolgreich dadurch, dass sie die Vor- oder gar Ratschläge des Beraters zurückweisen, selbst dann, wenn diese auf der Sachebene durchaus vernünftige Lösungen darstellen und auch dann, wenn sie selbst ganz ausdrücklich nach Ratschlägen fragen. „Ratschläge (werden) von Klienten erst einmal entwertet, interessanterweise auch von denen, die explizit einen Rat verlangen“ (Dorrmann, 1991, 112). Deshalb hält John Weakland es auch für den größten Fehler des Beraters, Vorschläge zu machen, weil er so Lösungen verhindert, die eventuell möglich gewesen wären, hätte er dem Klienten die Möglichkeit gelassen, selbst auf eine für ihn passende Idee zu kommen (Weakland, 1988, 29 f.).
2.2 Der Klient kennt die Lösung, er weiß es nur noch nicht
Wenn wir mit der Unterscheidung in explizites und in implizites Wissen arbeiten, wird deutlich, dass wir über zwei sehr unterschiedliche Wissensbestände verfügen, nämlich das Wissen, auf das wir jederzeit zurückgreifen können, weil wir wissen, was wir wissen (das explizite Wissen), und die Wissensbestände, die wir mit uns herumtragen, ohne von ihnen zu wissen (implizites Wissen).
Daraus ergibt sich noch ein zweiter triftiger Grund, sich als Berater aus der Arbeit an Lösungen herauszuhalten: „Niemand kann so gut wissen, wie die beste Lösung aussieht, wie die Klienten selbst!“ oder: „Die Lösung ist schon da, sie muss nur noch gefunden werden!“ oder: „Die Klienten bringen ihre Lösung mit, sie wissen es nur noch nicht!“ Formulierungen wie diese gehen davon aus, dass die Klienten ihre Lösungen sozusagen in ihrem impliziten Wissen verankert haben und dass sie nur noch nicht wissen, dass sie sie bereits wissen.
Beispiel
Eine Sonderschullehrerin kommt zu einem Beratungsgespräch. Ihr Thema: Einer ihrer Schüler wird in einer Grundschulklasse integrativ beschult, aber dieser Prozess gestaltet sich schwierig, schwieriger jedenfalls als sie erwartet hatte. Sie möchte das Gespräch dazu nutzen, darüber nachzudenken, ob sie den Jungen in der Grundschulklasse lassen soll oder ob es nicht sinnvoller und die bessere Lösung für das Kind ist, es wieder in seine Förderschulklasse zurückzuholen. Der Berater fragt, welche Wahrscheinlichkeit sie den beiden Möglichkeiten geben würde und sie antwortet: „Fifty-fifty“. Daraufhin sagt der Berater: „Nehmen wir an, du würdest einer der beiden Möglichkeiten eine Wahrscheinlichkeit von 51 % einräumen und der anderen nur 49 %, wie sähe deine Zuordnung aus?“
Nach einer Weile des Schweigens sagt die Lehrerin: „Stimmt, eigentlich will ich das Gespräch dazu nutzen, darüber nachzudenken, wie ich die Grundschullehrerin besser unterstützen und mich als Ressource für sie...