2 Theoretische Einordnung der Bibliotherapie
2.1Ziele und Wirkung
Die für diese Arbeit verfasste Definition der Bibliotherapie berücksichtigt unterschiedliche Anwendungsbereiche mit dem traditionsreichen Ziel der Heilung durch Bücher und Lesen.
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich John Minston Galt mit der Wirkung literarischer Texte auf psychisch Kranke. Er analysierte die unterschiedlichen Textarten und Patiententypen und fasste die Hauptfunktionen der Literatur zusammen. 1847 stellte er seine Ergebnisse vor dem Kongress der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie vor.[89] Der Gebrauch von Literatur für Kranke, speziell in Krankenhäusern, hatte in seinen Augen vorteilhafte Effekte. Sie ermöglicht: »1. Ablenkung von krankhaften Gedanken, 2. Zeitvertreib und Aufheiterung, 3. Information, 4. Demonstration des Anstaltsinteresses am Wohlergehen des Patienten, 5. Verbesserung der Therapiebereitschaft«[90]. Hiermit fasst Galt die Schwerpunkte der theoretischen Bibliotherapie zusammen, wie sie auch in anderen Werken der Forschungsliteratur zu finden sind. Die Erklärung Vollmers und Wibmers legt den Fokus auf die emotionalen Effekte, die sowohl in der Einzel- als auch in der Gruppentherapie angestrebt werden. Sie erkennen im Schreiben eine Möglichkeit zum Selbstausdruck und eine Stimulation neuer Gedanken und Gefühle, was wiederum Symptome und innere Belastung reduzieren kann. Außerdem soll auf diesem Wege das Selbstwertgefühl, das Gefühl für Selbstständigkeit und die Kreativität entwickelt werden.[91]
Michael Shiryon unterscheidet drei mögliche Wirkungen des Lesens: Den Effekt auf den Verstand und die Logik, die Wirkung auf die Fantasie und zuletzt den Einfluss auf die Gefühle und Erfahrungen. Diese wendet er im Rahmen seiner Literaturtherapie in Gruppentherapiesitzungen an und benutzt auf die individuellen und persönlichen Situationen der Teilnehmer abgestimmte Kurzgeschichten.[92]
Es wird angenommen, Lesen wirke auf die Fantasie ihres Lesers ein, und ermögliche Eskapismus, die Flucht aus der Realität in eine Scheinwelt und in die eigene Fantasie.[93] Damit verbunden ist ein gedankliches Eintauchen in eine Welt ohne Verbote, Regelungen und Kontrollinstanzen. Stilles Lesen beinhaltet die Abschottung von der Außenwelt und die Konzentration auf die Inhalte[94] und bringt den Leser somit in eine Situation, die die mentale Regeneration erleichtert und den Leser durch den Abstand vom Alltag beruhigt und erholt[95]. Nach Gerk können Bücher auf diesem Wege eine mentale Zuflucht für den Menschen darstellen.[96] Haringer benutzt den Begriff »Wunderwelten«[97] für den Zustand, in dem der Rezipient sich beim Lesen befindet.
Bücher können amüsieren und berühren,[98] bieten Unterhaltung, Aufheiterung und Zeitvertreib und rufen Beruhigung hervor, was unter anderem an der für das Lesen nötigen Situation der Ruhe liegt, an der gezielten Gedankenlenkung und dem damit verbundenen Entspannen.[99] Dieser Wirkung wegen wird das Lesen auch von vielen gesunden Menschen als Einschlafhilfe und als Mittel gegen innere Unruhe genutzt.[100] Außerdem kann Lesen den Rezipienten, nicht zuletzt von sich selbst, ablenken.[101]
Ein weiteres Ziel der Bibliotherapie ist zudem das Erreichen eines differenzierten Blickes auf das eigene Innenleben und die Gefühlswelt.[102] Nach Gerk können Bücher dem Leser so einen Spiegel vorhalten.[103] Indem das Empfinden reflektiert wird, können die eigene Weltanschauung und persönlichen Assoziationen in einem übergreifenden Rahmen behandelt werden.[104] Auch Kittler und Munzel sprechen dem Lesen diese Spiegelfunktion zu.[105] Empathisches Miterleben der Texte gilt nach Ludwig Muth als tiefere Aufgabe der Literatur. Und so bieten Bücher eine Möglichkeit für den Leser, in sich zu gehen und einen neuartigen Umgang mit sich selbst zu finden.[106] Als eine Form des autogenen Trainings kann das Lesen so eine Verbindung mit dem Unterbewusstsein des Menschen herstellen.[107]
Außerdem erkennen Kittler und Munzel im Lesen eine Depotfunktion, die dem emotionalen Einprägen von Bildern und dem Bewahren dieser entspricht, sowie eine Regressionsfunktion, die beinhaltet, in diese Erinnerungen fliehen zu können. Mit der begleitenden Funktion beschreiben sie, dass das Buch den Leser sowohl durch den Alltag als auch durch Ausnahmesituationen geleitet. Diese Funktionen sind durch eine Konzentration auf die tieferen Schichten der menschlichen Psyche durch das Lesen möglich. Das Unterbewusstsein soll durch die Symbolkraft der Dichtung und Literatur erreicht werden.[108]
In der Praxis setzt sich der Patient im Rahmen seiner Therapie mit literarischen Figuren auseinander, die mit vergleichbaren Konflikten konfrontiert werden, was dem Leser dabei hilft, seine Schwierigkeiten zu überwinden. Dieses Vorgehen geschieht nach dem sogenannten Iso-Prinzip.[109] Es beschreibt die Identifikation mit den Inhalten, die dem Patienten das Gefühl gibt, mit seinen Problemen nicht alleine zu sein.[110] Der Begriff der Identifikation lässt sich auf Sigmund Freuds Theorien der Psychoanalyse zurückführen und beschreibt im Fall der Medien, das Bedürfnis des Rezipienten, einer Person oder Figur aus den Medien zu entsprechen. Die Identifikation entspricht einer Modalität der Interaktion mit Medien.[111]
In der Literatur finden sich zahlreiche Stoffe, die exemplarisch für menschliche Probleme herangezogen werden können und zugleich als Vorbilder für die Problemlösung dienen.[112] Die Wirkung der Bibliotherapie lässt sich auf den Prozess der Selbsterkenntnis zurückführen, wenn beim Leser eine Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse auf die Wirklichkeit erreicht wird.[113] Liefern das Buch und seine Geschichten Vorbilder, kann dies als Modellfunktion oder Vorbildfunktion bezeichnet werden. Zudem können Bücher eine Alternativfunktion erfüllen, indem durch das Lesen Probehandlungen ausgeführt werden.[114] Auch eine Mobilisierungsfunktion, die die Patienten wieder aktiv werden lässt wird erfüllt,[115] indem das Lesen die Möglichkeit bietet, Lösungswege kennenzulernen und diese gedanklich durchzuspielen ohne sie realisieren zu müssen.[116] Sef arbeitet diese Besonderheiten der Identifikation beim Lesen heraus: Wer sich identifiziert, fühlt sich als Teil der Geschichte und kann somit Rollen erfüllen, womit er ausleben kann, was im realen Leben unerreichbar bleibt. Dieses stellvertretende Handeln kann eine Ersatzbefriedigung darstellen.[117]
Doch ist eine Identifikation mit den Geschichten nur unter der Voraussetzung möglich, dass sich der Leser auf den Inhalt einlässt. Eine Möglichkeit der beschriebenen Identifikation ist in Form der Projektion möglich, bei der sich der Leser in die Rolle des Protagonisten versetzt und seine Eigenschaften auf diesen projiziert. Eine weitere Möglichkeit ist die Identifikation im Sinne der Empathie, bei der sich der Leser in die Denkweise und Reaktionen der fremden fiktiven Figur einfühlt.[118] Der Aspekt der Identifikation wird im Kapitel 2.2 Intendierte Wirkung der Märchen exemplarisch herausgearbeitet.
Ein durch die Identifikation hervorgerufener Effekt ist die Katharsis, deren Beschreibung auf Aristoteles zurückgeht. Die Seelenreinigung durch das Mitfühlen der gelesenen Inhalte soll als angenehm und erleichternd empfunden werden,[119] denn »es ist zudem bekömmlich, zu erfahren, daß es anderen nicht anders und nicht besser geht als uns selber«[120], erklärt Kästner in Doktor Erich Kästners Lyrischer Hausapotheke. Durch Übertragung und Katharsis können nach Thomas auch mentale Spannungen beim Leser gelöst werden.[121] Neben den Einflüssen auf die Selbstwahrnehmung kann das Lesen die Sicht auf Instanzen wie Gott, die Regierung oder persönliche Bezugspersonen verändern und ein neues Weltbild erwirken.[122] Die Erkenntnisse können sowohl Desillusionierung und Frust über die Realität hervorrufen als auch Selbstbewusstsein schaffen und aktivierend wirken,[123] um eigene neue Ziele zu entwickeln und den Gefühlen der Unzufriedenheit und übertriebenen Selbstkritik entgegenzuwirken. Da Emotionen, nach Rogoll, an gewisse Verhaltensmuster geknüpft sind, kann durch das Lesen erlernt werden, wie die Verhaltensweisen verändert und damit die Gefühle verbessert werden können.[124]
Obwohl stilles Lesen beinhaltet, dass der Leser sich mental abschottet und auf die Inhalte konzentriert,[125] wirkt Literatur einer völligen sozialen Isolation entgegen. Sie aktiviert Kranke und schafft eine Grundlage für das fantasievolle Herausbilden von Wünschen und Gedanken, losgelöst von der realen Situation. Zudem rufen Krankheiten spezifische und neuartige Gefühle, Vorstellungen, Wünsche...