Vorwort
Das Gemurmel
Die Statue steht mitten in der Innenstadt von Augusta, Georgia, auf Augenhöhe, denn der alte Mann wollte nie über anderen stehen, er wollte bei den Leuten sein. Und wenn du ihm so gegenüberstehst, an einem heißen Augustnachmittag in dieser verlassenen Straße mit ihren billigen Läden und alten Theatern, sagst du dir: »Das haben sie dir auf der Journalistenschule nicht beigebracht« – durch das Gerippe eines kaputten, zerstörten Lebens zu irren, dieses einen Lebens und all der anderen, die damit verknüpft sind, durch ein Gewirr schonungsloser Anwälte, die sich an dem Gerippe gütlich tun, den Geschichten bankrotter Musiker zuzuhören, die ruhmreich um die Welt tourten, nur um am Ende mit leeren Taschen nach Hause zu kommen, und das Gerede sogenannter Musikexperten zu verstehen, die die persönliche Geschichte eines Mannes fleddern, nur damit ein paar Dollar in ihre Taschen wandern. Alle machen ihre Geschäfte in dieser Welt, wohingegen der, der die Show geliefert hat, toter ist als tot und sein Erbe überall verstreut liegt, nur nicht da, wo er es wollte.
James Brown, der Godfather of Soul, Amerikas größter Soul-Sänger, wollte, dass der Großteil seiner Hinterlassenschaft, vorsichtig geschätzt einhundert Millionen Dollar, in die Schulbildung armer Kinder in South Carolina und Georgia fließt. Zehn Jahre nach seinem Tod am 25. Dezember 2006 hat nicht ein Cent davon auch nur ein einziges armes Kind erreicht. Unsägliche Millionen wurden und werden von Anwälten und Politikern verschleudert, die von den verschiedenen Teilen seiner zerfallenen Familie aufeinandergehetzt wurden.
Es ist das traurige Ende eines so außergewöhnlichen wie tragischen Lebens, wobei man doch denken sollte, dass irgendjemand angesichts der zahllosen armen Kinder in South Carolina und Georgia die Integrität aufbringt, eine Lösung für diese Sache zu finden. Aber das ist viel verlangt dieser Tage, weil es nicht zuletzt bedeuten würde, dass wir eine Lösung finden für das Rätsel James Brown. Doch um James Brown zu verstehen, müssten wir uns selbst erst mal verstehen. Alles andere ist wie der Versuch, ein zweiköpfiges Baby mit Aspirin zu behandeln.
Es ist schon komisch. Hier in Augusta, seiner Wahlheimat, scheinen sie ihn zu mögen. Sie haben eine Arena und eine Straße nach ihm benannt und einen James-Brown-Tag gefeiert mit den üblichen Tribute-Konzerten. Die Wahrheit ist allerdings, dass trotz dieser komischen Statue eigentlich nichts von James Brown in der Stadt zu spüren ist, man bekommt keinerlei Gefühl für ihn. Er hat sich aufgelöst in eine der vielen tragischen schwarzen Geschichten, die gekauft und verkauft und wieder gekauft werden wie die Sklaven einst bei der »Haunted Pillar«, einer angeblich mit einem Fluch belegten Säule, nur zwei Straßen von seiner Statue entfernt. Browns Saga hat industrielles Potenzial, sie ist ein riesiges Kaufhaus voller billigem Zeug für Schreiberlinge aller Art, die nach dem Stoff für die obligatorischen fünf Minuten Gospel suchen, die es heute in so gut wie jeder Broadway-Show gibt. Eine miese Story, super Musik. Und alle sind Experten, mit einer Dokumentation hier, einem Buch und einem Kinofilm da, alles von Leuten produziert, die ihn »kannten« und »liebten« – als wäre das möglich. Tatsächlich ist es egal, ob sie ihn kannten oder nicht, liebten oder nicht, ob sie ihn für seinen Mut hassten oder hofften, jemand würde ihn an einen Pick-up binden und seine Leiche über die Auslinie schleifen. Denn das Kind liegt längst im Brunnen. Der Mann ist tot. Weg. Ausradiert. Ihm die Ehre zu erweisen kostet niemanden mehr was. Da geht es ihm wie John Coltrane, Charlie Parker, Louis Jordan oder sonst einem von den Dutzenden Musikern, deren Musik unsterblich ist – was die Gemeinden, aus denen sie stammen, keinen Deut weitergebracht hat. Im Grunde ist James Brown in Augusta vergessen. Die Stadt zerfällt wie die Erinnerung an ihn. Er ist Geschichte. Sicher unter der Erde.
Aber drüben in Barnwell County, direkt hinter der Staatsgrenze nach South Carolina, wo Brown geboren wurde und auch vor seinem Tod wieder lebte, dort gibt es keinerlei Unsicherheit darüber, wer James Brown ist. Da ist er kein bloßer Nebel, sondern quicklebendig.
In Barnwell, in der Allen Street, gab es einen alten Soul-Food-Laden namens Brooker’s, nicht weit von Browns Geburtshaus, und jedes Mal, wenn ich in der Stadt war, um nach alten James-Brown-Geschichten zu wühlen (dem, was noch davon übrig ist), bin ich zu Brooker’s, um Schwein mit Grütze und Kohl zu essen, oder was Miss Iola und ihre Schwester Miss Perry sonst noch anzubieten hatten. Ich hatte viel Spaß da, saß an meinem Tisch und sah die Leute hereinkommen, jung und alt, einige stumm wie Bettwanzen, andere gesprächig und freundlich, manche auch argwöhnisch, Leute aller Art: kleine Geschäftstreibende, Arbeiter aus dem Viertel, Bauern, ein Bestatter, Friseusen. Ich bin immer lachend dort wieder hinaus und hab mir gesagt: »Auch das bringen sie dir in der Journalistenschule nicht bei« – in der Heimatstadt von jemandem zu stehen und immer noch das Lachen und den Stolz herauszuhören. In Barnwell lieben sie James Brown und sehen das Kaputte nicht. Die widerlichen Anwälte, die an seinen Knochen herumzerren, sind den Leuten egal, genau wie Browns Kinder, die sich wegen der Millionen in den Haaren liegen, die er nicht ihnen, sondern den Armen hinterlassen hat. Die Leute haben selbst genug Übles erlebt, seit Generationen, traurige Geschichten kennen sie zur Genüge. Warum darüber reden? Lache, sei glücklich und preise den Herrn! James war ganz oben, bis zum Schluss. Da können die Weißen sagen, was sie wollen. Schreib’s dir in dein kleines Notizbuch, mein Junge: Es ist uns egal. Wir wissen, wer James Brown war. Er war einer von uns und schläft heute im Himmel. Er ist in guten Händen! Und jetzt komm, iss noch ein Stück Kuchen.
Sie lachen und grinsen und sorgen dafür, dass du dich gut fühlst. Aber hinter dem Lachen, dem Kuchen, dem Hallo und dem Nachschlag, hinter den riesigen Hähnchenportionen und dem ständigen Schmunzeln vernimmt man ein stummes Gemurmel. Wenn du am Tisch die Ohren spitzt, kannst du es fast hören, etwas Wogendes, Mahlendes, ein Rumoren und Knurren, und wenn du die Augen schließt und genau hinhörst, klingt es ganz und gar nicht angenehm. Ausgesprochen wird da nichts, nichts ist sichtbar, denn die Schwarzen in South Carolina sind Experten darin, den Weißen eine Maske zu präsentieren. Seit Generationen haben sie Übung darin. Das Lächeln verstellt ihr Gesicht wie ein Heizungsgitter. Kommt ein weißer Kunde zu Brooker’s rein, geben sie sich glücklich. Sie sagen: »Ja, Sir«, und: »Genau«, und lachen und scherzen und sagen: »So ist es!«, und: »Tatsächlich?«, und es ist ein einziges Hallo und Jaja, und du stehst völlig perplex da, weil du etwas anderes hörst. Du hörst das Gemurmel und weißt nicht, kommt es vom Tisch oder vom Boden unter deinen Füßen, oder ist es das Tempo, mit dem so viel Geschichte zwischen ihnen hindurchrauscht, zwischen dem Schwarzen und dem Weißen, genau in dem Augenblick, in dem der Weiße für seinen Blattkohl zahlt und dich sein Lächeln nicht loslässt, weil du das Grollen des nach wie vor wütenden Krieges hörst – des großen Krieges, den die aus dem Norden den Bürgerkrieg nennen und die Südstaatler den Aggressionskrieg des Nordens, sowie des jüngeren Krieges, des Propagandakrieges, mit dem der Schwarze im Weißen Haus einige Leute mit allem, was er tut, in Rage versetzt. Es geht immer um die Rasse. Alle wissen es, und es gibt keinen Raum zum Atmen. Und du sitzt da vor deinem Teller und kriegst kaum Luft, während du die beiden über die tiefe Kluft hinweg lachen und schwatzen siehst. Du staunst und denkst, du sitzt auf einer Rasierklinge, und du wartest darauf, dass der eine oder der andere eine Kanone zieht und seinem Gegenüber das Gesicht wegbläst. Du denkst, du wirst wahnsinnig, während das Gemurmel in deinen Ohren immer lauter wird und zu einem unsichtbaren Dröhnen absoluter Wut und Entrüstung anschwillt, nur erkennbar an dem Blick stummen Verstehens, der zwischen dir und dem Rest der Schwarzen im Raum hin- und herwechselt wie der Dollarschein, der jetzt von der Hand des Weißen in Miss Iolas alte Kasse wandert, die sich mit einem leisen Klicken wieder schließt.
Wenn du wartest, bis der Weiße geht, und nach der Kluft fragst, der Kluft zwischen den weißen und den schwarzen Leuten in South Carolina, sagen die Schwarzen: »Oh, das ist okay, So-und-so ist mein Freund. Ich kenne ihn seit vierzig Jahren. Wir verstehen uns alle hier.« Erst nachts, wenn sie nach Hause kommen und die Lichter erloschen sind, die Kirchentüren geschlossen, der Gesang vorbei und der Fernseher aus, wenn der Wein fließt und die Zungen sich lösen, ändert sich im Schutz von Haus und Familie der Ton, und dann ist das Gemurmel kein Gemurmel mehr, sondern das Tosen eines wütenden Sturmes voller Abscheu und über vierhundert Jahre angestauter Bitterkeit.
Es gibt keinen einzigen öffentlichen Hinweis auf James Brown in Barnwell, sagen die Schwarzen. Keinen Ort, um seiner Geburt zu gedenken, kein Haus, das sie nach ihm benannt haben, keine Schule, keine Bibliothek, keine Statue, kein gar nichts. Und selbst wenn sie etwas nach ihm benennen und ihn staatlicherseits feiern würden, änderte das nichts. Bei Tageslicht lächeln sie, doch bei Nacht verfluchen sie, was an ihn erinnert, und das so heftig, dass es ganz von selbst den Schwanz einzieht und wie eine Schlange im Gebüsch verschwindet. Es gibt in dieser Stadt, aus der der größte Soul-Sänger stammt, den dieses Land je hervorgebracht hat, nicht einmal eine Tafel mit seinem Namen. Warum sollten sie auch eine aufhängen? Sie hassen ihn. An der Staatsgrenze...